„Justitia war nie blind“

Mit einem weiten Bogen, gespannt über gut 600 Jahre Justizgeschichte, wurden die Referenten der Sektion „Ungleichheiten vor Gericht: Epochenübergreifende Perspektiven“ ihrem Titel wahrlich gerecht. Zunächst ging Prof. Joachim Eibach auf die Allegorie der Justitia ein, die allseits bekannte Darstellung der Gerechtigkeit als Schwert und Waage in den Händen haltende Frau, der die Augen verbunden sind. Damit solle ausgedrückt werden, dass die Gerechtigkeit ihre Urteile stets ohne Ansehen der Person fälle, wie es schon im Alten Testament gefordert war. Die Geschichte der Justiz sei stets eine Geschichte der Suche nach Gerechtigkeit und gleichzeitig eine Geschichte der Ungleichheit gewesen.

Drei Aspekte dieser Ungleichheit vor Gericht sollten in dieser Sektion besondere Beachtung finden: Die ständisch – soziale Ungleichheit, die der Geschlechter und die Ungleichheit gegenüber Fremden und Minderheiten. Prof. Peter Schuster eröffnete die Vortragsreihe auch gleich mit einer kurzweiligen Darstellung der Ungleichheit in spätmittelalterlichen Strafverfahren. Er erläuterte das Prinzip der Gnade, die eine wichtige Rolle in mittelalterlichen Gerichtsverfahren spielte. Die Gerichte waren dazu angehalten, streng zu richten, wobei im Zweifel allerdings Misericordia (Barmherzigkeit) das Urteil mildern sollte. Der Delinquent konnte das Gericht, in den meisten Fällen den Landesherren um Gnade bitten, wobei zur Unterstützung Leumundszeugen zugelassen waren. Je mehr und je einflussreicher, umso besser natürlich. So war es möglich, Festungshaft oder Verbannung in eine Geldstrafe unzuwandeln. Diese war für Wohlhabende oft ohne Einschränkungen ihres Lebenswandels zahlbar. Arme kostete solch eine Verurteilung oft das sprichwörtliche letzte Hemd. In Sprichwörtern, die wir zum Teil bis heute benutzen, schlug sich auch die Frustration der Menschen nieder, die diese soziale Ungleichheit wahrnahmen. „Den Armen hängt man am Halse, den Reichen an seinem Beutel auf“, war einer der bitteren Kommentare. Zumal das Instrument der Gnade oberflächlich betrachtet eine gewisse Ungleichheit verursachte. Wer nämlich als Ortsfremder vor einem Gericht stand und keine Verbindungen und Seilschaften hatte, konnte auch niemanden anbringen der für ihn um Gnade bat. Einige Gruppen waren von dieser Form gar ganz ausgenommen, wie etwa die Juden und Zigeuner.

Das Verhältnis von Juden und Christen vor Gericht war dann auch das Thema von Prof. Sabine Ullmann. Sie führte anschauliche Beispiele aus der Justizgeschichte der jüdischen Siedlung in Binswangen im 17. und 18. Jh. an. Keine andere Gruppe sei vor Gericht so aktiv gewesen wie die Juden. Wobei ihre Einbindung sehr komplex gewesen sei, denn neben den Dorfgerichten hatten sie eine eigene rabbinische Gerichtsbarkeit und durch ihren besonderen Status als „Schutzjuden“ des Kaisers konnten sie sich auch an das Reichgericht wenden. Besonders aber auf der unteren Ebene, der Dorfgerichtsbarkeit, lassen sich interessante Beobachtungen machen. Anhand verschiedener Fallbeispiele legte Ullmann dar, dass diese Gerichte sehr überlegt und mit großer Rücksicht auf die Lebensumstände der Menschen urteilten. Dabei spielte die unterschiedliche Religionszugehörigkeit wohl eher eine untergeordnete Rolle, viel entscheidender war die Verschiedenheit der Berufe der meist im Agrarsektor tätigen Christen und der zumeist jüdischen Händler. Dass sich die Gerichte um annähernd fair Urteile bemühten, wurde anschaulich gezeigt: Wenn bei einer Kneipenschlägerei nicht mehr festgestellt werden kann, wer zuerst zugeschlagen hat, zahlen beide Kontrahenten, in diesem Fall ein Jude und ein Christ, die über einen Handel in Streit geraten waren, eine Strafe. Allerdings hat der Glaubensunterschied im Alltagsleben Streitereien verschärft, wenn auch vielleicht nicht begründet. Hier hat Justitia wohl eher unter ihrem Tuch hervorgelinst und nicht direkt geguckt.


Anders war es in Bezug auf die „Ungleichen Paare“ wie Prof. Francisca Loetz ihren Vortrag über Sexuelle Gewalt vor Gericht in Zürich betitelt hatte. Sie hat sich Teile der gut 70 000 Folioblätter umfassenden Sammlung von Gerichtsakten im Staatsarchiv in Zürich vorgenommen und diese auf Strafverfahren mit dem Tatbestand sexuelle Gewalt in der Zeit 1530–1798 und 1844–1850 untersucht. 32 vollzogene oder versuchte Vergewaltigungen wurden zur Anzeige gebracht, bei verschiedenen Personenkonstellationen. Allerdings rechnet man mit einer hohen Dunkelziffer. Das Verhalten der Angeklagten vor Gericht reichte von hartnäckigem Leugnen auch unter Folter über Teilgeständnisse bis zum vollständigen Gestehen. Geldbußen und Körperstrafen waren die häufigsten gesprochenen Urteile, die allerdings in den seltensten Fällen dem Opfer direkt zugesprochen wurden, es sei denn, bei der Vergewaltigung war ein Kind gezeugt worden, dann musste sich der Vater um Unterhalt bemühen. Nur ein einziger Freispruch ist in den Akten vermerkt, was sich zunächst einmal nach einer guten Bilanz anhört. Aber, die klagende Frau war in der Beweispflicht, sie musste nachweisen, dass sie sich gewehrt und geschrieen habe, die Beweisführung machte keinen Unterschied, ob es sich bei der Befragung um einen Erwachsenen oder ein Kind handelte. Stets war der Leumund von Täter und Opfer entscheidend, ebenso die Frage ob das Opfer bereits geschlechtsreif war. Außerdem trug die Frau das Risiko des Ehrverlustes, wenn sie mit einem Sexualdelikt an die Öffentlichkeit ging. Letzteres galt übrigens auch für den Klagenden in einem Prozess in dem es um homosexuelle Vergewaltigung ging. Von Gleichheit kann also mit Nichten die Rede sein.

Die Reihe schloss Alexandra Ortmann (MA) mit ihrem Vortrag über „Akteure vor Strafgerichten im 2. Kaiserreich“. Hier zeigte sie anhand eines Diebstahldeliktes, welches erst durch eine öffentliche Rechtfertigung und Gegendarstellung des Beschuldigten endgültig zur Anzeige gebracht wurde, wie sehr „ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital die Regeln des Redens und Schweigens bestimmen“. Also mehr als ein Blinzeln Justitias. Der abschließende, sehr fundierte und mit viel Leidenschaft vorgetragene Kommentar von Frau Prof. Rebekka Habermas leitete in eine lebhafte Diskussion über, die der eher ungünstigen Raumsituation trotzte.

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