September
Überblick
(Detlef Henning, Lüneburg) Detlef Henning, Lüneburg:
Überblick
(Detlef Henning, Lüneburg)
Detlef Henning, Lüneburg: Moderation
Riho Altnurme, Tartu: Lutheraner in der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland
Ulrike Huhn, Bremen:
Die Wiedergeburt der Ethnologie aus dem Geist des Atheismus.
Zur Erforschung des »zeitgenössischen Sektierertums« im Rahmen von Chruščevs antireligiöser Kampagne Victor Dönninghaus, Lüneburg: Religiöser Dissens unter Russland- deutschen während der Brežnev-Ära
Frank Grüner, Bremen:
Zwischen Repression und Emigration: Jüdisches Leben und religiöse
Praxis in der Sowjetunion, 1945–1991
Sebastian Rimestad, Erfurt: Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Der Marxismus-Leninismus als offizielle Leitideologie des sowjetischen Herrschaftssystems in Osteuropa zwischen 1917 und 1991 verstand sich in einem wissenschaftsoptimistischen Sinne als logisch und empirisch letzte Wahrheit sowie als Überwinder spekulativer geglaubter Systeme wie der Religion. Politisch und gesellschaftlich wies er dieser eine rückwärtsgewandte, antiemanzipatorische und repressive Rolle zu.
Das Verhältnis der politisch Herrschenden in Russland, der Sowjetunion und ab 1945 den Staaten des „Ostblocks“ zu Kirchen, Konfessionen und Religionsgemeinschaften war ambivalent. Einerseits galten sie als Relikte einer überwundenen Epoche, als Störenfriede im Sozialismus und im äußersten Fall als zu liquidierende Gegner des siegreichen Kommunismus. Glaubende Menschen und Gemeinschaften sahen sich über Jahrzehnte einer staatlichen atheistischen Propaganda ausgesetzt, die der allmählichen Erosion der Religion dienen sollten. Zur Widerständigkeit dieser Menschen gegenüber dem politischen Systems trugen neben einer religionssoziologisch und kulturgeschichtlich begründeten Resilienz ihrer theologischen und narrativen Systeme auch ‒ wie im Falle der größeren Religionsgemeinschaften und Kirchen der Katholiken, Lutheraner, Juden oder Mennoniten ‒ internationale Verbindungen bei.
Andererseits können zwischen zentralistischer Bürokratie des Sowjetsystems und dezentral angelegten Strukturen verschiedener Religionsgemeinschaften neben konfrontativen auch Räume des Aushandelns von Kompromissen und gegenseitigen Lernens bis hin zu personellen Teilidentitäen ausgemacht werden, die religiöses Leben in der Sowjetunion differenzierter erscheinen lassen, als dies ein dichotomes Bild religiöser Unterdrückung auf der einen und religiös motivierten Widerstandes auf der anderen Seite lange Zeit vermittelte. Man spricht daher anstelle des Begriffs religiösen „Widerstandes“ inzwischen von einem religiösen „Eigen-Sinn“ (Alf Lüdke), der anstelle klarer Konfliktlinien auch gemeinsame Räume und kommunikative Schnittmengen zulässt.
An vier Beispielen sollen die Reichweite von Überzeugungssystemen, Handlungsräumen und Einflussmöglichkeiten religiöser konnektiver Subsysteme im sowjetischen Herrschaftsraum herausgearbeitet werden.
Riho Altnurme, Tartu:
Lutheraner in der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland
Die Lutherische Kirche in Estland (und auch in den anderen Baltischen Staaten) geriet nach der sowjetischen Besetzung ihres Landes 1944 in eine Position, in der sie nicht nur keinen Einfluss mehr auf die Gesellschaft hatte, sondern auch kaum noch in der Öffentlichkeit sichtbar wurde. In den folgenden Jahrzehnte veränderten sich jedoch die Möglichkeiten. Das Paper untersucht die Veränderungen in den Beziehungen zwischen lutherischer Kirche und Gesellschaft in der Sowjetrepublik Estland während der Jahre des Sowjetregimes und die Spielräume, die die Kirche hatte, um das Weltbild der Menschen zu prägen und christliche Vorstellungen einzubringen.
Ulrike Huhn, Bremen:
Die Wiedergeburt der Ethnologie aus dem Geist des Atheismus. Zur Erforschung des „zeitgenössischen Sektierertums“ im Rahmen von Chruščevs antireligiöser Kampagne
Im Sommer 1959 begannen Moskauer Wissenschaftler mit Feldforschungen zu einem aus vielen Gründen äußerst sensiblen Gegenstand – dem „religiösen Sektierertum“. Diese sollten im Kontext der antireligiösen Kampagne einerseits der wissenschaftlich fundierten Verbesserung der Propaganda dienen. Andererseits mussten die Ethnographen mit dem Problem umgehen, wie sie als Atheisten im staatlichen Auftrag verlässliche Informationen von ihren Interviewpartnern erhalten konnten, die als Angehörige von „Sekten“ potentiell als „staatsfeindlich“ galten und verfolgt wurden. So entwickelten die sowjetischen Forscher im Feld Formen der teilnehmenden Beobachtung, deren Resultate zwar als äußerst ergiebig bewertet, aber zugleich als unwürdig für die Ehre von Parteimitgliedern und Komsomolzen kritisiert wurden. Untersucht wird das Zusammenspiel der verschiedenen Institutionen von Staat, Partei und Wissenschaft in einem Umbruchsmoment der methodischen Selbstverständigung in der sowjetischen Ethnographie der Tauwetter-Phase.
Victor Dönninghaus, Lüneburg:
Religiöser Dissens unter Russlanddeutschen während der Breschnew-Ära
Die Politik der Sowjetunion unter Leonid Brešnev gegenüber religiösen Organisationen unterlag ab Anfang der 1960er Jahre wesentlichen Veränderungen. Die politische Führung verzichtete auf den Anspruch eines raschen Aufbaus einer kommunistischen Gesellschaft und der Anpassungsdruck auf die Mehrheit der religiösen Organisationen, besonders die Russische Orthodoxe Kirche, wurde abgeschwächt. Kirchen, die sich parteikonform verhielten, erhielten größere Entfaltungsmöglichkeiten.
Nicht alle religiösen Organisationen waren mit der zugewiesenen gesellschaftlichen Nische zufrieden. Der Sowjetführung gelang es bis zum Ende der UdSSR nicht, religiöse Dissidenten protestantischer Gruppen und die Mehrheit der religiösen Russlanddeutschen, die weiter für Religionsfreiheit einstanden, gesellschaftlich zu „neutralisieren“ und sie zu Loyalität zu zwingen. Bis Ende 1989 verzichteten auf dem Gebiet der Russischen Föderation etwa 900 Gemeinden, etwa die Hälfte aller protestantischen Gruppierungen, auf die staatliche Registrierung. Nach den Aufzeichnungen des Rates für Religionsangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR bestanden die „extremistischen religiösen Vereinigungen“ zu 90 Prozent aus „Personen deutscher Nationalität“.
Das Paper untersucht einerseits Praktiken, Wertesytem, Mentalität, Schlüsselstrategien ihres religiösen Dissenses, zum anderen sollen Zielsetzungen der Brešnevs’schen Konfessionspolitik herausgearbeitet werden.
Frank Grüner, Heidelberg
Zwischen Repression und Emigration: Jüdisches Leben und religiöse Praxis in der Sowjetunion, 1945-1991
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zeigten sich in der Sowjetunion unter Stalin jüdische Religion und traditionelle Lebensweise in Auflösung begriffen. Der Zweite Weltkrieg und das ungeheure Ausmaß von Tod, Leiden und Zerstörung während der deutschen Besatzung führten jedoch zu neuer religiöser Aktivität aller Konfessionen, darunter auch der jüdischen Religion, die nach 1945 in gewissem Umfang erneut einen Raum jüdischer Identität und Kommunikation entwickelte. Das sowjetische Regime unterdrückte die Wiederbelebung jüdischen Lebens und Bekenntnisses, sei es religiöser oder nationaler Art. Dabei wiesen die verschiedenen Repressionswellen gegenüber der jüdischen Minderheit unter Stalin, Chruščev und Brežnev zwar eine dezidiert antisemitische oder „antizionistische“ Stoßrichtung auf, richteten sich jedoch immer auch gegen das jüdisch-religiöse Bekenntniss.
Das Paper untersucht die verschiedenen Entwürfe und Phasen sowjetischer Herrschaftspraxis gegenüber den Juden und der jüdischen Religion zwischen 1945 und 1991 und hinterfragt den Stellenwert religiösen Bekenntnisses und religiöser Praxis für die sowjetischen Juden zwischen Repression durch und Emigration aus dem Sowjetstaat.
Abstracts (English version):
The selfunderstanding of marxism-leninism as the official ideology of the soviet regime in Russia and Eastern Europe between 1917 and 1991 was to be the logical, empirical and last truth in the sense of an optimistic understanding of science, at the same time overcoming speculative systems of thinking like religion.
The relationship between political power in Russia, the Soviet Union and after 1945 in the states of the Eastern bloc on the one side and churches, confessions and religious groups on the other side was quite ambivalent. On the one hand religious groups seemed to be the remnants of the past, troublemakers or opponents of communism which had to be liquidated; over decades believers and their communities were the object of state propaganda of atheism, which aimed at the destroying of any kind of religion. It was a mixture of specific theological and narrative systems as well as international contacts of f.e. Catholics, Lutherans, Jews or Mennonites which helped religious groups to stay in opposition.
On the other hand one can also find spaces of compromises and mutual learning up to partial identities between the different actors of religion and state, which makes religious live in Soviet Union much more interesting than a dichotomous imagination of only oppression on the one hand and opposition on the other hand may evoke.
The section proposes an analysis of range of ideological systems, spaces of behaviour and zones of influences of religious subsystems under soviet power by four examples.
Riho Altnurme, Tartu:
Lutherans in the Soviet Republic of Estonia
After soviet reoccupation of Estonia in 1944 the Lutheran Church in Estonia (but also in the other Baltic States) got in a position of lacking any influence and becoming more and more invisible in afterwar estonian society. But in the decades which followed situation slowly changed. The paper deals with changing relationship between Lutheran Church and Soviet Estonia’s society under conditions of soviet regime and with growing possibilities to take some influence on peoples world view and to push Christian ideas.
Ulrike Huhn, Bremen:
The Rebirth of Ethnology under the Sign of Atheism. About „Present Sectarianism“ Research in the Framework of Khrushchev’s Antireligoious Campaign
The paper is about Moscow’s scientists field research, beginning in 1959, on „religious sectarianism“. On the one hand this research had to strengthen antireligious propaganda by scientific means. On the other hand researchers met the problem how to get authentic information from members of „sects“ and potential state enemies. They resolved the problem by developing forms of accompanying observation. By scientific measures the results were rich, but were criticized by politicians. The paper analizes the interaction between state, communist party and science in the time of changing paradigmas in soviet ethnology.
Victor Dönninghaus, Lüneburg:
Russia’s Germans Religious Dissens under Brezhnev Period
At the beginning of the 1960s soviet state policy under Brezhnev changed. The regime gave up to reach the aim of communism in near future, and oppression of religious groups decreased. Some churches got greater possibilities to develop themselves.
Not all of the religious groups were satisfied with the new situation. Up to the end of Soviet Union the regime didn’t manage to neutralize those groups, which continued to ask for religious freedom. Up to 1989 about 900 church communities, about half of all protestant groups, dispensed with official state registration. According to the Council for Religious Affairs at the Council of Ministers 90 percent of those people were „persons of german nationality“.
The paper deals with practices, value systems and strategies of religious dissens as well as with confession policy by the Brezhnev regime.
Frank Grüner, Heidelberg
Between Repression and Emigration: Jewish Life and Religious Practices in Soviet Union, 1945-1991
Until the beginning of World War II jewish traditional life in the Soviet Union almost perished. But World War II, german occupation and destruction caused some kind of new religious activties by all confessions, also jewish, after the end of the war. The soviet regime tried to oppress those new religious activities, as well as national aspirations. Several waves of oppression under Stalin, Khrushchev and Brezhnev were not only antisemitic or „antizionist“, but also antireligious.
The paper deals with several periods and options of state religion policy concerning jews and jewish faith between 1945 and 1991 and asks about the status of religious conviction for the decision of many jews to leave the Soviet Union by emigration.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Philosophenturm
PHIL-F
Überblick
(Rüdiger Hohls, Berlin, Katja Naumann, Leipzig) Podiumsdiskussion • Silke Hensel, Münster • Rüdiger Hohls, Berlin • Christoph Kümmel, Bonn • Matthias Middell, Leipzig • Martin Schulze Wessel, München Moderation: Katja Naumann
Überblick
(Rüdiger Hohls, Berlin, Katja Naumann, Leipzig)
Podiumsdiskussion
• Silke Hensel, Münster
• Rüdiger Hohls, Berlin
• Christoph Kümmel, Bonn
• Matthias Middell, Leipzig
• Martin Schulze Wessel, München
Moderation: Katja Naumann
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
HWF-121
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
Podiumsdiskussion -Dieter Gosewinkel, Berlin -Barbara Lochbihler, Brüssel -Jochen
Überblick
Podiumsdiskussion
-Dieter Gosewinkel, Berlin
-Barbara Lochbihler, Brüssel
-Jochen Oltmer, Osnabrück
Moderation: Johannes Paulmann, Mainz
Abstract:
„Über Grenzen“, das Motto des Deutschen Historikertages 2010 in Berlin, hat eine drängende politische Aktualität gewonnen wie kaum ein anderes Thema, mit dem sich Historikerinnen und Historiker in den letzten Jahrzehnten befassten.
Historische Forschungen widmen sich Migrationsströmen und Fluchtbewegungen über lange Zeiträume und in großen geographischen Räumen. Sie vermitteln Erfahrungen über gelingende und fehlschlagende Integration in sehr verschiedenen kulturellen Kontexten. Sie zeigen die Bedeutung von Grenzziehungen für die Konstituierung staatlicher Herrschaft und von Entgrenzungen für die Integration großer politischer Räume. Die politische Relevanz dieses historischen Wissens liegt auf der Hand – doch wird sie erkannt und genutzt? Während die einen nicht selten zwischen Gleichgültigkeit und selektivem Interesse gegenüber historischer Erfahrung changieren, fürchten die anderen tagespolitische Vereinnahmung und die Beeinträchtigung ihres wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses. Derart unproduktive Grenzziehungen will dieses Panel überwinden. Eine Politik, ob sie nun Grenzen aufhebt oder zieht, begegnet tiefgehenden historischen Mustern und Erfahrungen, die zu verstehen und zu diskutieren für die Politik und die Geschichtswissenschaft bedeutsam sind.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal B
Universität Hamburg
Überblick
(Andreea Badea, Rom) Steven Vanden Broecke,
Überblick
(Andreea Badea, Rom)
Steven Vanden Broecke, Gent:
How (not) to be a Catholic Copernican after 1616: Evidence from the Low Countries
Andreea Badea, Rom:
Wahrheitsanspruch und Wissensautorität oder wer darf eine Geschichte der Kirche schreiben?
Marco Cavarzere, München:
Die plurale Wahrheit der frühneu- zeitlichen Rechtsverwaltung: Kasuistik und juristische Normen
Bruno Boute, Münster:
A Bureaucracy of Truth? Confessional Orthodoxy and Bureaucratic Truth in the 17th Century
Abstracts (scroll down for English version):
Die Sektion nimmt sich der Praktiken der Wissensbildung zwischen Konfrontation, Dissimulation und Anpassung im 17. Jahrhundert an und fragt nach den Formen der Wahrheitsgenerierung an Beispielen aus der Astronomie, Theologie, Jurisprudenz und Geschichtsschreibung. Wie konnten Überzeugungen und Erkenntnisse derart validiert werden, dass sie für wahr gehalten wurden und wie standen sie in Relation zu der vertretenen theologischen Wahrheit? Die Beiträge verfolgen die Herstellung von Glaubwürdigkeit innerhalb und in Abgrenzung von Religion im katholischen Kontext.
Steven Vanden Broecke, Gent:
Katholische Kopernikaner nach 1616? Die Niederlande als frühneuzeitliches Laboratorium
Auf das 17. Jahrhundert bezogen, behauptete Michel de Certeau, Wahrheit sei weniger das, was eine bestimmte Gruppe verteidige, als dasjenige, das sie benutzt, um sich selbst zu schützen. Im Falle der katholischen Haltung gegenüber dem Kopernikanismus findet diese These durchaus Bestätigung unter Historiker/innen.
Wie es scheint, war die antikopernikanische Polemik seit dem Dekret Pauls V. vom 5. März 1616 durchaus von den interkonfessionellen Debatten und von den Unterstützungsversuchen des Monopolisierungsanspruchs bezüglich der Bibelexegese durch Polemik motiviert worden. Doch belegen neue Forschungen zum Löwener Theologen Libertus Fromonduns (1587–1653), dass das katholische Verständnis von der Kopernikanischen Herausforderung komplexer war und dass De Certaus Forderung durchaus Interpretationsraum zulässt. Diesen wird der Vortrag mit einer Untersuchung des vielschichtigen Hintergrunds katholischer Stellungnahme zum Kopernikanismus in den Niederlanden neu abstecken.
Andreea Badea, Rom:
Wahrheitsanspruch und Wissensautorität oder wer darf eine Geschichte der Kirche schreiben?
Das Festhalten an der doppelten Wahrheit blieb auch im Jahrhundert der Kritik ein zentrales Charakteristikum römisch katholischer Geschichtsschreibung. Auf die historiographischen Selbstvergewisserungsarbeit von lutherischer Seite antwortete man aus Rom zwar unter Berücksichtigung neuer Methoden, doch stets der Ahistorizität verbunden. Eine vollkommene Identifizierung mit den papstnah geschaffenen Werken vermied man allerdings an der Kurie: Die Päpste vergaben keine offiziellen Geschichtsaufträge und enthielten sich so auch einer offiziellen Auslegung von Geschichte. Der Vortrag wird auf die Ambiguität zwischen dem römischen Anspruch auf universale Kontrolle und dem Verzicht auf historiographische Positionierung eingehen.
Marco Cavarzere, München:
Die plurale Wahrheit der frühneuzeitlichen Rechtsverwaltung: Kasuistik und juristische Normen
In der Frühen Neuzeit hatten Gesetzessammlungen eher den Charakter von Ausnahmensammlungen. Weder betrachteten Juristen „Normen“ als festgelegte Klassifikationen menschlichen Verhaltens, noch sahen sie das Recht als typisches Merkmal der Herrschaft. Im Gegenteil; Recht wurde als der Natur immanent wahrgenommen, weshalb auch die Beziehung zwischen Herrschaft und Recht eher als Einzelfallregulierung verstanden wurde. Dieses stark auf den Einzelfall fokussierte Denken war jedoch kein Spezifikum der Jurisprudenz, sondern weitläufig präsent im Bewusstsein der Zeitgenossen. Untersuchungen zur theologischen Kasuistik belegen solche Feststellungen auf eindrückliche Art und Weise. Besonders als sowohl die Staaten als auch die Kirchen ihr Monopol auf andere Formen politischer Beziehungen auszudehnen trachteten, wurde die Normierung des Einzelfalls immer dringender. Folgerichtig überschwemmte eine Flut an theologischen und juristischen practicae den Buchmarkt im Laufe der Frühen Neuzeit und brachte den Ruf nach Regulierung auf. Nur am Ende dieses so begonnenen Weges stand die sich im späten 18. Jahrhundert herausbildenden Vorstellung von der Ausnahme als Synonym des Anormalen. Der Vortrag will anhand von Quellen zeigen, wie Kasuistik ein wichtiges Element wurde, um die sowohl theologische als auch juristische Wahrheit zu verwalten.
Bruno Boute, Erlangen:
Eine Bürokratie der Wahrheit? Konfessionelle Orthodoxie und die bürokratische Wahrheit an der Universität Löwen im 17. Jahrhundert
Die plurale Welt des frühneuzeitlichen Katholizismus erschwerte es den Universitäten deutlich, ihren Anspruch auf Deutungshoheit in Fragen der Doktrin aufrecht zu erhalten.
Die Verteidigung dieses Anspruchs führte dazu, dass die Universität Löwen zu einer der am besten dokumentierten Institutionen im römischen Inquisitionsarchiv geworden ist.
Die Kardinäle des heiligen Offiziums und ihre Theologen erwogen wiederholt, die vom Heiligen Stuhl an die Akademiker gewährten Privilegien zurückzunehmen. Sie bedienten sich ähnlicher Strategien durchaus auch gegenüber Paris, dem anderen Unruheherd in theologischen Fragen.
Ein solches Vorgehen kann durchaus unterschiedlich gelesen werden, ob als Zwang bzw. Erpressung oder als Rechtsaushöhlung, es sind aber auch andere Lesarten möglich: Der Vortrag geht der Verwirkung von Wahrheit und Bürokratie nach, in den Kreisen der Bürokraten des Glaubens in Rom im gleichen Maße wie im gelehrten Mikrokosmos im Norden, das sich durch die Verwaltung seiner akademischen Privilegien stets reproduzieren konnte.
Abstracts (English version):
This Session wishes to explore different forms of Truth-making in the 17th Century amidst confessional confrontation, strategies of dissimulation, and tactics of adaptation. Feeding into examples drawn from the history of Astronomy, Theology, Law and Historiography itself, it focusses on the central problem of credibility: how could convictions and insights be verified, to the extent that they were considered „true“, i.e. real facts? And how did these different forms of knowledge relate to theological Truth? The contributions to this session seek to adress this problem both within and in confrontation with religious change in early modern Catholicism.
Steven Vanden Broecke, Gent:
How (not) to be a Catholic Copernican after 1616: Evidence from the Low Countries
In a classic essay on the relation between truth and social practices in the 17th century, Michel de Certeau claimed that in this period, “truth appears less as what the group defends and more as what it uses to defend itself” (De Certeau, The Writing of History, p. 127). This claim would certainly appear to hold true for 17th-century Catholic positions on Copernicanism. Beginning with the anti-Copernican Roman decree of 5 March 1616, such positions are usually held to have been determined by confessional polemics and the interests of maintaining a monopoly on Scriptural exegesis. However, recent research on Louvain theologians like Libertus Fromondus (1587–1653) suggests that their understanding of the Copernican challenge was far more complex, and that De Certeau’s claim –while not incorrect- requires careful interpretation and elaboration. This paper seeks to do this by presenting the case of Fromondus against a broader background of Catholic attitudes to Copernicanism in the Low Countries of this period“.
Andreea Badea, Rom:
The Claim to Truth and the Authority of Knowledge or Who is Allowed to Write a History of the Church?
Even in the time in which scholars questioned every written word, the Roman Catholic historiography still devoted itself to the double truth. In fact Roman historiographers answered the Protestant practices of self-assertion by adopting certain savant methods, while, however, still staying closely connected with an ahistorical view provided by their theological work. The Curia even refrained from identifying itself with the history books written by its own dignitaries. The Early Modern popes never authorized historical descriptions and abstained from making official statements on history. This paper aims to explain why an institution which seemed to govern every aspect of social, political and religious life never directed its own history.
Marco Cavarzere, München:
Plural Truth in Early Modern Jurisdiction: Casuistics and Juridical Norms
In early modern times, collections of laws usually took the shape of codes of exceptions. In fact, jurists did not intend “norms” as pre-determined classifications of the whole human behavior and did not consider law an attribute of sovereignty; on the contrary, law was seen as consubstantial to the natural reality. The connection between Herrschaft and law could thus be represented only by case-by-case norms.
Such “thinking by case” was not peculiar to jurisprudence, as theological “casuistry” clearly shows throughout the early modern period. At this time, the issue of mapping norms out of single cases became considerably urgent, since States and Churches sought then to impose their monopoly on other forms of political relationships. Consequently, a flood of theological and jurisprudential practicae invaded the book market, giving relief to the call for regulation. Only in the late eighteenth century, exception gradually became a synonym for abnormal.
This paper aims to understand the common elements between moral and political casuistries by analyzing some sources.
Bruno Boute, Erlangen:
A Bureaucracy of Truth? Confessional Orthodoxy and Bureaucratic Truth at the University of Louvain, 17th Century
In the immensely plural worlds of early modern Catholicism, universities faced considerable difficulties upholding their claims to a binding Magisterium or collective authority in doctrinal affairs. It is in similar circumstances that the University of Louvain ended op as one of the best documented institutions of Christianity in the Archives of the Inquisition in Rome. Interestingly, the Cardinals of the Holy Office and their theologians recurrently pondered revoking academic privileges granted by the Holy See in order to nudge stubborn Divines into compliance with papal decrees, a strategy that was also considered with respect to that other trouble spot, Paris. This might be considered just one another unsavory example of Might crushing Right, of strategies of coercion and blackmail that are difficult to reconcile with modern understandings of sound science management. Another approach is possible however. This paper will explore how such episodes can offer an excellent vantage point to explore the tangled nature of Truth and bureaucracy: among the Bureaucrats of the Faith in Rome as much as in learned microcosm in Flanders that lived by the bureaucratic practice of academic privilege.
Überblick
(Katharina Wojciech, Freiburg) Katharina Wojciech, Freiburg: Einführung Maria
Überblick
(Katharina Wojciech, Freiburg)
Katharina Wojciech, Freiburg:
Einführung
Maria Osmers, Würzburg:
Herakles für alle? Vergangenheit als politisches Argument in der griechischen Antike
Eva Hagen, Paris/Freiburg: Glaubensgemeinschaften: Ursprungserzählungen und ethnische Identität in Rom und Latium
Katharina Wojciech, Freiburg:
Von Theseus zu Chabrias: Protagonisten historischer Erzählung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.
Angela Ganter, Erlangen:
Mythos, Ritual und Rationalisierung: Romulus und Remus auf den Lupercalia, oder: Das augusteische Rom als Hirtenidyll
Uwe Walter, Bielefeld:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Im Jahr 343 v. Chr. musste Aischines in einem Prozess zu dem Vorwurf Stellung beziehen, drei Jahre zuvor als Gesandter bei Philipp II. den athenischen Anspruch auf die Stadt Amphipolis unzureichend begründet zu haben. Der Redner verteidigte sich mit dem Verweis auf sein Argument, dass schon die Frau des Akamas, Theseus’ Sohn und einer der zehn attischen Phylenheroen, das Territorium von Amphipolis als Mitgift in die Ehe eingebracht habe.
Argumentationsstrategien wie diese begegnen auf der politischen Bühne nicht nur in Athen. Gründungsmythen und berühmte Heroen waren in der Antike fester Bestandteil der Alltagswirklichkeit, stifteten Identität und legitimierten bestehende oder erwünschte Zustände. Aber glaubte man tatsächlich an die auf diese Weise heraufbeschworene Vergangenheit? In der Sektion werden antike Zugänge zur eigenen und zur fremden Geschichte untersucht. Dabei werden nicht nur die Intentionen diskutiert, die den Verweisen auf Historie zugrunde lagen, sondern auch deren Wirkung und Rezeption. Die folgenden vier Perspektiven auf historisches Argumentieren rücken erstmalig die Gemeinsamkeiten zwischen der römischen und der griechischen Erinnerungskultur ins Zentrum des Interesses. Die gleichzeitige Betrachtung unterschiedlicher Räume, Epochen und Kontexte ermöglicht es, den vermeintlichen Gegensatz von Glaube und Wissen für die Antike aufzulösen und die Darstellung der Vergangenheit in politischen Kommunikationssituationen insgesamt als „geglaubte Geschichte“ zu begreifen.
Maria Osmers, Würzburg:
Herakles für alle? Vergangenheit als politisches Argument in der griechischen Antike
Herakles war in klassischer Zeit omnipräsent. Er schmückte Bauwerke, Vasen und Münzen, wurde in Kulten verehrt und trat prominent in der Dichtung auf. Durch seine Verbindung mit Olympia und seinen Platz in gesamtgriechischen Erzählungen galt und gilt er als der panhellenische Heros schlechthin. Zugleich aber betonten einzelne Poleis ihre jeweils eigene Beziehung zu Herakles und verfolgten dabei verschiedene politische Ziele. Die Bezugnahme auf den Heros konnte die Zugehörigkeit zur griechischen Welt unterstreichen, innenpolitische Interessen legitimieren oder Ansprüche gegenüber anderen Gemeinwesen begründen. Ein berühmtes Beispiel ist seine Vereinnahmung durch Sparta: Herakles wurde zum dorischen Heros ausgestaltet. Jedoch dominierte selbst dieses Narrativ konkurrierende Erzählungen keineswegs. Auch kleinere Poleis – dies zeigen etwa Münzen einer kleinasiatischen Symmachie aus dem beginnenden 4. Jh. – wählten Herakles als Bezugspunkt, wenn es ihnen darum ging, große Politik zu betreiben. Doch wie passte das alles zusammen? Wie gelang es den Griechen, die eigenen Geschichten mit Erzählungen anderer Gemeinschaften und überregionalen Narrativen in Einklang zu bringen? Ausgehend von der Gestalt Herakles zeichnet der Beitrag den spezifischen Umgang der Griechen mit ihrer Vergangenheit nach und zeigt, wie auch Widersprüchliches und für uns Unvereinbares in einer „geglaubten Geschichte“ zusammengeflochten werden konnte.
Eva Hagen, Paris/Freiburg:
Glaubensgemeinschaften: Ursprungserzählungen und ethnische Identität in Rom und Latium
Für das antike Latium sind zahlreiche Ursprungs- und Gründungsmythen bekannt, sowohl für das gesamte Volk der Latiner als auch für die einzelnen latinischen Städte: In der seit der Späten Republik kanonischen Erzählung hatte das Volk seinen Ursprung in dem Zusammenschluss der Ureinwohner Latiums mit den trojanischen Flüchtlingen, besiegelt durch die Hochzeit des Aeneas mit der einheimischen Königstochter Lavinia. Vor und neben dieser „Vulgata“ wiesen andere Erzählungen dem eponymen Heros Latinus die zentrale Rolle als Stammvater der Latiner zu. Die Städte erscheinen in der römischen Annalistik als Gründungen Alba Longas, der von Aeneas’ Sohn Ascanius gegründeten Mutterstadt, während sie gleichzeitig bis in die Kaiserzeit hinein über individuelle Gründungsgeschichten mit einheimischen, trojanischen und griechischen Helden verfügten. Wie sind diese teils einander ablösenden, teils gleichzeitigen und sich einander ausschließenden Erzählungen zu bewerten? Wie ist mit der Diversität der Narrative umzugehen, wenn der Glaube an eine gemeinsame Abstammung allgemein als zentrales Element ethnischer Identität betrachtet wird? Bedarf es für ihre Wirksamkeit als politisches Argument und für die ethnische Identitätsstiftung einer normativen Version und, wenn ja, wird diese zwischen den einzelnen latinischen Städten ausgehandelt oder von dem römischen Hegemon im Latinerbund verordnet – oder besteht eine „Glaubensfreiheit“, solange es andere integrative Faktoren wie die gemeinsame Sprache und gemeinsame Kulte gibt? In dem Vortrag wird die Wirksamkeit altehrwürdiger wie neu konstruierter Ursprungsnarrativen diskutiert und so ein aktuelles Bild des latinischen Ethnos als „Glaubensgemeinschaft“ gezeichnet.
Katharina Wojciech, Freiburg:
Von Theseus zu Chabrias: Protagonisten historischer Erzählung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.
In der attischen Rhetorik waren Bezüge auf Geschichte Usus. In den einmal jährlich inszenierten Festen für die Gefallenen wurden dabei vor allem die gemeinsamen Erfolge der Bürgerschaft zelebriert, die gesamte Polisgemeinschaft erschien auf diese Weise als Protagonist der historischen Narration. In der Argumentation vor der Volksversammlung und in den Gerichten war es hingegen möglich, die Leistungen einzelner Athener stärker hervorzuheben. Konkrete Namen erleichterten die Erinnerbarkeit des Geschehenen, erhöhten die emotionale Teilhabe daran, konnten zur Nachahmung anspornen oder als vermeintliches Faktenwissen zur Glaubwürdigkeit des Gesagten beitragen. In diesem innenpolitischen Kontext waren es allerdings seltener mythische Heroen, sondern vielmehr Gesetzgeber wie Solon, Staatsmänner wie Aristeides oder Themistokles sowie berühmte Strategen wie Konon, Iphikrates, Timotheos und Chabrias, die innerhalb der Darstellung der athenischen Geschichte funktionalisiert wurden. Doch was wussten die Athener von ihren alten und neuen „Helden“ wirklich und wie ist die steigende Bedeutung der eigenen Zeitgenossen als paradeigmata zu erklären? Im Vortrag soll die Konkurrenzsituation zwischen der alt geglaubten Vergangenheit und der „history in progress“ unter Berücksichtigung möglicher Rationalisierungstendenzen diskutiert werden.
Angela Ganter, Erlangen:
Mythos, Ritual und Rationalisierung: Romulus und Remus auf den Lupercalia, oder: Das augusteische Rom als Hirtenidyll
Alljährlich im Februar wurde die stadtrömische Gesellschaft Zeuge eines seltsamen, archaisch anmutenden Rituals: Nachdem man Faunus, dem wilden Gott der Hirten, geopfert hatte, rannten seine Priester nackt durch das Zentrum Roms und schlugen zuschauende Frauen mit Fellriemen der Opfertiere. Taten sie dies, um die Fruchtbarkeit der Frauen zu erhöhen? Rannten die Priester um den Palatin als Ursprungshügel der Stadt, um diese in kreisförmigem Umlauf zu reinigen? Rationalisierende Diskurse um die Bedeutung des Festes entbrannten bereits in spätrepublikanischer Zeit. Anhand von Ursprungserzählungen versuchte man zu deuten, was nicht mehr in die Lebenswelt der antiken Millionenstadt zu passen schien. Oder gerade doch? Ablehnende Haltungen verschiedener Intellektueller wie Cicero, die den lasziven Charakter des Festes verurteilten, kontrastieren mit der Selbststilisierung des augusteischen Rom als Hirtenidyll. Über Romulus und Remus wurde das Fest in der Gründungszeit der Stadt verankert. Erinnerungsorte wie der Palatin, das Forum Romanum und das Lupercal als der Höhle, in der die Zwillinge gesäugt worden sein sollen, verflochten als Schauplätze des Festes scheinbar jahrhundertealte Traditionen mit gegenwärtigem Ritual. Der Beitrag hinterfragt, inwiefern man hier rituellen Vollzug und rationalisierende Geschichtsbetrachtung voneinander trennen kann und inwiefern all dies in „geglaubter Geschichte“ zusammenfließt.
Abstracts (English Version):
In 343 BC, Aeschines had to explain himself before the court against accusations that he had not adequately established the Athenian claims to the city of Amphipolis while he was part of a delegation to Philip II three years earlier. The orator defended himself by referring to his argument that Acamas, the son of Theseus and eponymous hero of one of the Attic tribes, had already acquired the territory of Amphipolis for the Athenians as part of the dowry of his wife.
Similar arguments can be found in numerous political debates in antiquity. Foundation myths and famous heroes were integral parts of everyday life, created identity and authorized existing or desired conditions. But did the people actually believe in the stories that were told about the past in these situations? In this session, we examine the approaches of ancient societies to their own history and the history of others. Besides the intentions, we discuss the effects and reception of various references to the past. Four different perspectives on historical argumentation shift the focus of research to the similarities between Roman and Greek cultures of remembrance for the first time. By simultaneously analyzing diverging spaces, eras, and contexts, we will thereby resolve the apparent contradiction between faith and knowledge for the Classical Antiquity: All representations of the past in political communication should be understood as “believed history”.
Maria Osmers, Würzburg:
“Everyone’s Herakles? The Past as a Political Argument in Ancient Greece”
In the classical period, Herakles was omnipresent. His picture decorated buildings, vases and coins, he was worshiped in cults, and he frequently appeared in ancient poetry. Due to his connection to Olympia and his prominence in numerous tales from all over the Greek world, Herakles represented and still represents the Panhellenic hero par excellence. At the same time, individual poleis emphasized their own relation to Herakles and, thereby, pursued their own interests and objectives. References to Herakles could prove the city’s belonging to the Greek world, could authorize internal political interests, and could justify claims against others. A famous example of such an appropriation can be found in Sparta: Herakles was designed as a Dorian hero. But even this narrative did not suppress conflicting accounts from elsewhere. Coins of an alliance of cities in Asia Minor from the beginning of the fourth century demonstrate that smaller poleis also preferably chose Herakles as a reference point when it came to high politics. But how does this all fit together? How did the Greeks manage to harmonize their own stories with tales of other communities and with transregional or Panhellenic narratives? Based on the figure of Herakles, my paper traces the specific way of handling the past in ancient Greece and reveals how conflicting and seemingly incompatible aspects could be brought together in one and the same “believed history”.
Eva Hagen, Paris/Freiburg:
Communities of Faith: Narratives of Origin and Ethnic Identity in Rome and Latium
Numerous origin and founding narratives are known for ancient Latium, both for the Latins as a whole and for the individual Latin cities. In the canonical narrative since the Late Republic, the people originated in the integration of the native inhabitants of Latium and the Trojan refugees, a union sealed by the marriage of Aeneas with the local king’s daughter, Lavinia. Prior to and concurrent with this “vulgate”, other narratives give the central role of progenitor of the Latins to the eponymous hero Latinus. The cities appear in the Roman annalistic tradition as being founded by Alba Longa, the metropolis built by Aeneas’ son Ascanius, while at the same time possessing their own foundation tales up to the Imperial era, with indigenous, Trojan, and Greek heroes. How are these narratives – some succeeding others, some running concurrently and contradicting each other – to be evaluated? How should the diversity of narratives be tackled when the belief in a common ancestry is generally viewed as a central element of ethnic identity? For its effectiveness as a political argument and for the formation of ethnic identity, is a normative version required? If so, is this negotiated between the individual Latin cities or decreed by the Roman hegemon within the Latin League? Or, as long as other integrative elements exist, such as a common language and common cults, are we dealing with “freedom of belief”? The paper discusses the effectiveness of time-honoured and newly constructed origin narratives, giving an up-to-date picture of the Latin ethnos as a “community of faith”.
Katharina Wojciech, Freiburg:
From Theseus to Chabrias: Protagonists of Historic Narrative in the Attic Oratory of the 4th Century B.C.
In Attic oratory historic references were common. During the annual public funeral ceremonies for the fallen warriors the collective success of all Athenians was particularly celebrated. Like that, the polis-community as a whole appeared as the protagonist of the historic narration. However, when speaking to the Assembly or a court of law, it was possible to emphasize the achievements of single Athenians. Personal names made it easier to remember events, to increase the emotional participation, to spur imitation or, as alleged factual knowledge, to contribute to the credibility of what had been said. In this domestic context, however, mythical heroes were hardly named. Instead, legislators like Solon, statesmen like Aristides or Themistocles as well as famous strategists like Conon, Iphicrates, Timotheus, and Chabrias were instrumentalized. But what did the Athenians really know about their old and new “heroes”? And how is the increasing significance of their own contemporaries as paradeigmata to be explained? Taking into account possible tendencies of rationalization, this contribution discusses the competition between the presumed old past and the “history in progress”.
Angela Ganter, Erlangen:
Myth, Ritual, and Rationalization: Romulus and Remus at the Lupercalia, or: The Idyll of Augustan Rome
Every year in February, Rome experienced a strangely archaic ritual. After having sacrificed to Faunus, the wild god of the shepherds, his priests were running naked along the streets of the Roman city centre, and they beat female spectators with laces of the victims’ skin. Did they do that to enhance their fertility? Did the priests run around the Palatine, said to be the nucleus of the settlement, in order to purify the town? Rationalizing accounts discussing the meaning of the festival already emerged in Republican Rome. By referring to the origins of their society, the Romans tried to explain phenomena that were incompatible with the environment of the metropole. Were they really? Intellectuals like Cicero condemned the lascivious character of the Lupercalia. However, positions like these collide with the self-representation of Augustan Rome as an idyll. With Romulus and Remus, the festival was anchored in the foundation era of the city. Memorials like the Palatine, the Forum Romanum, and the Lupercal – the cave where the twins were said to have been suckled – combined presumably centuries-old traditions with the places where the festival was celebrated. This contribution tries to decipher the interwoven structures of rituals and rationalization, or, to say it differently, how these aspects created a “believed history”.
Überblick
(Elke Seefried, Augsburg, Matthias Heymann,
Überblick
(Elke Seefried, Augsburg, Matthias Heymann, Aarhus)
Elke Seefried, Augsburg:
Einführung
Matthias Heymann, Aarhus:
Klimaprognostik: Wissenschaftliche Expertise und Glaubenskämpfe in einer Voraussagekultur
Isabell Schrickel, Lüneburg:
Offene Horizonte? Surprise Science am IIASA
Christina Brandt, Bochum:
»Zeitschichten« und Erwartungshorizont:
Zum Wandel von Zukunftskonzepten in der Auseinandersetzung mit den Life Sciences
Fernando Esposito, Tübingen:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Die historische Forschung hat verschiedentlich gezeigt, dass Zukunft in den 1960er Jahren zu einer wichtigen wissenschaftlichen und politischen Kategorie avancierte, und dies gilt sowohl für die westlichen als auch sozialistischen Staaten. Auf der Basis neuer methodisch-theoretischer Zugänge wie der Kybernetik schienen konkrete Aussagen über die Entwicklung des Zu¬künftigen möglich zu werden. Ebenso wurde eine politische Planungsaffinität fassbar, die in einem starken Vertrauen in Zukunftsexpertise gründete. Wissenschaftler betonten die Rationalität als Basis jedes Modellierungs-, Prognose- und Planungsprozesses – eine Rationalität, die beanspruchte, nicht auf Fortschrittsglauben zu gründen, sondern auf einem quasi-objektiven Zugang zur Er¬for¬schung des Zukünftigen. Es deutet sich an, dass in den 1970er Jahren das wissenschaftliche und politische Vertrauen in die Prognose in einigen Feldern (etwa der Wirtschaftsprognostik) bröckelte und die Grenzen von Zukunftswissen stärker reflektiert wurden. Hingegen gewann in anderen Feldern (Klimaforschung oder Life Sciences) Zukunftswissen wachsende Bedeutung, sah sich aber einer wissenschaftlichen und öffentlichen Hinterfragung ausgesetzt. Das Panel beleuchtet das Verhältnis von Zukunftswissen und Zukunftsglauben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und fragt nach Generierung von Zukunftswissen, Interaktionen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit und politischer Verwendung von Zukunftsexpertise. Welche Überzeugungen, Glaubenssätze und Rationalitätsverständnisse prägten die Prognostik? Wie sollte Glaubwürdigkeit hergestellt werden, inwiefern gewann der Glaube an imaginierte Zukünfte quasi-religiöse Kraft und verband sich Zukunftsexpertise mit religiös oder ideologisch unterlegten Glaubenssätzen? Lässt sich ein Eigenweg bestimmter Phasen – etwa der 1970er Jahre – benennen, in der apokalyptische Szenarien dominierten, wohingegen andere Phasen mehr im Zeichen eines „rationalen“ Zukunftsentwurfs standen?
Matthias Heymann, Aarhus:
Klimaprognostik: Wissenschaftliche Expertise und Glaubenskämpfe in einer Voraussagekultur
Seit den frühen 1950er Jahren fand die Computersimulation Eingang in die Atmosphärenwissenschaften. Erfolge in der Wetter- und Klimasimulation vergrößerten die Attraktivität und Autorität dieses Forschungsansatzes. Während die Wettersimulation von Beginn an auf die Wettervorhersage gerichtet war, beschränkte sich die erste Generation von Klimamodellierern auf die Erforschung von atmosphärischen Prozessen und Klimaphänomenen durch sogenannte General Circulation Models (GCMs). Die Computersimulation bot „eine einzigartige Gelegenheit zur Untersuchung der großräumigen Meteorologie als experimentale Wissenschaft“, wie es der britische Meteorologe Eric Eady 1956 ausdrückte. Es bedurfte neuer Anstöße und einer neuen Generation von Modellierern, um den Zweck von Klimamodellen neu zu interpretieren und diese im Kontext wachsenden Umweltbewusstseins zu prognostischen Instrumenten zu machen, um die Gefahren einer Klimaerwärmung durch steigende Kohlendioxidkonzentrationen zu erkunden. Die mit der Computersimulation auf Basis drastisch vereinfachter Modelle verknüpften Unsicherheiten warfen kontroverse Fragen nach der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Simulationsergebnissen auf – und Konflikte zwischen ihren Befürwortern und Kritikern. Kritiker sahen Simulationsergebnisse als weitaus weniger belastbar an, als empirische Beobachtungen. Langfristige Simulationen von Klimamodellen schienen überdies viel zu stabil zu sein und den chaotischen Charakter der Atmosphäre nicht Rechnung zu tragen. Die mit diesen Fragen verknüpften Glaubenskämpfe wurden allerdings rasch durch die Praxis entschieden. Modelle und Simulationen erwiesen sich als wissenschaftlich und politisch zweckmäβig. Fragen nach ihrer Zuverlässigkeit lieβen sich nicht abschlieβend klären und wurden pragmatisch ignoriert. Die Entwicklung modellbasierter Vorhersagen von Wetter und Klima und die Glaubenskämpfe, die diese Entwicklung begleitete, werden an Beispielen aus Groβbritannien und den USA untersucht.
Isabell Schrickel, Lüneburg:
Offene Horizonte – Surprise Science am IIASA
Der Beitrag widmet sich dem „International Institute for Applied Systems Analysis“ (IIASA), das in der Détente-Phase des Kalten Krieges als Ost-West-Think Tank 1972 in Wien gegründet wurde. Wissenschaftler aus zwölf Nationen arbeiteten interdisziplinär zusammen, um globale und universelle Probleme aller fortschrittlichen Gesellschaften zu erforschen. Am IIASA sind bis heute relevante Methoden der Modellierung von Zukünften und des Umgangs mit dem Problem der Falsifikation entstanden. Der Beitrag untersucht Projekte der 1970er und 1980er Jahre, in denen das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt erforscht wurde, und interpretiert deren inhärente Zukunftskonzeptionen und mit welchen Verfahren Glaubwürdigkeit und internationale Übereinkunft über Zukunftsfragen hergestellt wurde. Ein Fokus liegt auf dem Umgang mit Unvorhersagbarkeit und Überraschungen, worauf Konzepte wie Resilienz, adaptive management und sustainable development Antworten versprechen.
Christina Brandt, Bochum:
‚Zeitschichten‘ und Erwartungshorizont: Zum Wandel von Zukunftskonzepten in der Auseinandersetzung mit den Life Sciences in den 1960er bis 1980er Jahren
Der Vortrag geht den öffentlichen und politischen Debatten zu den modernen Lebenswissenschaften in den 1960er bis 1980er Jahren in der Bundesrepublik und den USA nach. Entwicklungen in der Gen-, Klon- und Reproduktionsforschung haben in diesen Jahrzehnten nicht nur grundlegend die biowissenschaftliche Forschungslandschaft verändert und einen neuen Begriff von Biotechnologie hervorgebracht, sondern sie wurden vor allem zum kontroversen Kristallisationspunkt einer weiträumigen Debatte, in der allgemeiner die gesellschaftliche Rolle von Naturwissenschaft und Technik in modernen Gesellschaften verhandelt wurde. Während die Entwicklungen des molekularbiologischen Wissens in den 1960er Jahren oft von technikoptimistischen Zukunftsvisionen begleitet wurden, dominierten in den 1970er und 1980er Jahren dystopische Szenarien. Dabei spielten auch religiöse Werthaltungen eine Rolle. Der Vortrag analysiert die verschiedenen Zukunftsentwürfe und Erwartungshorizonte, die im Feld der Wissenschaften, der medialen und politischen Auseinandersetzung mit den Life Sciences formuliert wurden, und untersucht darüber hinaus, welche imaginierten Zukünfte in der Populärkultur durch die neuen Biotechnologien befördert wurden. Es wird die These diskutiert, dass die kritische Auseinandersetzung mit den Lebenswissenschaften und die seit den 1970er Jahren verstärkt eingeforderte Risikoabschätzung der neuen Biotechnologien zu einer veränderten politischen und sozialen Wahrnehmung von Zukunft beitrug und zugleich die Wissenschaft selbst veränderte: Die Wende zu apokalyptischen Visionen im öffentlichen Raum der 1970er Jahre wurde von politischen Ideen von Prävention und Antizipation zukünftiger Wissens- und Technikbestände flankiert. In letzteren kommt eine Vorstellung von Zukunft zum Ausdruck, die diese nicht als offenen, unvorhersagbaren oder zeitlich entfernten Horizont, sondern als antizipierbare Verlängerung der Gegenwart konzipiert.
Abstracts (English version):
Elke Seefried, Augsburg/Matthias Heymann, Aarhus
Knowledge, Faith and Futures. The History of Forecasting and Future Expertise in Late 20th Century
Current historical research has shown that the future became a central scientific and political category in the 1960s, both in the West and the Socialist States. Based on new theories and methods of forecasting the future such as cybernetics, many scientists were confident that they would be able to plan and steer the future by using ‘modern’ and rational methods. Moreover, political orientations towards planning prospered during the 1960s due to growing political trust in future expertise. Scientists emphasized that rationality laid at the centre of all processes modelling, forecasting and planning the future by referring to a notion of rationality far from simply believing in progress but doing research into the future objectively. There were indications that confidence in forecasting the future began to crumble in specific fields during the 1970s (such as economic forecasting), and the limits of generating future knowledge were increasingly reflected. At the same time, public and political interest in future expertise intensified in specific fields (such as climate research and life sciences). However, this very expertise was also questioned by science and the public. The panel explores the relationships between knowledge, faith, and futures in late 20th century. It examines generating knowledge on the future, interactions between science and the public as well as future expertise utilized in government and administration. Assessing opinions, beliefs, and notions of rationality, the panel discusses the role of faith, ideology and generating credibility in forecasting and producing future expertise. It sheds light on continuities and breaks and inquires if there were times when future expertise had a specific apocalyptic notion (such as the 1970s) whereas other decades seemed to be characterized by some sort of a ‘rational’ approach to thinking about the future.
Matthias Heymann, Aarhus:
Climate Prognostics: Scientific Expertise and Clashs of Opinion in a Culture of Prediction
Computer simulation was adopted quickly in the atmospheric sciences since the early 1950s. Successes in weather and climate simulation quickly increased the attraction and authority of this research approach. While weather simulation focused from the outset on weather prediction, the first generation of climate modellers focused on exploring atmospheric processes and improving their physical understanding with so-called General Circulation Models (GCMs). Computer simulation offered “a unique opportunity to study large-scale meteorology as an experimental science,” as British meteorologist Eric Eady put it in 1956. It took new incentives and a new generation of modellers to re-interpret the purpose of GCMs in the context of rising environmental concern and make them prognostic tools to investigate the danger of climate change due to rising carbon dioxide concentrations in the atmosphere. Computer simulation based on drastically simplified models raised controversial questions about the credibility and reliability of simulation results – and conflicts between proponents and critics. Critics considered this research strategy as much less reliable compared to empirical observation. In addition, long-term simulations of climate models appeared much too stable and ignorant of the character of the atmosphere as a chaotic system. A clash of beliefs was soon decided in practice: models and simulations proved useful for science and politics. Objections related to their reliability could not definitely be resolved and were pragmatically ignored. The development of model-based prediction of weather and climate and the clash of beliefs it evoked, will be investigated for examples from the UK and the USA.
Isabell Schrickel, Lüneburg:
Open Horizons – Surprise Science at IIASA
This panel contribution focuses on the „International Institute for Applied Systems Analysis“ (IIASA), an east-west think tank founded during the Détente phase of the Cold War in 1972 in Vienna. Scientists from twelve nations worked collaboratively in an interdisciplinary manner to explore the global and universal problems that all advanced societies have in common. In this context an array of still important methods of modelling futures and the handling of the problem of falsification emerged. In the talk I present IIASA projects from the 1970s and 1980s that negotiated the interactions between society and environment and interpret the inherent conceptions of the future. I will look at how credibility and international commitment on questions about the future were produced in these projects and how epistemic limitations such as unpredictability and surprise were dealt with, for instance through concepts such as resilience, adaptive management and sustainable development.
Christina Brandt, Bochum:
‘Layers of Time’ and ‘Horizon of Expectation’: Shifting Concepts of the “Future” in the Public Debates about Life Sciences from the 1960s to the 1980s
This paper analyzes the public and political debates about life sciences in West-Germany and the US from the 1960s to the 1980s. In this period, research on genetic engineering, cloning and reproduction changed the life sciences fundamentally. These fields not only supported the development of a new concept of “biotechnology”, they also became core areas of a widespread public debate in which the social consequences of science and technology were discussed in general. Whereas in the 1960s optimistic visions of the future went along with the developments in molecular biology, the debates of the 1970s and 1980s were often dominated by dystopian scenarios in which religious values also played a role. The paper explores the different ‘horizons of expectations’ and visions of future consequences for society that were discussed by scientists, in the media and in the political field as a response to the scientific developments. Furthermore, it analyzes what kind of imagined futures were developed in the popular culture with respect to the new biotechnologies. The main thesis of the paper concerns a shift in temporal concepts of the future: It will be argued that the critical debates about life sciences as well as approaches of risk estimation of the new biotechnologies that were increasingly demanded in the 1970s contributed to a changing social and political perception of the ‘future’ in this decade – which also had effects on the sciences. The shift to apocalyptic visions in the popular field was accompanied by political ideas of anticipation and prevention with respect to future knowledge and future technologies. In these debates, the boundaries of the present state and future scenarios became blurred and a concept of future took shape that conceived the future not any more as an open, unpredictable or distant horizon of time but simply as an extension of the present.
Überblick
(Jens Gieseke, Potsdam) Gerhard Sälter, Marburg: Der
Überblick
(Jens Gieseke, Potsdam)
Gerhard Sälter, Marburg:
Der Widerstand gegen Hitler als Bedrohung der Nachkriegsdemokratie: Die Organisation Gehlen und ihre Wahrnehmung der Roten Kapelle
Bodo Hechelhammer, Berlin: Vorstellungswelten und Selbstbild von Doppelagenten: Wahrnehmungs- und Persönlichkeitsmuster von KGB-Spionen im BND
Jens Gieseke, Potsdam:
Die westdeutschen Grünen als potentielle Bedrohung der SED-Diktatur
Klaus Weinhauer, Bielefeld:
Terrorismus von links und rechts: Bedrohungsvorstellungen bundesdeutscher Behörden der Inneren Sicherheit in den 1970/80er Jahren
Beatrice de Graaf, Utrecht:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Die Sektion nimmt die beginnende Diskussion um die Arbeitsweise von Geheimdiensten auf und schließt an die bereits seit längerem vorangetriebenen Forschungen zu Behörden der Inneren Sicherheit an. Beide haben einen auf Prävention gerichteten Auftrag und damit eine unauflösliche Spannung zu bewältigen: Sie sollen Gefahrenpotentiale entdecken, bevor eine Gefahr real geworden ist. Damit müssen sie Wissen über eine Vielfalt möglicher Gegner generieren, die theoretisch auf eine Totalität gesellschaftlichen Wissens zielt, was angesichts von gesellschaftlicher und politischer Komplexität auf eine systematische Überforderung herausläuft und eine paralytische Wirkung haben kann.
Auf der anderen Seite sind die eingehenden Informationen häufig unsicher und stammen aus nicht bewertbaren Quellen. Sie mussten bewertet werden aufgrund von bereits aggregierten Informationen, die häufig auf ähnlich zweifelhaften Wege zusammengestellt worden sind. Die Germanistin Eva Horn hat diese Wechselbeziehung zwischen Vorwissen und Ergebnissen treffend ein „epistemic delirium“ genannt. Es entsteht, wenn aus mehrfach gefiltertem und unüberprüfbarem Wissen Vorhersagen darüber getroffen werden sollen, wer ein potentieller Feind ist, welche Intentionen er hat und was er in Zukunft vorhaben könnte.
Vor diesem Hintergrund fragen die Beiträge der Sektion nach der Konstruktion von gesellschaftlicher Realität in Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden. Diskutiert werden Realitätskonstruktionen und die Wahrnehmung von Gefahrenpotentialen in Geheimdiensten und in der Polizei im geteilten Deutschland. Drei Fragen stehen im Mittelpunkt: Erstens soll untersucht werden, ob bzw. inwieweit es zeit-, system- und organisationsspezifische Feindbilder, Bedrohungsanalysen und Bekämpfungsstrategien gab. Zweitens gilt es zu überprüfen, ob bzw. inwieweit die dichotomischen Muster des Kalten Kriegs organisations- und zeitübergreifend fortgewirkt haben. Schließlich wird explizit nach Wandlungen im Zeitverlauf gefragt.
Gerhard Sälter (Berlin) beschreibt die von der Organisation Gehlen in den 1950er Jahren intensiv betriebene Suche nach der Roten Kapelle. Hierbei wurden Wahrnehmungen handlungsrelevant, die aus der personellen Kontinuität des Personals zum Nationalsozialismus resultierten. Frühere Gestapo-Beamte identifizierten die Gefährdung des neuen Staates dort, wo sie sie schon vor 1945 lokalisiert hatten: bei den Gegnern des Nationalsozialismus. Der Beitrag fragt nach den Bedingungen, unter denen solche Wahrnehmungen Geltungskraft erlangen konnten und inwieweit sie die Gefährdungsanalyse der Bonner Eliten beeinflusste.
Bodo Hechelhammer (Berlin/ Pullach) untersucht Selbstbild und Rollenidentitäten von Doppelagenten im BND. 1961 verhaftete KGB-Spione dienen als Fallbeispiele für die Frage nach dem „Selbstkonzept“ eines Spions und die daraus resultierenden Handlungsmechanismen. Rollendefinitionen und die damit einhergehende Konstruktion sozialer Realität beeinflusste ihr Handlungsfeld und bestimmte die Selbstlegitimation.
Jens Gieseke (Potsdam) analysiert die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit bei der Informationssammlung und Formulierung außenpolitischer Konzepte in Bezug auf die westdeutschen „Grünen“. Die junge Partei galt dem SED-Regime einerseits als möglicher Bündnispartner, jedoch unterminierten Kontakte von Grünen zur Opposition in der DDR diese Bemühungen. Das MfS bemühte sich intensiv, die Politik der SED gegenüber den Grünen zu mitzugestalten, wobei ihm seine Rolle als Informationslieferant mitzuwirken – eine Strategie, die jedoch mit dem fortschreitenden Verfall der Spielräume der DDR in der internationalen Arena immer weniger handlungsmächtig wurde.
Klaus Weinhauer (Bielefeld) untersucht die Entstehung von Bedrohungsvorstellungen am Beispiel des linken und rechten Terrorismus in der Bundesrepublik der 1970/80er Jahre. Sowohl überkommene Bilder vom Unterklassenstraftäter als auch der organisationskulturell tief verankerte Antikommunismus prägten lange die Wahrnehmungsmuster. Der rechte Terrorismus wurde nicht nur deshalb unterschätzt, weil das Feindbild der Polizei sich an alten Nationalsozialisten orientierte, auch Männlichkeitsmodelle in Führungskreisen der Polizei ließ sie das Bedrohungspotential unterbewerten.
Abstract (English version)
The section brings together the recent debates about work patterns of intelligence agencies with the established research on the institutions of domestic security (Innere Sicherheit). Both institutions have a preventative task and are thus confronted by the indissoluble tension to detect potential dangers before they become real. Thus they have to generate a totality of social knowledge about a plurality of enemies. This amounts to a social and political complexity, to a systematic and potentially paralyzing excessive demand. Moreover, the information collected often is uncertain and of problematic origin. This information has to be evaluated often in reference to an aggregated set of information which in itself has been assembled in similarly dubious way. The literary scientist Eva Horn has labeled this interrelationship between previous knowledge and results as „epistemic delirium“. It emerges when non-verifiable knowledge is used for predictions about potential enemies, their intentions and future plans.
Against this background the presentations of this section discuss the constructions of social reality of German intelligence and security institutions. Discussed are construction of realties and perceptions of danger potentials of intelligence agencies and of the police in the divided Germany. Three questions are put center stage: First, are there any concepts of the enemy, threat assessments, and control strategies which are time specific, transcend borders of institutions and political systems? Second, how far did dichotomous cold war patterns survive in security institutions? Third, in all cases we explicitly study changes over time.
Gerhard Sälter (Berlin) describes how „Organisation Gehlen“ intensively searched for members of the communist „Rote Kapelle“. In this case patterns of action became relevant which rooted in personified continuities from national socialism. Former members of the Gestapo identified threats to the new state there, where they had located them before 1945: In the ranks of the enemies of national socialism. The paper studies the conditions under which such perceptions became valid. It is also asked to what extend these patterns of thinking affected the analyses of threat of the political elites in Bonn. Bodo Hechelhammer (Berlin/ Pullach) analyzes self-images and role identities of BND double agents. Using the example of KGB spies who were arrested in 1961 concepts of subjectivity and related patterns of action are studied. Role definitions and related constructions of social reality influenced their field of action and also defined their self-legitimation. Jens Gieseke (Potsdam) discusses the role the Ministry of State Security played in collecting information and in the formulation of foreign political concepts related to the West German Greens (Grünen). On the one hand the SED regime considered the party as a potential ally. On the other hand the contacts the party had established to the oppositional groups inside the GDR undermined these efforts. The MfS tried intensively to influence the SED politics towards the Greens. Its chances for doing so, however, narrowed with the growing international decline of the GDR. Focusing on left and right terrorism of the 1970s and 1980s, Klaus Weinhauer (Bielefeld), analyzes the origins of related imaginaries of threat. In these years the perceptions of police organizations were shaped by outdated stereotypes about the underclass and by culturally deeply rooted patterns of anticommunism. On the one hand the threats of right-wing terrorism were underestimated by concepts of the enemy which targeted old national socialists. On the other hand it were also patterns of masculinity which among leading police elites led to an underestimation of the threats posed by right-wing terrorists.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Deutsch-Polnische Schulbuchkommission) Podiumsdiskussion -Claudia Kraft, Siegen -Robert Traba,
Überblick
(Deutsch-Polnische Schulbuchkommission)
Podiumsdiskussion
-Claudia Kraft, Siegen
-Robert Traba, Berlin
-Katrin Steffen, Lüneburg
-Zdzisław Krasnodebski, Bremen
Moderation: Hans-Jürgen Bömelburg, Gießen
Abstract:
Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik sind – dies zeigen die aktuellen politischen Debatten in Europa – Teil von pluralistischen und in Demokratien unvermeidbaren Diskussionen. Dabei geht es sowohl um „richtige“ historische Positionen (und nicht zuletzt auch um Glaubensfragen), aber auch um Identitätsdiskurse. Gerade in den vielfach verflochtenen deutsch-polnischen Beziehungen, die durch Kulturtransfer und friedlichen Austausch, aber auch durch Völkermord, ethnische Säuberungen und Grenzverschiebungen gezeichnet sind, besitzen diese Fragen eine erhebliche Brisanz.
Kehren in den aktuellen Debatten über patriotische Erziehung und Fundamentalismus die Politikmuster der Zwischenkriegszeit wieder? Wie sehen die Rahmenbedingungen und Bedeutungen von Geschichtsproduktion in vielfach miteinander verflochtenen pluralistischen Nachbargesellschaften aus, die Geschichte immer auch als Identitätsdiskurs benutzen? Welche Rolle spielen staatlich verordnete „Erinnerungsgesetze“, Tabus und weisungsgebundene halbstaatliche Einrichtungen? Wie kann in diesem Umfeld ein deutsch-polnisches Projekt wie das gemeinsame curriculare Geschichtsschulbuch entstehen?
Und schließlich: Folgen mediale Diskurse nicht Identitätsdiskursen, aber auch Skandalisierungsimperativen, wie zuletzt in der ZDF-Produktion „Unsere Mütter, unsere Väter“ zu sehen? Welche Rolle können unter diesen Bedingungen fachhistorische Initiativen wie die „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ oder die „Deutsch-Polnische Geschichte“ spielen?
Für die Diskussion wurden markante Stimmen aus den deutschen und polnischen Geschichts- und Kulturwissenschaften gewonnen, die diese Probleme gemeinsam mit der fachhistorischen Öffentlichkeit diskutieren werden.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Olaf Blaschke, Münster) Olaf Blaschke, Münster: Einführung:
Überblick
(Olaf Blaschke, Münster)
Olaf Blaschke, Münster:
Einführung: Glaubenssache Globalgeschichte?
Margrit Pernau, Berlin:
Religion in der Globalgeschichtsschreibung:
Die Emotionen der kolonialen Moderne in Indien
Volkhard Krech, Bochum: Globalgeschichte in der Religionswissenschaft
Rebekka Habermas, Göttingen:
Kommentar
Abstract:
Mehr und mehr Themenfelder werden von der Globalgeschichtsschreibung erfaßt, allein die Religionen wurden bislang kaum von ihr berührt. Dabei wirken gerade Glaubensfragen grenzüberschreitend, mithin sollte die Überwindung des “methodologischen Nationalismus” Religions- und Kirchenhistorikern besonders leicht fallen. Tatsächlich jedoch bleiben den meisten transnationale, global- und verflechtungshistorische Ansätze fremd. Im Gegenzug ignoriert die Mehrzahl der für das 19. und 20. Jahrhundert zuständigen Globalhistoriker auch die Religionsgeschichte.
Ziel der Sektion ist, eine doppelte Sensibilisierung zu fördern: für globalgeschichtliche Fragen in der Religionsgeschichte einerseits wie für religiöse Themen in der aufstrebenden Globalgeschichtsschreibung andererseits. Überzeugt die bisherige Leistungsbilanz? Wo liegen Zugewinne, Ertragschancen und Grenzen der Globalgeschichte für Glaubensfragen? Dieser Diskussion widmet sich die Sektion in drei Grundsatzbeiträgen: Zunächst wird aus Sicht der etablierten Katholizismus- und Protestantismusforschung sondiert, welcher Mehrgewinn von einer globalgeschichtlichen Öffnung zu erwarten wäre. In einem interdisziplinären Tandem wird sodann zum einen von Seiten der Globalgeschichtsschreibung aus gezeigt, was gewonnen wird, wenn sie sich dem religiösen Feld widmet, zum anderen von Seiten der Religionswissenschaft aus diskutiert, welche Chancen sich für die Disziplin ergeben, wenn sie sich der Globalgeschichte öffnet.
Abstract (English version):
While global history touches on ever more historical fields of investigation, religion has so far been largely neglected. And yet, because matters of religious faith are essentially cross border phenomenon, historians of religion, and church historians, should find it easy to overcome the ‘methodological nationalism’ of their fields. But, most of these scholars shy away from transnational, global or entangled history. In turn, global historians of the 19th and 20th centuries tend to ignore the history of religion.
The aim of the session is to foster a reciprocal sensitivity. On the one hand, among historians of religion for the questions posed by global history, and, on the other hand, for religious issues in the emerging field of global history. How does the history of religion stand to profit and widen its perspective by embracing a global perspective? This discussion is dedicated to three essential themes. What would the well-established history of Catholicism and Protestantism gain from adopting a global perspective? What gains would global history make by integrating religious history? And, conversely, how would the field of religious studies benefit from adopting a global perspective?
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Andrew Wells, Göttingen) Gösta Gabriel, Göttingen: Mesopotamische
Überblick
(Andrew Wells, Göttingen)
Gösta Gabriel, Göttingen:
Mesopotamische Tempelrestaurationen zwischen Konservierung und Ikonoklasmus
Erika Manders, Göttingen:
Late Antique Iconoclasm: Pagans and Christians in the Fourth Century AD
Claudia Nickel, Göttingen:
Ikonoklasmus in den Narrationen zu den französischen Religionskriegen
Andrew Wells, Göttingen:
Atlantic Iconoclasm: Protestantism, Profanation and Politics in the First British Empire, c.1640–c.1740
Abstracts (scroll down for English version):
Gösta Gabriel, Göttingen:
Mesopotamische Tempelrestaurationen zwischen Konservierung und Ikonoklasmus
Altorientalische Könige rühmen sich regelmäßig mit der ‚Erbauung‘ von Tempeln, wohinter sich zumeist mehr oder weniger umfangreiche Restaurationen verbergen. Der Vortrag fokussiert den altakkadischen König Narām-Sîn (23. Jh. v. Chr.), der in der späteren Tradition zwiespältig wahrgenommen wird. Besonders negativ stilisiert ihn der epische Text „Fluch über Akkade“, in dem er sich an dem Tempel des Hauptgottes Enlil ‚vergeht‘. Der Vortrag wird die Selbst- und Fremddarstellung von Narām-Sîns Restauration des Enlil-Tempels in den Blick nehmen und die Akteure und Rahmenbedingungen identifizieren, die über den Unterschied zwischen ‚Restauration‘ und ‚Zerstörung‘ entscheiden.
Erika Manders, Göttingen:
Late Antique Iconoclasm: Pagans and Christians in the Fourth Century AD
Nach Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke, wurden heidnische Monumente gezielt von Christen angegriffen. Tempel wurden zerstört, Statuen umgestürzt und verschandelt, häufig mit Unterstützung von offizieller Seite. Im Mittelpunkt dieses Vortrags steht der Ikonoklasmus des vierten Jahrhunderts, die Perspektive wird aber erweitert, indem Kontinuitäten und Wandel über Konstantin und die heidnisch-christliche Dichotomie hinaus betrachtet werden: In welchem Ausmaß folgen die christlichen Gewalttaten des vierten Jahrhunderts früheren Beispielen (säkularer und nicht-säkularer) Ikonoklasmen? Wurde übliches Vokabular verwendet? Auf diese Weise soll Aufschluss über einen möglichen Einfluss der Tradition auf den Ikonoklasmus gegeben werden.
Claudia Nickel, Göttingen:
Ikonoklasmus in Narrationen zu den französischen Religionskriegen
Während der Religionskriege (1562-1598) kommt es in Frankreich zu diversen ikonoklastischen Vorfällen. Im Vortrag werden textuelle und ikonographische Beispiele, die diese spezifische Form von Gewalt thematisieren, vorgestellt. Dabei wird untersucht, welche ästhetischen Mittel eingesetzt werden, um von den jeweiligen Zerstörungen und den beteiligten Akteuren zu erzählen, und welche Deutungen und Funktionen diesen Akten zugeschrieben werden.
Andrew Wells, Göttingen:
Atlantic Iconoclasm: Protestantism, Profanation, and Politics in the First British Empire, c.1640-c.1740
Dieser Vortrag untersucht die Bedeutung des Protestantismus während des britischen Kolonialreichs. Es wird gezeigt, dass der Wahnsinn des Ikonoklasmus während der Jahre des Bürgerkriegs kein Einzelfall war, der der als bloße Unterbrechung einer Tradition religiöser Toleranz gelten könnte. Nicht nur gegen Juden und Katholiken, sondern auch gegen andere Protestanten waren Menschenmassen und Behörde gleichermaßen an diesem Ikonoklasmusbeteiligt. Der Vortrag beleuchtet diese Prozesse in Bristol und New York, um zu zeigen, dass die Grenze religiöser Toleranz im ‘protestantischen und freien’ britischen Kolonialreich heftig und gewalttätig sein konnten.
Abstracts (English version):
Gösta Gabriel, Göttingen:
Mesopotamische Tempelrestaurationen zwischen Konservierung und Ikonoklasmus
Ancient Near Eastern kings regularly praised themselves with the ‘edification’ of temples, behind which was concealed more or less extensive restoration work. This paper focuses on the Old Akkadian King Narām-Sîn (23rd century BCE), who according to later tradition has been perceived as divisive. He was portrayed especially negatively in the epic text “Curse of Akkade”, in which he is shown to seriously assault the temple of the chief god Enlil. The paper will examine the self-presentation and representation of Narām-Sîn’s restoration of the temple of Enlil, and identify the actors and contexts that mark the difference between ‘restoration’ and ‘destruction’.
Erika Manders, Göttingen:
Late Antique Iconoclasm: Pagans and Christians in the Fourth Century AD
After Constantine’s victory at the Milvian Bridge, pagan monuments became the target of violent acts committed by Christians. Temples were destructed and statues toppled over and mutilated, often with official support. Central to this paper is fourth-century iconoclasm, yet a broader perspective will be presented by analyzing patterns of continuity and change and thus going beyond Constantine and the dichotomy pagan-Christian: to which extent did these fourth-century Christian acts of violence follow earlier examples of (secular and non-secular) iconoclasm? Were common vocabularies used? In this way, more light will be shed on the possible influence of tradition on iconoclasm.
Claudia Nickel, Göttingen:
Ikonoklasmus in Narrationen zu den französischen Religionskriegen
There occurred varied incidents of iconoclasm in France during the Wars of Religion (1562-1598). This paper will introduce textual and iconographic examples that thematise this specific form of violence. It also examines which aesthetic means are used to narrate destruction and its perpetrators, and which interpretations and functions are associated with these acts.
Andrew Wells, Göttingen:
Atlantic Iconoclasm: Protestantism, Profanation, and Politics in the First British Empire, c.1640-c.1740
This paper interrogates the meaning of Protestantism in the British empire. It will be shown that the iconoclastic frenzy of the Civil War years was no isolated incident in a supposed march towards religious toleration. Crowds and authorities alike engaged in iconoclasm against not only Jews and Roman Catholics, but also other Protestants. Examining these processes in Bristol and New York, it will be shown that the limits to religious toleration in the ‘Protestant and free’ British empire could be severe and violent.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Hauptgebäude Ostflügel
HOF-221
Überblick
(Helge Heidemeyer, Berlin, Douglas Selvage,
Überblick
(Helge Heidemeyer, Berlin, Douglas Selvage, Berlin)
Helge Heidemeyer, Berlin:
Moderation
Ute Caumans, Düsseldorf:
Die Grauzone zwischen Taktik und Glaube: Verschwörungstheorien am Beispiel osteuropäischer Schauprozesse
Douglas Selvage, Berlin:
Die HIV-als-US-Biowaffe Verschwörungstheorie zwischen Glaube und Instrumentalisierung
Adrian Hänni, Zürich:
Verschwörungstheorien und Terrorismus: Der Masterplan des KGB zur Weltherrschaft Christoph Herzog, Bamberg: Verschwörungstheorie als Teil des Mainstream. Der Fall Türkei
Andrew McKenzie-McHarg, Cambridge:
Kommentar
Abstracts (scroll down for Englisch version):
Während Historiker (zumindest nach ihrer Selbstdarstellung) versuchen, auf Grundlage empirischer Beweise Entwicklungen der Vergangenheit zu erklären bzw. aufzuklären, gibt es sehr oft konkurrierende, populäre Narrative in Form von Verschwörungstheorien. Obwohl es natürlich auch echte, belegbare Verschwörungen in Vergangenheit und Gegenwart gab bzw. gibt, ist der Glaube an Verschwörungsthesen, ohne hinreichende glaubwürdige, belastbare Beweise zu haben, weit verbreitet – d. h. an Verschwörungstheorien. Auf der einen Seite werden solche Thesen häufig von sozial ausgegrenzten Personen einer Gesellschaft entwickelt und verbreitet, die bereits häufig staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung und echten Verschwörungen zum Opfer gefallen sind. Auf der anderen Seite werden Verschwörungstheorien häufig von verschiedenen Akteuren instrumentalisiert, um Individuen für ihre politischen und gesellschaftlichen Ziele zu gewinnen oder sich selbst gegen Attacken und Vorwürfe zu verteidigen, indem die Schuld einem Sündenbock zugeschoben wird.
Unsere Sektion wird sich mit der folgenden Frage beschäftigen: Wenn es um Verschwörungstheorien geht, inwieweit gibt es eine Grenze zwischen Treugläubigen an dieselben und Akteure, die sie zum eigenen Zweck instrumentalisieren? Ute Caumanns und Mathias Niendorf schreiben sogar von einem „Spektrum“ von Verschwörungstheoretikern: „Im Spektrum zwischen naiven Komplottphantasten und gemeinen Zynikern finden sich die ihrem eigenen Konstrukt zum Opfer gefallenen Verschwörungstheoretiker. Manipulatives Handeln kann, wie die Geschichte zeigt, vom Zweckrationalen leicht zum Wertrationalen umschlagen.“ (Caumanns, Ute; Niendorf, Mathias: Raum und Zeit, Mensch und Methode: Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie. In: Caumans, Ute; Niendorf, Mathias: Verschwörungstheorien. Antropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück, 2001, S. 203.)
Ute Caumans, Düsseldorf:
Die Grauzone zwischen Taktik und Glaube: Verschwörungstheorien am Beispiel osteuropäischer Schauprozesse
Auch wenn Verschwörungstheorien heute in hohem Maße mit dem World-Wide-Web in Verbindung gebracht werden: Sie reduzieren sich keineswegs auf ein vor allem subkulturelles Phänomen. Insbesondere in der Krise des Kalten Krieges nutzten politische Führungen das narrative Potential von Verschwörungstheorien. Handelten solche Politiker als berechnende Taktiker oder glaubten sie an die von ihnen sanktionierten Meistererzählungen?
Für Ostmitteleuropa bietet sich auf den ersten Blick ein taktisch-strategischer Einsatz – initiiert durch die politischen Führungen (und Moskau) – als der zu erwartende Normalfall an. Doch selbst in diesem vermeintlich eindeutigen Kontext finden sich graduelle Übergänge: Es gibt nicht nur taktierende Zyniker und naive Verschwörungsgläubige.
Diese Grauzone, in der Fakten mit Fiktionen verwoben werden, will der Präsentationsvorschlag im Kontext stalinistischer Schauprozesse untersuchen. Schauprozesse stellen den historischen Ort zur Verfügung, an dem eine von Drehbuchautoren verfasste und politisch sanktionierte Verschwörungsgeschichte auf die Bühne gebracht werden konnte – eine facettenreich erzählte Geschichte, zugleich eine Weltsicht, die auf der Umdeutung von Geschichte basiert. Auf der Grundlage zeitgenössischer und retrospektiver Äußerungen insbesondere politisch Verantwortlicher soll der Versuch unternommen werden, die Grauzone zwischen Glauben und Wissen, Fakten und Fiktionen, näher zu beleuchten.
Douglas Selvage, Berlin:
Die HIV-als-US-Biowaffe Verschwörungstheorie zwischen Glaube und Instrumentalisierung
Douglas Selvage stellt am Beispiel der HIV-als-US-Biowaffe Verschwörungstheorie fest, dass die Theorie nicht nur von Treugläubigen unter Afro-Amerikanern und Homosexuellen ab 1983 verbreitet wurde, sondern auch von den östlichen Geheimdiensten KGB und Stasi, die nicht an die These glaubten. Nach dem Endes des Kalten Krieges gab es mehrere Multiplikatoren der Verschwörungstheorie, die nicht nur an sie glaubten, sondern sie auch für die eigenen Zwecke instrumentalisierten – z. B. für den Vertrieb von alternativen Therapien für HIV/AIDS. In diesem Falle schien das Zweckrationale dem Wertrationalen gefolgt zu sein.
Adrian Hänni, Zürich:
„Verschwörungstheorien und Terrorismus: Der Masterplan des KGB zur Weltherrschaft“
Das scheinbar unerklärbare und irrationale Phänomen „Terrorismus“ hat immer wieder Verschwörungstheorien beflügelt – nicht erst seit dem 11. September 2001. Andererseits waren Verschwörungstheorien selbst oft Auslöser terroristischer Gewalt. Adrian Hänni untersucht das unheilvolle Verhältnis zwischen Terrorismus und Verschwörungstheorien anhand eines Beispiels aus dem Kalten Krieg: Auf der Basis von Schwarzer Propaganda westlicher Geheimdienste verbreiteten Journalisten in den späten 1970er Jahren die Theorie, dass der internationale Terrorismus eine sowjetische Verschwörung gegen die westlichen Demokratien zur Erlangung kommunistischer Weltherrschaft sei. In den 1980er Jahren wurde diese Vorstellung von Politikern der Reagan-Administration und Terrorismusexperten aufgegriffen und für ihre Ziele instrumentalisiert. Das Zusammenfallen von Wertrationalität und Zweckrationalität ermöglichte die Expansion der Verschwörungstheorie von der sozialen Peripherie in den gesellschaftlichen Mainstream, wo sie sich als populäres Narrativ und Gegenstand mehrerer Hollywoodfilme und Spionageromane manifestierte.
Abstracts (English version):
While historians, at least in their own self-representation, try to clarify and explain developments in the past based on empirical evidence, there often exist conflicting, popular narratives in the form of conspiracy theories. Although real, provable conspiracies have existed both in past and present, the public – or at least parts of it – very often believe in conspiracies without having any sufficiently trustworthy, reliable evidence – i.e., in conspiracy theories. On the one hand, such theses are often developed and spread by socially-marginalized individuals in a given society, who have fallen victim to legal and social discrimination and real conspiracies. On the other hand, conspiracy theories have often been instrumentalized by various actors in order to win others over to their social and political goals or to defend themselves against accusations and attacks by scapegoating third parties.
Our section will examine the following question: With regard to conspiracy theories, to what extent is there a border between true believers in them and various actors who seek to instrumentalize them to their own ends? Ute Caumans and Matthias Niendorf write of a “spectrum” of conspiracy theorists: “In the spectrum between naïve plot fantasists and base cynics, there lie conspiracy theorists that have fallen victim to their own constructions. Manipulative conduct can, as history has shown, very easily shift from the goal-instrumental to the value-rational.” (Caumanns, Ute; Niendorf, Mathias: Raum und Zeit, Mensch und Methode: Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie. In: Caumans, Ute; Niendorf, Mathias: Verschwörungstheorien. Antropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück, 2001, S. 203.)
Ute Caumans, Düsseldorf:
The Gray Area between Tactics and Belief: Conspiracy Theories as Exemplified by East European Show Trials
Although conspiracy theories today are often associated with the internet, they can by no means be reduced to a subcultural phenomenon. Especially during the crises of the Cold War, political leaders exploited the narrative potential of conspiracy theories. Did such politicians act as calculating tacticians, or did they believe in the master narratives that they sanctioned? In the case of East Central Europe, a tactical-strategic use – initiated by the political leaders (and Moscow) – seems to offer itself at first glance as the normal, expected case. However, even in this allegedly unambiguous context, gradual transitions exist; there were not only plotting cynics and naïve believers in conspiracy.
The presentation will analyze this gray area, in which fact and fiction were interwoven, within the context of the Stalinist show trials. Show trials provide a historical location at which a politically-sanctioned tale of conspiracy, composed by a scriptwriter, could be brought to the stage – a story told with many facets, but at the same time a worldview based upon a reinterpretation of history. On the basis of contemporary and retrospective remarks, especially from politically responsible individuals, the attempt will be made to further elucidate the gray area between belief and knowledge, fact and fiction.
Douglas Selvage, Berlin
The HIV-as-U.S.-Bioweapon Conspiracy Theory between Belief and Instrumentalization
The presentation argues that the HIV-as-U.S.-bioweapon conspiracy theory was spread not only by true believers in the African-American and gay communities in the U.S. beginning in 1983, but also by East European secret services – viz., the KGB and Stasi – which did not believe in the thesis.
After the end of the Cold War, many new multipliers of the conspiracy theory arose, who not only believed in it, but also instrumentalized it to their own ends – for example, to sell alternative therapies for HIV/AIDS. In this case, the goal-instrumental seems to have followed the value-rational.
Adrian Hänni, Zürich
Conspiracy Theories and Terrorism: The KGB’s Master-Plan for World Domination
The seemingly unexplainable and irrational phenomenon of “terrorism” has been accompanied again and again by conspiracy theories – not least of all since September 11, 2001. At the same time, conspiracy theories themselves have often been the trigger for terrorist violence.
Adrian Hänni analyzes the baleful relationship between terrorism and conspiracy theories on the basis of an example out of the Cold War: In the late 1970s, on the basis of “black” propaganda from Western intelligence agencies, journalists spread the thesis that international terrorism represented a Soviet conspiracy against the Western democracies aimed at attaining worldwide communist rule. In the 1980s, politicians in the Reagan Administration and terrorism experts picked up this notion and instrumentalized it to their own ends. This convergence of the value-rational with the goal-instrumental enabled the expansion of the conspiracy theory from the periphery of society to the social mainstream, where it manifested itself as a popular narrative and as a theme for a number of Hollywood films and spy novels.
Christoph Herzog, Bamberg:
Conspiracy Theories as Part of the Mainstream. The Case of Turkey
It is a matter of definition with by no means trifling consequences, where one seeks to locate the center and the periphery of conspiracy theories. Are the conspiracy theories that can be relatively easily recognized as absurd – such as those that harken back to the Protocols of the Elders of Zion— the “representative” normal case for conspiracy theories, while other theories of a less absurd caliber are “atypical,” marginal cases – or is it completely the other way around?
On the basis of examples, the presentation will seek to document the thesis that in the recent history of Turkey, not only conspiracies but also conspiracy theories of both calibers have become an integral part of the established Turkish media landscape and political culture. Building upon this, it will be argued that plausibility – an important, distinguishing characteristic for classifying conspiracy theories – hardly applies as a criterion for decisions under such circumstances. This demonstrates the necessity of a more thorough and fundamental theorization of the conspiracy-theory phenomenon.
Veranstalter
PHIL-BPhilosophenturm
Überblick
(Daniel Schley, München) Daniel Schley, München: Pfade
Überblick
(Daniel Schley, München)
Daniel Schley, München:
Pfade für den Glauben? Zu Vermittlung und Verbreitung religiöser Vorstellungen im Umkreis der Kriegergesellschaft des
13. Jahrhunderts
Stefan Köck, Bochum:
Buddhawerdung durch Einäscherung? – Zu soteriologischen Vorstellungen in
Reliquienkult und Pilgerwesen im Buddhis- mus des japanischen Mittelalters
Steffen Döll, Hamburg:
Pilger, Literat, Aufrührer und Heimkehrer. Japanische Chinareisende des 14. Jahr- hunderts am Beispiel des Sesson Yūbai (1290–1347)
Abstracts (scroll down for english version):
Daniel Schley, München
Pfade für den Glauben? Zu Vermittlung und Verbreitung religiöser Vorstellungen im Umkreis der Kriegergesellschaft des 13. Jahrhunderts
Ende des 12. Jahrhunderts war in Kamakura ein neues politisches Zentrum entstanden, das mit der Zeit gleichfalls zu einem Anziehungspunkt für die religiösen Bewegungen der Zeit wurde. Seit der Konsolidierung des Reichs im 7. Jahrhundert hatten der königliche Hof in Kyōto und die mit diesem assoziierten religiösen Institutionen keinen so einflussreichen wie selbständigen Konkurrenten um Macht und Autorität besessen. Ihre Herrschaftsausübung begründeten die Krieger auf einer der Vasallität des europäischen Mittelalters vergleichbare Bindungen an Gefolgsleute (gokenin 御家人) wie auch eine zunehmend umfangreiche Rechtsprechung. Darin zeichnete sich in vielerlei Hinsicht eine neue Qualität von Herrschaft ab.
Bei aller Verschiedenheit agierte die Kriegerregierung dennoch nicht ganz unabhängig von der überkommenen Ordnung. In politischen aber auch religiösen Belangen knüpften sie an Bewährtes an. Dazu gehören die Einrichtung eines Schreins für die synkretistische Gottheit Hachiman, die Übernahme religiöser Verantwortung seitens der Shōgune, oder die Behandlung von Glaubensfragen in Rechtstexte und didaktischen Lehrschriften. Zugleich suchten Mitglieder der zur selben Zeit entstandenen religiösen Erneuerungsbewegungen die Nähe der Kriegerregierung auf, von der sie sich den ihnen andernorts versagten Zuspruch erhofften. Kamakura entwickelt sich ebenso in ein dynamisches Begegnungsfeld alter und neuer religiöser Praktiken und Lehren.
Welche Kriterien aber lassen sich aus dem Umgang der Krieger mit den damaligen religiösen Herausforderungen feststellen? Welche strukturellen und individuellen Faktoren waren im Fall von Glaubenskonflikten ausschlaggebend, wie beispielsweise zwischen den militärischen Verpflichtungen und dem buddhistischen Tötungsverbot?
Eingeordnet in einen kursorischen Überblick über die abwechslungsreiche religiöse Landschaft im mittelalterlichen Japan geht es im Vortrag um zwei Fallbeispiele, den Anhänger von Hōnens Reinem-Land-Buddhismus Shinzui (gest. 1279) und dem heute bekannteren Nichiren (1222-1282). Beide waren mit ihren Anliegen an die Krieger zu ihrer Zeit erfolglos, was eine gute Gelegenheit bietet, den Gründen für ihr Scheitern nachzuspüren und daraus Einblicke in die religiösen Infrastrukturen zwischen Kyōto und Kamakura zu gewinnen.
Stefan Köck, Bochum
Tore zur Buddhawerdung? – Pilgerstätten als Fokuspunkte soteriologischer Doktrinen im japanischen Mittelalter
Religiöse Infrastrukturen im japanischen Mittelalter sind in hohem Maße beeinflusst durch Erscheinungen, die bereits vor dem Entstehen der Kriegerherrschaft und dem damit einhergehenden Feudalsystems seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert etabliert wurden. Dem Historiker Kuroda Toshio zufolge bildete ein System, in dem sog. exoterische und esoterische buddhistische Schulen in wechselnden Allianzen miteinander um die Vorherrschaft in religiösen Belangen und um politischen Einfluß konkurrierten (kenmitsu-taisei), die religiöse Orthodoxie vom 8. bis ins ausgehende 16. Jahrhundert.
Innerhalb dieses Systems entstand mit der honji-suijaku-Doktrin ein synkretistisches Modell, das es ermöglichte, Erscheinungen buddhistischen und nicht-buddhistischen Ursprungs miteinander zu identifizieren. Pilgerstätten wie Kumano oder Kōya-san sind Beispiele für Orte, an denen dieses Muster greifbar wurde. Dort beheimatete Kulte waren nicht auf Vertreter einzelner buddhistischer Schulen beschränkt, sie gewannen seit dem 13. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung und wurden durch Wanderasketen in Japan popularisiert. Pilger verehrten an den Heiligtümern lokale Gottheiten oder buddhistische Mönche als Erscheinungen buddhistischer Wesenheiten. Dies hatte profunde soteriologische Implikationen: in einer Zeit, die verbreitet von einer pessimistischen Eschatologie geprägt war, wurden diese Kulte als Möglichkeiten verstanden, Buddhawerdung zu erlangen.
Im 13. Jahrhundert neu entstehende buddhistische Bewegungen wie die Reine-Land-Schulen, aber auch Schulen des kami-Glaubens wie der im 15. Jahrhundert entstehende Yoshida-Shintō, mussten sich gegen die kenmitsu-Orthodoxie behaupten und waren bemüht, sich doktrinär von dieser abzusetzen um als eigenständig wahrgenommen zu werden. Inwieweit dies gelingen konnte oder sie sich schließlich doch etablierter Konzepte der religiösen Infrastruktur der kenmitsu-Orthodoxie bedienen mussten, um ihre eigene Position zu stabilisieren, soll in diesem Vortrag ebenfalls thematisiert werden.
Steffen Döll, Hamburg:
Pilger, Literat, Aufrührer und Heimkehrer. Japanische Chinareisende des 14. Jahrhunderts
am Beispiel des Sesson Yūbai (1290–1347)
Den ostasiatischen Raum kennzeichnen im Mittelalter religionsgeschichtliche Migrationsbewegungen von großer Intensität. Schon aus früheren Jahrhunderten lässt sich beobachten, dass japanische Mönche die buddhistischen Zentren des Festlands aufsuchten, um von dort Schriften, Praktiken und Lehrsysteme in ihre Heimat zu verbringen, bzw. dass chinesische und koreanische Meister in Japan ansässig wurden und dort entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung der religiösen Landschaft nahmen. Doch der Austausch im unruhigen 13., insbesondere aber im 14. Jahrhundert scheint eine neue Dimension erreicht zu haben: Uns liegen aus diesem Zeitraum mehrere hundert Biographien von japanischen Chinareisenden und chinesischen Emigranten nach Japan vor, die von der Dynamik des persönlichen ebenso wie institutionellen Austausches zeugen.
Ein in gleichem Maße paradigmatisches wie außergewöhnliches Fallbeispiel stellt die Biographie des Sesson Yūbai (1290–1347) dar. Seine hervorragenden Kenntnisse des Chinesischen in Wort und Schrift und sein enger Kontakt zu den Zirkeln chinesischer Emigranten in Kyoto und Kamakura zeichneten ihn als einen Hoffnungsträger des japanischen Zen-Buddhismus aus. Doch seine Pilgerreise nach China verlief ganz anders als geplant: Als Spion und Aufrührer verdächtigt, wurde er verfolgt, zum Tode verurteilt, begnadigt und schließlich verbannt; die Heimkehr wurde ihm erst nach mehr als zwanzig Jahren im Exil gestattet.
Der Vortrag versucht anhand der Biographie des Yūbai jene physischen, kommunikativen und ideellen Infrastrukturen zu identifizieren, aufgrund derer im japanischen Mittelalter die Option der Pilgerreise aufs Festland ernst und vielfach wahrgenommen wurde. Gleichzeitig wird die vielleicht wichtigste Grundvoraussetzung für diese Form des Austausches umrissen, nämlich die tatsächliche und vorgestellte Verschränktheit des Religiösen mit dem Politischen.
Abstracts (english version):
Daniel Schley, München:
Paths for Faith? On the Dissemination of Religious Beliefs and 13th Century Warrior Rule.
At the end of the 12th century a new political centre had emerged in Kamakura. For the first time since the establishment of the Japanese kingship during the 7th century, the royal court in Kyōto with its affiliated temples and shrine was confronted with an independent competitor for power and authority. In spite of many differences the new warrior government could not act completely outside of long standing infrastructures. Warriors followed court precedents not only in many political but religious matters as well. A part of this continuity can be seen in the building of a temples and shrines in Kamakura, e.g. for the syncretistic deity Hachiman. The shogun as formal head of government took religious responsibility for his dominion similar to the monarchs in Kyōto (tennō) and questions of faith were treated in juridical and didactical writings. At the same time members of religious renewal movements went to Kamakura to gain recognition denied elsewhere. As a result Kamakura developed also into a dynamic rallying point for old and new religious ideas and practices.
The underlying infrastructures for dealing with religious challenges have, however, yet to be investigated thoroughly. A good starting point is to ask for the decisive structural and personal factors in cases of conflicting beliefs and practices. A lurking problem for many warriors was for instance how to console their military engagement with the Buddhist ban on killing living beings.
Following an introductory summary of the wide-ranging medieval religious landscape, I will focus in my paper on two individual cases: the Pure-Land-Buddhist Shinzui (died 1279) and Nichiren (1222-1282). Both of them were not successful with their appeals to the warriors, which provides a good occasion to investigate the reasons for their failure. This analysis shall help to offer new insights into so far neglected infrastructures of faith between Kyōto and Kamakura.
Stefan Köck, Bochum:
Gateways to Buddhahood? – Pilgrimage Sites as Focal Points of Soteriological Doctrines in the Japanese Middle Ages
Religious infrastructures in the Japanese Middle Ages are strongly influenced by phenomena that were established prior to the advent of warrior rule in the 12th century and the accompanying feudal order. According to the historian Kuroda Toshio the religious orthodoxy between the 8th and the 16th century was formed by a system, consisting of so called exoteric and esoteric Buddhist schools (kenmitsu) that formed changing alliances in their struggle for dominance in religious and political affairs.
In the context of this system a syncretistic model, the honji-suijaku-doctrine, emerged by which it was possible to identify phenomena of Buddhist and non-Buddhist origin. Pilgrimage sites like Kumano or Kōya-san serve as examples for places, where this model became manifest. Religious cults linked to these sites were not limited to representatives of individual Buddhist schools, since the 13th century they enjoyed a growing significance and became popularized by wandering ascetics roaming Japan. Pilgrims venerated local deities or Buddhist monks as manifestations of Buddhist beings at the sanctuaries. The implications of these practices were profound: in times strongly marked by a pessimist eschatology these cults were understood as means to achieve buddhahood.
For emerging Buddhist movements like the Pure-Land-Schools in the 13th century but also schools of kami-veneration like Yoshida-Shintō in the 15th century it was necessary to assert their own positions separate from the kenmitsu-orthodoxy in order to be noticed as discrete movements. This talk will also address the question to what extent this was possible or if these movements finally had to fall back on established concepts of religious infrastructure of the kenmitsu-orthodoxy in order to establish their own positions.
Steffen Döll, Hamburg
Pilgrim, Scholar, Agitator, and Repatriate. Sesson Yūbai (1290–1347) Travelling to China during the 14th Century
The religious history of the Middle Ages in East Asian is characterized by exceptional migratory movements. Even during earlier centuries Japanese monks regularly visited Buddhist centers on the mainland in order to gain possession of scriptures, practices, and doctrinal systems to bring along home, while Chinese and Korean masters occasionally settled in Japan where they had decisive influence on the development of the religious landscape. However, a new dimension seems to have been reached by the tumultuous 13th and 14th centuries. Several hundred biographies of Japanese Buddhists travelling to the mainland as well as Chinese emigrants to Japan have been preserved and vividly illustrate the dynamics of personal and institutional exchange.
An equally paradigmatic and extraordinary case of such a biography is the one of Sesson Yūbai (1290–1347). His exceptional skills in the spoken and written Chinese language as well as his involvement in the social circles that revolved around the Chinese emigrant masters in Kyoto and Kamakura gained him recognition as a rising star of Japanese Zen Buddhism. But his pilgrimage to China went drastically awry: Suspected as a spy and insurgent, he was prosecuted, convicted, sentenced to capital punishment, amnestied, and banished to the remote hinterlands. He finally made his way back to Japan only after twenty years in exile.
By examining Yūbais biography, this talk aims at identifying the physical, communicative, and ideological infrastructures that informed the decision of many medieval Japanese monks to brave the perilous roads and waterways to and on the mainland. Special attention will be given to the perhaps most basic premise that rendered pilgrimage an option to be taken seriously in the first place: the factual entanglement between the realms of the religious and the political.
Überblick
(Thorsten Logge, Hamburg, Christoph Hilgert,
Überblick
(Thorsten Logge, Hamburg, Christoph Hilgert, München)
Cord Arendes, Heidelberg: Einführung, Moderation
Thorsten Logge, Hamburg:
Geschichte im Bild: Körperliche Aneig nung von Geschichte im »Battle of Gettysburg«-Panorama in den 1880er Jahren
Christoph Hilgert, München:
Der Reiz der gefühlten Wahrheit. Geschichte(n) erzählen in den Massen medien
Claudia Nickel, Göttingen: Geschichte(n) im Text: Zur Konstruktion von Authentizität in Narrativen zu den französischen Religionskriegen
Angela Siebold, Heidelberg:
Kommentar
Abstract (scroll down for English version):
Repräsentationen von Geschichte im öffentlichen Raum sind zentraler Gegenstand der Public History. Für eine forschungsorientierte Annäherung an diese Repräsentationen schlagen die Sektionsbeiträge Performativität, Medialität und Authentizität als ertragreiche Analysekategorien vor. Geschichte wird immer erzählt. In Geschichte(n) finden Ereignisse und Strukturen ihre narrative Fassung. Ereignisse werden über ihre Erzählung erst greifbar und als solche – in verschiedenen medialen Formen und Modi – verbreitet. Performativität, Medialität und Authentizität sind dabei drei wesentliche Aspekte sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Geschichte(n). Sie zeigen zugleich, dass ein interdisziplinärer Ansatz nötig ist, um diese Thematik produktiv zu bearbeiten.
Public History beschäftigt sich in Deutschland bislang im Wesentlichen mit projektorientierten Lehrangeboten. In theoretischen Fragen rekurriert sie weitgehend auf die anglo-amerikanische Public-History-Forschung oder vergleichbare Traditionen der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik, die mit einigem Recht für sich reklamiert, Public History bereits seit Jahrzehnten zu betreiben. Versteht man Public History als Oberbegriff für anwendungsbezogene Formen öffentlicher Geschichtsdarstellung sowie zugleich auch als deren geschichtswissenschaftliche (Begleit-)Forschung, gelingt es den vorliegenden Ansätzen bisher nicht, alle theoretischen und methodischen Herausforderungen des Feldes zu erfassen und zu systematisieren. Ein geschichtswissenschaftlich orientiertes Public-History-Forschungsprogramm steht weiter aus. Die drei Fallbeispiele der Sektion sind in verschiedenen räumlichen wie zeitlichen Kontexten situiert und nutzen zunächst einen disziplinären Zugriff, um die jeweilige Begriffe zu schärfen. Anschließend wird im Sinne der Interdisziplinarität eine Zusammenführung angestrebt, um zu verdeutlichen, wie Prozesse der Narration von Geschichte funktionieren.
Thorsten Logge, Hamburg:
Geschichte im Bild. Zur körperlichen Aneignung von Geschichte im „Battle of Gettysburg“-Panorama in den 1880er Jahren
Der Vortrag behandelt Panoramen (oder Cycloramen) als populäres Massenmedium des späten 19. Jahrhunderts. Am Beispiel des Gettysburg-Panoramas werden Zugänge zur Performativität von Geschichtsbildproduktionen und die emotional-sinnlichen Dimensionen der Auseinandersetzung mit Geschichte im öffentlichen Raum diskutiert. Die Hypothese, dass Bedeutung erst im Moment des Äußerns oder Aufführens generiert wird, wird dabei verbunden mit einem Verständnis von Geschichtsbewusstsein als spezifische Bedeutungsproduktion, die Vergangenes ausgehend von gegenwärtigen Fragestellungen erzählt. Diese jeweilige Gegenwart der Geschichte lässt sich über die Panoramen zur „Schlacht von Gettysburg“, die seit den 1880er Jahren bis heute öffentlich zugänglich sind, historisieren. Auf diese Weise wird ein Zugriff auf die unterschiedlichen, kontextabhängigen, erzählenden Aneignungen des US-amerikanischen Bürgerkriegs in einem populären, massenmedialen Unterhaltungsformat ermöglicht, das schon in seiner Produktion in großem Maße Wert legte auf eine möglichst realistische, „authentische“ Darstellung der Schlacht von Gettysburg.
Christoph Hilgert, München:
Der Reiz der gefühlten Wahrheit. Geschichte(n) erzählen in den Massenmedien
Der Vortrag betrachtet Massenmedien als bedeutsame Mittler, aber auch eigensinnige Akteure der öffentlichen Aushandlung historischen Wissens. Für sie ist Geschichte vor allem für die Gegenwarts¬deutung sowie als Unterhaltungsangebot von Interesse. Basis ihrer Geschichtsrepräsentationen ist die Reduktion historischer Komplexität mittels zielgruppenspezifischer Narrativierung. Dies geschieht durch die bedarfsgerechte Informationsreduktion und -anreicherung sowie durch die Verwendung emotionalisierender Erzählmodi. Die journalistische Erzählung verknüpft und inszeniert dabei ausge¬wählte materielle und immaterielle „Objekte“ der Geschichte zu einem schlüssigen und sinnstiften-den Deutungszusammenhang. Den einzelnen Bestandteilen dieser Geschichtserzählung kommt dabei der Charakter von „Authentizitätsankern“ zu, welche die historische Wahrheit des Erzählten ver¬bürgen sollen. Der Vortrag untersucht das Arrangement und die Funktion dieser Elemente unter an¬derem am Beispiel der Geschichtserzählungen im crossmedialen Angebot „Die Geschichte des Süd¬westens“ (SWR 2015). Der Beitrag will damit Wege zu einer sach-, fach- und mediengerechten Be¬wertung massenmedialer Geschichtsdarstellungen als Bestandteil der Public History aufzeigen.
Claudia Nickel, Göttingen:
Geschichte(n) im Text: Zur Konstruktion von Authentizität in Narrativen zu den französischen Religionskriegen
In dem Beitrag werden Produkte erzählender Geschichtsdeutung vor der Herausbildung wissenschaftlicher Historiografie untersucht. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage nach der authentischen Darstellung und Vermittlung der Ereignisse am Beispiel von Narrativen zu den französischen Religionskriegen (1562–1598).
Literarische und künstlerische Werke, die historische Ereignisse thematisieren, werden von ihren Rezipienten häufig als authentisch eingeschätzt, wenn sie das Dargestellte für diese auf eine glaubwürdige und wahrhaftige Weise darbieten. Ebenso bemühen sich die Autoren um Authentizität, um den Eindruck der Künstlichkeit ihres Produktes zu minimieren und die Echtheit des Erzählten zu betonen. Authentizität ist demnach Form und Effekt der Produktion sowie der Rezeption einer medialen und künstlerischen Vermittlung beziehungsweise Kommunikation.
An ausgewählten Texten über die französischen Religionskriege, u. a. von Pierre de Ronsard und Théodore Agrippa d’Aubigné, wird untersucht, wie ästhetische Mittel, die sich als „Authentizitätsanker“ bezeichnen lassen, eingesetzt werden, um diese Wirkung zu erreichen und das Erzählte glaubhaft zu machen.
Abstracts (English version):
Representations of history in public spheres are core objects of study in the field of public history. To foster a more research-oriented public history approach, the contributors suggest performativity, mediality and authenticity as fruitful categories of analysis to tackle these representations. History is always narrated. In histories, past events and textures are put in a narrative shape. By this, events become tangible and are distributed in various medial forms and modes. Therefore, performativity, mediality and authenticity are crucial aspects for the production as well as reception of histories. They also indicate the necessity of an interdisciplinary approach for public history research.
In Germany, public history is still largely involved with project-oriented academic programs. When it comes to theory, the evolving field resorts to Anglo-American public history research or comparable traditions of the German didactics of history. Considering public history as both an umbrella term for diverse practical uses and primary and secondary research of the past in public, existing approaches have not yet mastered all the theoretical and methodological challenges of the field: a public history research program anchored in historical studies themselves is still missing. The case studies in this section are situated in different spatial and temporal contexts, and begin by using a disciplinary perspective to define and employ hypotheses and definitions. Following this, the concepts are merged in an interdisciplinary manner to illustrate the process of narrating the past.
Thorsten Logge, Hamburg:
History in the Picture: On the Physical Adoption of History in the „Battle of Gettysburg“ Cyclorama in the 1880s
The paper addresses cycloramas as a popular mass medium in the late 19th century. It develops approaches to the performative emergence of concepts of history and the emotional and sensual dimensions of public uses of the past on the example of the “Battle of Gettysburg” cyclorama. Thereby the hypothesis that meaning is produced in the very moment of its expression and performance will be brought together with an understanding of historical consciousness as a specific production of meaning that narrates the past from current needs and issues. This particular presence of the past can be historicized by using the example of the Gettysburg cycloramas. Having been publicly accessible from the 1880s to today, these cycloramas give access to diverse, context-sensitive, and always narrated uses of Civil War history in a popular mass medium, that was put into practice as an outmost realistic and “authentic” depiction of the Battle of Gettysburg.
Christoph Hilgert, München:
The Allure of the Perceived Truth. Representations of History in Mass Media
The paper examines mass media not only as important transmitters, but also as conscious, deliberate, and intentional co-creators of public historical knowledge. First and foremost mass media are interested in history to explain and to interpret the shape of the present age and as a rich reservoir of entertaining anecdotes. The base for such representations of history is the reduction of its complexity by narrativization. This is usually done by choosing an emotional narration as well as by reducing the amount of details while adding explanatory information, which is considered to be useful for the respective audience. The journalistic story, hence, combines selected material and immaterial “objects” of history, creating a conclusive and comprehensive interpretation of the past. The narrative elements, therefore, serve as “anchors of authenticity”, which are supposed to prove the accuracy and the historical truth of the respective story. The arrangement of such elements will be investigated by referring, for instance, to representations of history in 2015’s cross-media offering „Die Geschichte des Südwestens“ (“The history of the Southwest”) by public service broadcaster SWR. Doing this, appropriate ways of evaluating mass media representations of history as part of public history will be discussed.
Claudia Nickel, Göttingen:
(Hi)stories in Texts: On the Construction of Authenticity in Narratives about the French Wars of Religion
The paper examines products of historical interpretation before the formal emergence of historiography. Its main focus will be the authentic representation and mediation of historical events exemplified by narratives about the French Wars of Religion (1562-1598). Consumers of literary texts and art works that depict historical events as a central theme often consider them to be authentic if the subject is represented in a ‘truthful’ way. Authors also strive for authenticity in order to minimize the impression that their work is artificial and to underline the truthfulness of the content. Authenticity is therefore both form and result of the production and reception of a specific mediative and communicative process. Reading texts about the French Wars of Religion, for example by Pierre de Ronsard or Théodore Agrippa d’Aubigné, this paper analyzes how aesthetic features are used to achieve this effect and to make the narrated content credible.
Überblick
(Philipp Müller, Göttingen) Markus Friedrich, Hamburg: Moderation Indra
Überblick
(Philipp Müller, Göttingen)
Markus Friedrich, Hamburg:
Moderation
Indra Sengupta, London:
Muslim‘ Monuments, Historicism and Heritage-Making in Colonial India
Philipp Müller, Göttingen:
Die geöffneten Archive: Historisches Forschen und Arkanpolitik im 19. Jahrhundert
Achim Landwehr, Düsseldorf:
Tempel temporaler Turbulenzen: Archive und die Materialität der Geschichte
Die Lücke in der Überlieferung, die Trennung zusammenhängenden Materials oder auch der mangelnde Glaube an die Überlieferungswürdigkeit populärer Medien gehören zu den alltäglichen Herausforderungen unseres handwerklichen Geschäfts. Dergleichen Erfahrungen mit dem Material haben ihren Grund in der besonderen Verfertigung der Monumente in der Vergangenheit. Denn was ein historisches Zeugnis ist, welchem Glauben zu schenken ist und ob ein Dokument aufzubewahren ist oder nicht, diese Fragen – wie auch die darauf gegebenen Antworten – sind selbst zutiefst historisch. Rechtliche Begriffe, ästhetische Vorstellungen, zeitgenössische Politiken wie auch administrative Verfahren und nicht zuletzt praktische Probleme haben wesentlich Anteil daran, wie diese Fragen beantwortet werden. Die Sektion richtet den Blick gezielt auf das Generieren von Monumenten – noch ehe diese sich als Geschichte in Texten, Denkmälern und Ordnungen materialisierten. Die untersuchten Prozesse des Überlieferns und Ordnens im Archiv (s. Landwehr), die historische Monumentalisierung religiöser Gebäude im kolonialen Indien (s. Sengupta) und die Öffnung der Archive in Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts (s. Müller) reflektieren historisch-spezifische Verhältnisse von Geschichte und Gesellschaft. Diese Verhältnisse in theoretischer Hinsicht und mit Rücksicht auf die europäische und Globalgeschichte zu diskutieren, hat seinen Grund in der politischen Virulenz des ‚Historischen‘ in Gegenwart und Vergangenheit. Ferner ermöglicht eine über die Grenzen Europas hinausreichende Perspektive die taziten Begriffe der europäischen Geschichtskultur zu reflektieren. Aber eine globalgeschichtliche Perspektive überrascht auch mit Ähnlichkeiten der untersuchten Prozesse, z.B. hinsichtlich der tragenden Rolle des Gesuchs in der politischen Kommunikation mit den Behörden oder bezüglich der Bedeutung ästhetischer Vorstellungen bei der Beurteilung von Authentizität.
Abstracts
Indra Sengupta, London:
Muslim’ monuments, historicism and heritage-making in colonial India
This paper will examine how historical preservation in colonial India became a site for negotiating political sovereignty with a Muslim subject population and for writing British rule into Indian history. The preservation of historic buildings, deemed to be monuments, is commonly understood as a function of modernity, nation-building and renegotiations of the relationship with the past in Europe. In India such renegotiations of the relationship with the past and the consequent meaning of the material remains of the past were mediated by colonialism and what is often described as colonial knowledge practices.
British colonial scholars and officials felt the need to document a history and tradition, threatened by decay and extinction. This applies especially to buildings of Muslim origin, that is, those built by India’s Muslim rulers, the Mughals, whom the British unseated to gain sovereign power over India. These buildings – such as the great forts and palaces of the Mughals – served British rulers as evidence to portray themselves as natural successors of Mughal rule. Hence, colonial officials treated these as structures of great political symbolism and used them to prove the legitimacy of the British in India as natural successors to the Mughal rulers. Thus, following a historicist agenda, great care was taken of these structures. However, this also meant considerable intervention on the part of the colonial state, which made itself exclusively responsible for the care of Indian monuments, in the maintenance of these structures. Such intervention often amounted to greatly intrusive practices and conflicts with local Muslim communities.
Philipp Müller, Göttingen:
Die geöffneten Archive: Historisches Forschen und Arkanpolitik im 19. Jahrhundert
Das Archiv als Ort historischen Arbeitens hat eine eigene Geschichte und kann keineswegs vorausgesetzt werden. Uns heute scheint das „historische Archiv“ selbstverständlich. Jedoch ging die Öffnung der staatlichen Archive im 19. Jahrhundert – angesichts der fortwährend rechtspolitischen und administrativen Relevanz der Archive für die Regierungen – mit arkanpolitische Kontrollen einher (v.a. Auswahl von Material; Zensur der angefertigten Exzerpte und Manuskripte). Dies war für das historische Arbeiten mit Archivmaterialien überaus folgenreich. Das Archiv avancierte einerseits zu einer exklusiven Autorität, die die privilegierten Forscher für sich in Anspruch nahmen. Andererseits war die Archivarbeit hinsichtlich der „Ausbeute“ ein unwägbares Unterfangen; es bedurfte auch anderer Zeugnisse (z.B. mündliche, literarische). Schließlich waren es aber die von den Gesuchstellern initiierten politischen Verhandlungen über die historische Verwendung des Archivschatzes, die die Institution des Archivs entscheidend zu verändern begannen. Diese keineswegs konfliktfreie und reibungslose Dynamik war ein gesellschaftlich-politischer Prozess, denn zum einen schloss die schriftkundige Klientel der geöffneten Archive neben Gelehrten z.B. auch Soldaten, Pfarrer, Lehrer und Aktuare ein. Vor allem aber artikulierte sich in der von den Regierungsbehörden verfolgten Archivpolitik im 19. Jahrhundert ein sich wandelndes Verhältnis zwischen Staat und Individuum.
Achim Landwehr, Düsseldorf:
Tempel temporaler Turbulenzen: Archive und die Materialität der Geschichte
Die primäre Aufgabe des Archivs ist es zunächst nicht für die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses zu sorgen sondern vielmehr zu selektieren: Nur circa fünf Prozent des angelieferten Materials werden als bewahrenswert erachtet; der Rest wird kassiert. Vor einem solchen Hintergrund rücken die Materialitäten in den Mittelpunkt, die sich mit dem Archiv verbinden und die für die Ermöglichung wie den Entzug des Historischen verantwortlich zeichnen. Das Archiv verdient hier deswegen gesonderte Aufmerksamkeit, weil es nicht nur Überlieferungs- und Aufbewahrungsanstalt ist, sondern Konkretisierung einer spezifischen Zeittechnik, die Historisches sowohl hervorbringt als auch aushöhlt. Durch einen Blick auf das Ensemble von Material, Archiv und Geschichte können die gegenseitigen zeitlichen Verschränkungen deutlich gemacht werden, die sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, also zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten ergeben und die das Historische in seiner Spezifik überhaupt erst hervorbringen. Dieses temporale Gefüge geht keineswegs in einer eindeutigen Linearität auf, wie sich gerade anhand des Ereignisses zeigen lässt: Denn jedes Sprechen über ein Ereignis findet nicht immer nur nach dem Ereignis statt, sondern verändert das Ereignis auch – weil das Ereignis nach der Beschreibung nicht mehr das gleiche sein wird wie zuvor. Das Archiv erweist sich somit als ein Tempel temporaler Turbulenzen.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
PHIL-C
Philosophenturm
Überblick
(Julia Hauser, Kassel) Gauri Viswanathan, New
Überblick
(Julia Hauser, Kassel)
Gauri Viswanathan, New York:
Moderation
Judith Große, Zürich:
Cosmopolitanism, Secular Morality, and the Boundaries of Universalism in the Transnational Movement for Sexual Reform in the Interwar Years
Julia Hauser, Kassel:
Between Humanitarianism, Colonial Critique, and Nationalism. British Vegetarians and Hindu Activists in Turn-of- the Century India
Isabel Richter ,
Spiritual Seekers, Pilgrims and Psychonauts. Travelers to India and the Transformation of Religion in the long 1960s
Robert Kramm-Masaoka, Seoul: Radical Utopianism at Tolstoy Farm: Building Communities at the Margins of Global Modernity
Hans-Martin Krämer, Heidelberg:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Vorstellungen von Modernität, lange als westliche Errungenschaft erachtet, waren in der Geschichtswissenschaft bis in die 1990er Jahre hinein eng mit linearen Konzepten von Säkularisierung verbunden. In den letzten Jahrzehnten haben sowohl die Modernisierungs als auch die Säkularisierungsthese grundlegende Kritik erfahren. Modernität, so haben u.a.die theoretischen Beiträge Gurminder Bhambras gezeigt, war das Produkt enger Verflechtungen zwischen Europa und anderen Teilen der Welt. Religion, das haben Talal Asad und andere argumentiert, verschwand keineswegs, sondern lebte in Ideen des Säkularen fort.
Diese Sektion fühlt sich diesen kritischen Perspektiven auf Modernität sowie „das Säkulare“ und „das Religiöse“ verpflichtet, Begriffe, die in den Vorträgen problematisiert und im Hinblick auf ihre Interdependenz beleuchtet werden sollen. Ziel der Sektion ist es, die Verflechtungen zwischen Europa, Indien und Afrika in alternativen Bewegungen und Projekten – Sexualreform, Vegetarismus, Siedlungsprojekten, Jugendbewegungen – im 19. und 20. Jahrhundert zu untersuchen. In diesen Kontexten interagierten einerseits Europäer und Menschen aus anderen Teilen der Welt. Andererseits waren sie Szenarien, in denen Europäer Aspekte außereuropäischer Kulturen und Kulturtechniken aneigneten, wobei sie häufig Werte und Normen ihrer eigenen Gesellschaften hinterfragten. In diesen Bewegungen wurden nicht nur Vorstellungen des Modernen verhandelt. Ihre Anhänger beriefen sich auch auf Werte, die im Dialog oder in Spannung mit dem Religiösen oder dem Spirituellen entstanden.
In unseren Beiträgen zu dieser Sektion werden wir untersuchen, in welcher Weise die spirituelle Dimension bzw. Programme, die im Dialog oder in polemischer Auseinandersetzung mit dem Religiösen entstanden, dazu beitrugen, neue Konzepte von gender, Körper und Gesellschaft zu entwickeln. Gleichzeitig wollen wir herausarbeiten, wie die utopischen Entwürfe alternativer Bewegungen kulturelle Hierarchien – omnipräsente Kategorien in Zeiten des Imperialismus und der Dekolonialisierung – unterminierten oder auch untermauerten. Wie prägten kulturelle Aneignungsprozesse zwischen Europa und der außereuropäischen Welt Glaubensfragen, und welchen Stellenwert nahm hier Religion ein? Wie halfen alternative Bewegungen auf diese Weise, universalistische Konzepte von Menschheit zu legitimieren oder in Frage zu stellen? Dies sind die Leitfragen unserer Sektion. Das Panel findet aufgrund der Besetzung in englischer Sprache statt. Selbstverständlich sind deutschsprachige Beiträge zur Diskussion willkommen.
Julia Hauser, Kassel:
Between Humanitarianism, Colonial Critique, and Nationalism. British Vegetarians and Hindu Activists in Turn-of-the Century India
Dieser Vortrag entsteht aus dem Kontext eines größeren Projekts zur Verflechtungsgeschichte des Vegetarismus im 19. und 20. Jahrhundert. Er nimmt eine Episode in den Blick, die weder in der Geschichte des kolonialen Indiens noch in der sozialer Bewegungen ausreichend Beachtung gefunden hat: die Begegnung zwischen britischen Vegetariern und Hindu-Nationalisten im Indien der Jahrhundertwende. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Wahrnehmung indischer Kultur als eindeutig vegetarischer einen wesentlichen Einfluss auf die entstehende vegetarische Bewegung in Großbritannien. Gegen Ende des Jahrhunderts gründeten einige britische und europäische expatriates vegetarische Vereine im kolonialen Indien – mit der Absicht, den Vegetarismus in seine vermeintliche Ursprungsregion zurückzutragen. Diese Bemühungen waren eng mit der Theosophie verbunden die sich als von “asiatischer” Spiritualität inspirierte neue religiöse Bewegung in den Jahrzehnten zuvor entwickelt hatte, jedoch auch mit dem Sozialismus der Fabian Society, Kolonialkritik und Sozialreform. Interessanterweise fanden diese Initiativen Anklang bei indischen Aktivisten, die nicht nur den Vereinen beitraten, sondern auch Schriften britischer Vegetarier in indische Sprachen, und ihre eigenn Schriften ins Englische übersetzten – obgleich sie dabei von ganz anderen Motivationen geleitet waren als ihre englischen Kooperationspartner. In diesem Vortrag werden die unterschiedlichen Motivationen britischer und indischer Akteure untersucht. Beide Seiten in dieser Begegnung, so wird sich zeigen, verhandelten das Religiöse und das Säkulare, sowie Konzepte des Körpers, des Selbst und der Gesellschaft – all dies zu einer Zeit, als wachsende Teile der indischen Gesellschaft sich vom Vegetarismus abwandten, während andere ihn in zunehmend militanter Weise verteidigten. Was britische Akteure als allgemein humanitäres Anliegen verstanden, war für indische Akteure nicht selten Teil eines immer mehr als exklusionistisch verstandenen Nationalismus.
Judith Große, Zürich:
Kosmopolitismus, säkulare Moral und die Grenzen des Universalismus in der transnationalen Sexualreformbewegung
In diesem Beitrag wird die Weltliga für Sexualreform (1921-1935) untersucht, eine institutionalisierte Plattform der radikalen Sexualreformbewegung, in Hinblick auf ihren kosmopolitischen Anspruch, der sich etwa in der Proklamierung „sexueller Menschenrechte“ manifestierte. Die kosmopolitische Ausrichtung geht auf den deutschjüdischen Sexologen Magnus Hirschfeld zurück, der die Organisation in den 1920er Jahren ins Leben rief. Diese Ausrichtung stand in Zusammenhang mit einem allgemeinen Rückgriff auf den Säkularismus der europäischen Aufklärung innerhalb der Sexualreformbewegung – dementsprechend wurde die „repressive“ christliche Sexualmoral, etwa im Gewand der sogenannten Sittlichkeitsreform, zum Hauptfeind erklärt. Die Grenzen dieses liberalen Kosmopolitismus, v.a. der unterschwellige Eurozentrismus, sollen ausgelotet werden, indem der Rolle des indischen Sexologen und Eugenikers A.P. Pillay in der Weltliga nachgegangen wird. Obwohl er erklärtermaßen Anhänger der „modernen Wissenschaften“ war, führte er seine Vorstellung von Ehereform (im Sinne einer gleichberechtigten, kameradschaftlichen Partnerschaft) auf Prinzipien zurück, die er antiken Sanskritschriften entnahm. Mit seiner Deutung dieser Schriften versuchte Pillay, den Antagonismus zwischen „materialistischer Wissenschaft“ und „spiritueller Religion“ zu überbrücken, der für die europäischen Sexualreformer von so fundamentaler Bedeutung war. Schließlich wird argumentiert, dass sich in der Zwischenkriegszeit trotz des Fortbestehens eurozentrischer Denkmuster einige bemerkenswerte Verschiebungen im Internationalismus der Sexualreformbewegung ergaben. Als Beispiel wird das von Pillay in Bombay lancierte International Journal for Sexology herangezogen, das das Erbe der Weltliga in dem Moment fortführte, als der NS-Terror zum Zusammenbruch der Bewegung in Deutschland und zunehmend dem restlichen Europa führte.
Isabel Richter
Sinnsucher, Pilgerinnen und Psychonauten. Reisende nach Indien und die Transformation von Religion in den langen 1960er Jahren
In meinem Vortrag konzentriere ich mich auf die Frage, warum Indien zum Inbegriff von Freiheit, Selbsterkenntnis und eines ganzheitlichen Lebens in Teilen der Alternativbewegungen und Jugendkulturen in den langen 1960ern wurde. Um zu untersuchen, welche Phänomene die Reisenden in den langen 1960ern aufgriffen und an welche Traditionen sie anknüpften, nehme ich einige Aspekte in den Blick, die Flows und Resonanzen zwischen Westeuropa, Indien und der USA seit dem späten 19. Jahrhundert zeigen, etwa den Einfluss einiger Aspekte aus der indischen Philosophie und Kultur auf die frühe psychoanalytische Bewegung, insbesondere auf C.G.Jung. Das zunehmende Interesse an „östlichen“ Religionen (Hinduismus, Buddhismus) im westeuropäischen Bürgertum kommt insbesondere auch in der Lebensreformbewegung zum Ausdruck und der Entdeckung des Vegetarismus, naturheilkundlicher Verfahren und eines Lebens in freier Natur – Praktiken und Ideale, die auch Emigrant/innen im frühen 20. Jahrhundert vor allem an die US- amerikanische Westküste mitbrachten. Auch die Verbreitung von Yoga in Westeuropa und den USA unterstreicht die Resonanz einer religiösen Praxis aus Indien und die Aneignung als vor allem körperkulturelle Praxis in den USA und Westeuropa im 20. Jahrhundert. Meine Interpretation zeigt, daß Indien unter Teenagern und jungen Erwachsenen in den langen 1960er Jahren ein Revival als spiritueller Sehnsuchtsort, aber auch als Projektionsfläche erlebte. In den schriftlichen Selbstzeugnissen beschreiben Autor/innen sich oft als „Pilger“, aber auch als areligiös und säkular. Die Reisen in das zentrale Reiseziel Indien sind geprägt durch interreligiöse Austauschprozesse, sie bringen ein transkulturell-religiöses Patchwork hervor, das als „Spiritualität“ wieder in „den Westen“ zurückkehrt und kein festgesetztes Set an religiösen Normen und Praktiken mehr voraussetzt.
Robert Kramm-Masaoka, Seoul:
Radikaler Utopismus auf der Tolstoy Farm: Gemeinschaftsbildung an den Rändern der globalen Moderne
Als Beispiel der globalen Verbreitung radikaler utopischer Gemeinschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht Robert Kramm-Masaoka (Seoul/Zürich) im darauf folgenden Vortrag die Tolstoy-Farm bei Johannesburg in Südafrika, die Mohandas Gandhi und Hermann Kallenbach 1910 gründeten. Die Tolstoy-Farm war ein Laboratorium für spirituelle und politische Experimente, um eine neue Subjektivität durch kommunales Leben, kooperatives Arbeiten und Vegetarismus zu entwickeln. Gleichzeitig war das Projekt auch ein Versuchsgelände für anti-kolonialen Widerstand, das ebenso indische Migranten wie Südafrikaner und Europäer mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen anzog. Gandhi und Kallenbach eigneten sich auf der Tolstoy Farm verschiedene utopische Ideale u.a. geprägt durch Leo Tolstoy und John Ruskin an. Diese kombinierten sie mit Versatzstücken religiösen Glaubens (Hinduismus), mit dem Ziel, eine Nische und Vorbild für anti-imperialistische Gemeinschaftsbildung zu schaffen. Von Johannesburg aus unterhielten sie Kontakte zu Tolstoy in Russland und dessen Anhänger in der Whiteway Colony in England sowie auch nach Südindien. Dort traf Gandhi Sri Aurobindo, Mirra Alfassa, aber auch Paul Richard, einen französischen Pastor und anti-imperialistischen/pan-asiatischen Aktivist mit langem Aufenthalt in Japan. Trotz der propagierten Ideale von Harmonie und Emanzipation waren Kommunenprojekte wie die Tolstoy Farm jedoch niemals frei von Machtverhältnissen und Ungleichheiten. Die Tolstoy Farm bietet daher eine Möglichkeit, die Reichweite aber auch Grenzen der Akteure der Globalisierung zu untersuchen, und die Verflechtungen und Intersektionalität der modernen Welt herauszuarbeiten.
Abstracts (English version):
Historians’ notions of “modernity”, long considered a feat of the West, have been tied to ideas of the secular well until the 1990s. In recent decades, not just the concept of modernity, but also the secularization theory, have come under crossfire. Modernity, or so the interventions of Gurminder Bhambra and others have shown, was a product of deep-seated entanglements between Europe and other parts of the world. Religion, as scholars like Talal Asad pointed out, did not vanish from the stage but remained tied in with ideas of the secular.
This panel is indebted to these critical perspectives on “modernity” and the secular vs. the religious, terms the members of this panel will problematize and investigate as to their mutual dependence. It seeks to trace and to examine the entanglements between Europe, India, and Africa in counter-cultural movements in which Europeans and non-Europeans interacted viz. Europeans appropriated aspects of non-European culture, often in order to question the values of their own societies. These movements did not only negotiate notions of the modern. They also drew on values that emerged, sometimes unbeknownst to the actors involved, in conversation or tension with the religious or the spiritual more broadly.
In our contributions to the panel, we will investigate to which extent the spiritual dimension resp. agendas indebted to a dialogue with, or diatribe against, the religious/spiritual, served as a means to develop new concepts of body, gender, and society. By the same token, we will also look at how their utopian visions served to undermine, or underpin, or, at any rate, negotiate notions of cultural hierarchies dominant in an age of nationalism and imperialism. How did cultural appropriations between Europe and the non-European world help shape questions of belief, and which role did religion play in this context? How did they help legitimize or question a universalist notion of humanity? Due to its composition, the panel will take place in English. Contributions to the discussion are equally welcome in German or English.
Julia Hauser, Kassel:
Between Humanitarianism, Colonial Critique, and Nationalism. British Vegetarians and Hindu Activists in Turn-of-the Century India
This paper is part of a larger project on the entangled history of vegetarianism during the nineteenth and twentieth century. It is concerned with an episode little looked at in either the history of colonial India or that of social movements: the encounter between British vegetarians and Hindu nationalists in turn-of-the century India. Since the mid-nineteenth century, perceptions of Indian culture as a thoroughly vegetarian one had had an important influence on the emerging vegetarian movement in Britain. Towards the close of the century, some foreign and British residents in colonial India founded vegetarian associations, thus taking back meat abstention to its alleged origins. These endeavors were closely linked to Theosophy, which had emerged as a „new religion“ inspired by Asian spirituality in preceeding decades, but also to Fabian socialism, imperial critique, and social reform. Interestingly enough, these appropriative initiatives found local collaborators, who did not only join these associations, but even translated writings of British advocates of vegetarianism into Indian languages and their own ones into English – albeit for motivations by no means congruent with those of their British partners. This paper examines the varying motivations of British and Indian actors, both of which were characterized by negotiations of the religious and the secular, as well as the body, the self, and society, at a time when increasing parts of Indian society turned away from vegetarianism, while others defended it in an increasingly militant manner. What British actors interpreted as humanitarian concerns, or so will be argued, was framed as an increasingly exclusive form of nationalism by Indian actors.
Judith Große, Zürich:
Cosmopolitanism, Secular Morality, and the Boundaries of Universalism in the Transnational Movement for Sexual Reform
This contribution examines the World League for Sexual Reform (1921-1935), a network of radical sex reformers, in its cosmopolitan aspirations, as a propagator of universal „sexual human rights“. The cosmopolitan outlook was connected to its founding figure Magnus Hirschfeld, a German sexologist of Jewish descent. It was explicitly grounded in the secular tradition of European enlightenment – the proclaimed enemy of the sex reform movement being the „repressive“ Christian sexual mores, for instance in the form of the so-called social purity movement. The limits of this liberal cosmopolitanism, i.e. its underlying Eurocentrism, shall be addressed by following the traces of Indian sexologist and eugenicist A. P. Pillay in the WLSR. While being a strong advocate of „modern science“, he based his vision of marriage reform (in the sense of an equal, companionate partnership) on principles he derived from Sanskrit scriptures. In his reinterpretation, Pillay sought to reconcile the antagonism between „materialist science“ and „spiritual religion“ which European proponents of sexual reform embraced as a fundamental principle. Finally, the paper argues that despite the persistence of Eurocentric thinking, some significant transformations occurred in this pattern of ‚Western‘ internationalism in the interwar sex reform movement. A significant example is the launch of Pillay’s International Journal for Sexology in Bombay that continued the legacy of the WLSR at a time when Nazi terror disrupted the movement in Central Europe.
Isabel Richter
Spiritual Seekers, Pilgrims and Psychonauts. Travelers to India and the Transformation of Religion in the long 1960s
My paper is a part of a larger research project taking up the historico-cultural thesis of value change and the “life-style revolution” in the long 1960s. It explores the cultural effects of travel and temporary migration to India among the youth of the 1960s and 1970s and the question of the making of a generation through “alternative” travel. The increasing number of autobiographical texts and travel-journals about the 1960s underlines the boom in traveling overland to India since the mid 1960s.
In my paper I will focus on the question why India became the epitome of “freedom”, “self-realization” and a holistic life in the counter and youth cultures of the long 1960s. It seeks to trace entanglements between Western Europe, India and the United States since the late 19th century highlighting the early psychoanalytic movement and the impact of some aspects of Indian philosophy and culture especially on C.G.Jung. The increasing interest in Eastern religions (Hinduism, Buddhism) in the middle classes in Western Europe in the late 19th century also underlines the effects and appropriations in the Lebensreform movement and its discovery of vegetarianism, naturopathy, and an outdoor life – practices and ideals which reached the US American West coast with European emigrants in the early 20th century. The evolution of yoga in Western Europe and the U.S. shows the resonance of an Indian religious practice and the metamorphosis into a predominantly physical body culture in the 20th century in “the West” . Furthermore, I will examine flows between Eastern meditation practices and entanglements with mind-expanding practices in the U.S. and in Western Europe in the 20th century.
My paper shall show that in the long 1960s India experienced a revival as a place of spiritual aspirations and hopes but also as a projection screen among teenagers and young adults. This is remarkable because after the Enlightenment in Western Europe philosophers and writers considered religion to be opposed to liberalization and emancipation; later, religion was also seen as the opposite of modernity in Western Europe. In their written self-narratives, contemporary witnesses usually describe themselves as “pilgrims” and “spiritual seekers” but as areligious and secular, too. This discovery of spirituality was closely linked to the contemporary transformation of religion, as a result of which religious attitudes no longer needed to be tied to religious institutions or fixed sets of religious norms or values.
Robert Kramm-Masaoka, Seoul/Zürich
Radical Utopianism at Tolstoy Farm: Building Communities at the Margins of Global Modernity
This paper examines Tolstoy farm near Johannesburg, South Africa, founded in 1910 by Mohandas Gandhi and his companion Hermann Kallenbach as an example for the astounding global pervasiveness of radical utopian communities in the first half of the twentieth century. It became a laboratory for spiritual, political and nutritional experiments to develop and exercise a new subjectivity through ideals of communal living, co-operative labor, and vegetarianism—and also a testing ground for anti-colonial resistance. It attracted Indian immigrants, South Africans and Europeans with different religious backgrounds. At Tolstoy Farm Gandhi and Kallenbach appropriated utopian ideals of Tolstoy and Ruskin, charged them with religious beliefs (Hinduism), and its amalgam envisioned a niche for anti-imperialist community building. From Johannesburg they not only maintained contacts to Tolstoy in Russia and his disciples in the Whiteway Colony, UK, but also to Southern India, where Gandhi met Sri Aurobindo, Mirra Alfassa and Paul Richard, a French anti-imperial, pan-Asianist pastor who was long time based in Japan. Yet, despite the ideals of harmony and emancipatory, communal projects were never free of asymmetric power relations. Tolstoy Farm thus offers an ideal opportunity to analyze the range—and limits—of actors of globalization, and highlights the connectivity and intersectional boundaries of the modern world.
Überblick
(VHD, Martin Aust, Bonn) Podiumsdiskussion -Ekaterina Makhotina,
Überblick
(VHD, Martin Aust, Bonn)
Podiumsdiskussion
-Ekaterina Makhotina, Bonn
-Ulrich Schmid, St. Gallen
-Martin Aust, Bonn
-Sandra Dahlke, Moskau
Abstract:
Diese Skizze eines roundtables über die Russische Revolution auf dem Historikertag 2016 in Hamburg geht von der Prämisse aus, dass das Format nicht allein Russlandhistoriker adressieren soll. Gefragt sind konzeptionelle Zugänge, die auf Revolutionen anderer Regionen und Zeiten übertragbar sind und damit Historikerinnen und Historiker insgesamt ansprechen. Der skizzierte roundtable diskutiert somit die Spannungsverhältnisse von Forschung und Synthese sowie Erinnerung und Zukunft.
Von den Synthesen der Russischen Revolution anläßlich ihres 100. Jahrestages ist zu erwarten, dass sie die Kluft zwischen den vorliegenden Überblicksdarstellungen und den jüngeren Forschungen der letzten beiden Jahrzehnte füllen. Die Revolutionssynthesen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegeln mehrere Paradigmenwechsel wieder: von der Politikgeschichte (Richard Pipes) über die Sozialgeschichte (Dietrich Geyer, Sheila Fitzpatrick) zur Kulturgeschichte (Orlando Figes) – ihnen allen gemeinsam ist jedoch ein Fokus auf die russischen Zentren Petrograd und Moskau sowie Zentralrussland. Die Forschungen der letzten zwanzig Jahre haben demgegenüber tiefe Einblicke in räumliche Dimensionen eröffnet. Die Geschichte von Regionen, Nationsbildungsprojekten, imperialer Herrschaft und Gewalträumen haben den Kenntnisstand der revolutionären Epoche Russlands von der ersten Revolution 1905 bis in die späten 1920er Jahre wesentlich erweitert. Von neueren Synthesen ist somit zu erwarten, dass sie eine Verknüpfung älterer russozentrischer politik- und sozialgeschichtlicher Narrative mit den Erkenntnissen der Raum- und Gewaltforschung im Maßstab des gesamten Imperiums vornehmen. Schwieriger stellt sich die Aufnahme jüngerer globalgeschichtlicher Ansätze von Revolutionsgeschichte in die Synthesen dar. Hier steht die Forschung noch an einem Anfang, der sich nur partiell synthetisieren läßt.
Parallel ist zu beobachten, dass neben globalgeschichtlichen Ansätze weitere neue Forschungsperspektiven für die Revolutionsgeschichte entworfen werden. Ein Beispiel ist die von Jan Plamper vorgeschlagene Verknüpfung der Revolutionsgeschichte mit der jungen Disziplin der sound studies. Sie verspricht eine Erfahrungsgeschichte der Revolution als Geschichte des Hörbaren. Es fällt in der Tat auf, dass die Geschichtsschreibung die Schilderung akustischer Eindrücke in der Revolutionsmemoiristik bislang nicht zum Thema gemacht hat. Auch die auditive Wirkung der Inszenierung neuer Herrschaftsentwürfe ist bislang nicht untersucht. Die Hörbarkeit der Revolution und die orientierende Wirkung des Gehörten in der Revolution sind somit ein eindringliches Beispiel, wie die Revolutionshistoriographie neue Forschungsperspektiven entwerfen kann.
Auf dem Feld der Revolutionserinnerung ist momentan vollkommen offen, ob der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 eine geschichtspolitische Herausforderung des offiziellen Russlands darstellen wird. Putins Geschichtspolitik hat die selektive Nutzung der älteren ostslavischen, zarischen und sowjetischen Vergangenheiten, wie sie bereits in den 1990er Jahren zu beobachten war, verstärkt. Während beispielsweise die Amtseinführung des Präsidenten 2012 im Moskauer Kreml‘ architektonisch und in Gestalt der Uniformen der Kremlgarde die Zeiten des Petersburger Kaiserreiches aus dem 18. und 19. Jahrhundert evozierte, ruft der Tag des Sieges am 9. Mai stets die heldenhaften Siege der Roten Armee im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg in Erinnerung. Auch die Annexion der Krim 2014 begleitete eine Geschichtspolitik, die umstandslos den Bogen von der Taufe der Rus‘ im 10. Jahrhundert bis hin zur Befreiung der Krim von nationalsozialistischer Besatzung im Zweiten Weltkrieg spannte. Mit der Oktoberrevolution gilt es ein Ereignis zu erinnern, das einen scharfen Bruch zwischen zwei Epochen russischer und sowjetsicher Geschichte darstellt, die bislang gleichermaßen vom aktuellen und offiziellen russischen Geschichtsdiskurs genutzt werden. Das läßt die Erinnerung an die Oktoberrevolution als einen geschichtspolitischen Drahtseilakt erscheinen. Es kann jedoch auch sein, dass dieser Beobachtung eine Kohärenzerwartung zugrundeliegt, die Putin nicht teilt. Interessant ist zumindest, dass das Museum des Ersten Weltkriegs in Puškin die Oktoberrevolution als ein Ereignis schildert, mit dem die Bol’ševiki das vermeintlich tapfer und erfolgreich kämpfende Russland aus dem Weltkrieg herausnahmen.
Das Stichwort Revolution prägt in Russland und der russischen Diaspora zur Zeit jedoch nicht allein den Blick in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. In einem Interview, das per skype in einen Saal russischer Journalisten in Moskau übertragen wurde, äußerte Michail Chodorkovskij im Dezember 2015 die Einschätzung, eine Revolution sei in Russland unausweichlich und notwendig. Garri Kasparov gab die Einschätzung ab, der nächste Umbruch in Russland könne allein ein gewaltsamer sein. Boris Nemcov hingegen hat stets von einer Revolution in Russland abgeraten und sich überzeugt gegeben, in Russland müsse man lange leben, um Veränderungen herbeizuführen und zu erleben. Der allein noch im Internet operierende Fernsehkanal Dožd (Regen) sendet zur Zeit eine Serie Russland nach (Rossija posle). In den bislang ausgestrahlten drei Beiträgen wurden Szenarien von Kontinuität, Wandel und Umbruch von Staat, Territorium und Wirtschaft Russlands diskutiert. Auch die Literatur beteiligt sich an der Erkundung revolutionärer Zukunftsszenarien. In seinem Roman San’kja läßt Zachar Prilepin die Titelfigur am bewaffneten Aufstand einer patriotischen Untergrundgruppe gegen die Staatsgewalt teilhaben. 2016/17 über Russland und Revolution zu sprechen, wendet den Blick somit nicht allein in die Vergangenheit. Für die Geschichtswissenschaft ist es eine spannende Frage, russische Zukunftsdiskussionen dahingehend zu befragen, wie Narrative und Topoi der Revolutionserinnerung sich in das Nachdenken über die Zukunft einschreiben.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal B
Universität Hamburg
Veranstalter
H-Hörsaal BHauptgebäude
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam) Podiumsdiskussion -Frank Bösch, Potsdam -Constantin
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam)
Podiumsdiskussion
-Frank Bösch, Potsdam
-Constantin Goschler, Bochum
-Norbert Frei, Jena
-Axel Schildt, Hamburg
Moderation: Klaus Wiegrefe, Hamburg
Abstract:
Seit den letzten Jahren erforschen zahlreiche Kommissionen die Geschichte der Bundesministerien und anderer Bundesbehörden. Auf die Pionierstudie zum Auswärtigen Amt folgten etwa Kommissionen zum Justiz-, Wirtschafts-, Finanz-, Arbeits- und Innenministerium, ebenso zum BKA, BND und Bundesverfassungsschutz. Sie alle untersuchen, in welcher Beziehung diese Behörden zum Nationalsozialismus standen, sei es während der NS-Zeit, sei es nach 1945. Ebenso entstehen zunehmend Studien zu Landesministerien, Parlamenten oder nachgeordneten Behörden. Andere Bereiche sind dagegen bislang ausgespart; wie das Kanzleramt, der Bundestag oder weitestgehend auch die Behörden der DDR.
Zweifelsohne spricht einiges für derartige Studien: Durch sie werden bisher unzugängliche Archivquellen erschlossen, das Interesse an der NS-Geschichte gestärkt, und auch die Bedeutung der Bürokratie und Techniken politischer Herrschaft geraten so wieder in den Blick. Von staatlicher Seite wird hier Grundlagenforschung finanziert, die die Geschichtswissenschaft bisher nicht eigenständig vornahm. Allerdings sind zugleich die damit verbundenen Probleme unverkennbar: Werden durch die Studien wissenschaftlich relevante Ergebnisse produziert? Oder entstehen eher unverbundene Behördenstudien, die lediglich „Nazis zählen“, methodisch und konzeptionell aber keine neuen Akzente setzen? Bedeutet dies eine Subventionierung von Forschung, die einzelne Wissenschaftler privilegiert? Und wie unabhängig können Historiker arbeiten, die von den jeweiligen Ministerien und Behörden finanziert werden, die sie untersuchen, und auch beim Quellenzugang und der Ergebnissicherung eng mit den Auftraggebern kooperieren?
Die Podiumsdiskussion soll zunächst die bisherigen Ergebnisse und Zugänge dieser Studien und Projekte debattieren und danach fragen, worauf sich der Aufschwung der Aufarbeitungsforschung zurückführen lässt. Zudem dreht sie sich um die Frage, inwieweit sich diese Form der Förderung bewährt hat und wie künftig derartige Forschungen aussehen sollen. Sollen alle Bundesministerien bzw. oberen Bundesbehörden erforscht werden (es sind insgesamt 71) bzw. auf welche Weise ist eine Auswahl zu treffen? Wäre es sinnvoll, künftig nicht mehr einzelne Institutionen zu untersuchen, sondern etwa Querschnittsthemen zu bearbeiten und übergreifende Fragen zu stellen? Wie wäre die Auswahl und die Vergabe für derartige Projekte transparenter zu gestalten? Eine hierzu vorgelegte Bestandsaufnahme, die das Institut für Zeitgeschichte in München-Berlin und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vorgelegt haben, hat dazu Vorschläge gemacht, die ebenfalls zur Diskussion gestellt werden.
Auf dem Podium wird dies aus unterschiedlichen Sichtweisen diskutiert: Leiter von bereits abgeschlossenen größeren Projekten, kleineren Kommissionen und neu gestarteten größeren Forschungsprojekten diskutieren mit der Politik, der Medien und anderen Vertretern der Geschichtswissenschaft.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Maria Framke, Rostock, Andreas Weiß,
Überblick
(Maria Framke, Rostock, Andreas Weiß, Braunschweig)
Benjamin Ziemann, Sheffield:
Moderation
Maria Framke, Rostock:
»Fine work done?«: Humanitäre Hilfe nicht- staatlicher religiöser Akteure während der Partition, 1947–49
Andreas Weiß, Braunschweig:
Christen als Flüchtlinge in den Dekolonisierungskriegen Südostasiens
Patrick Merziger, Leipzig:
Die Entdeckung des „fernen Nächsten“. Kirche und Katastrophenhilfe in der frühen Bundesrepublik Deutschland
Lasse Heerten, Berlin:
Humanitäre Empathie mit »dem Anderen«? Christliche und jüdische Identifikation mit Biafra während des Nigerianischen Bürgerkrieges, 1967–1970
Martin H. Geyer, München:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Maria Framke, Rostock:
‚Fine work done?‘: Humanitäre Hilfe nicht-staatlicher religiöser Akteure während der Partition, 1947-49
Indiens Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft endete 1947 mit der Unabhängigkeit des Subkontinentes, gleichzeitig aber auch mit dessen Teilung. Die Gründung der beiden neuen Nationalstaaten, Pakistan und Indien, ging einher mit massiver kommunaler Gewalt und der Vertreibung von Millionen von Menschen. Obgleich die Mehrheit der indischen humanitären Bemühungen in bewaffneten Konflikten vor 1947 auf internationale Krisen gerichtet war, hatten international ausgerichtete sowie nationale und lokale Organisationen seit den 1920er Jahren ebenfalls den Opfern kommunaler Gewalt in Indien geholfen. Zeitgenössische Quellen legen nahe, dass gemeinschaftsbasierte Hilfsorganisationen Unterstützung vor allem für die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft organisierten. Diese Form selektiver Hilfe, welche man schon in der Zwischenkriegszeit beobachtet hatte, trat nun verstärkt im Zusammenhang mit der Massengewalt der Teilung auf.
Vor diesem Hintergrund analysiert die Präsentation die Reliefarbeit zweier religiös-kultureller Organisationen, die des international agierenden christlichen YMCAs und der hindunationalistische Hindu Mahasabha. Der Beitrag untersucht dabei die Absichten, Ziele und Strategien der beiden Organisationen während der Teilung und nimmt insbesondere ihr Befolgen humanitärer Prinzipien, wie Neutralität, sowie die Auswahl der Hilfsempfänger in den Blick.
Andreas Weiß, Braunschweig:
Christen als Flüchtlinge in den Dekolonisierungskriegen Südostasiens
Die Dekolonisierung in Südostasien war, unter anderem, geprägt von religiösen Auseinandersetzungen. Im Zentrum der Konflikte standen dabei oft christliche Minderheiten, denen vorgeworfen wurde, Handlanger der Imperialmächte gewesen zu sein. Vor den neuen sozialistischen Regimen in ihren Herkunftsländern flohen christlicher Vietnamesen und Burmesen (Karen) vor allem nach Thailand. Ihre besondere Position als Christen und Flüchtlinge wurde hier gelegentlich zum Risiko, denn in Thailand überschnitten sich Proteste der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung gegen ihre eigene Regierung mit gewaltsamen Übergriffen auf die Flüchtlinge. Diese Vermischung von politischen Protesten mit religiösen Ressentiments stellten sowohl für die thailändische Regierung wie buddhistische (nationale wie internationale) Organisationen vor neue Herausforderungen.
Im Mittelpunkt des Vortrages stehen daher buddhistische Organisationen, die sich parallel zu, aber auch in Zusammenarbeit mit den staatlichen Organisationen Thailands und der ASEAN, um christliche Flüchtlinge kümmerten. Der Vortrag geht dabei der Frage nach wie diese Organisationen ihren Glauben, aber auch die Religionszugehörigkeit der Flüchtlinge thematisierten. Auch soll untersucht werden, welche Rolle dies für die humanitäre Unterstützung spielte.
Patrick Merziger, Leipzig:
Die Entdeckung des „fernen Nächsten“. Kirche und Katastrophenhilfe in der frühen Bundesrepublik Deutschland
In Darstellungen kirchlicher humanitärer Hilfe wird gerne betont, dass Kirche schon immer in aller Welt geholfen habe. Die Kirchen Deutschlands engagierten sich aber erst nach 1949 in einer Hilfe für den „fernen Nächsten“, die nicht mehr nach dem Glauben der Empfänger fragte. Erklärungen für dieses neue Engagement wiederholen zwei Motive: Der Glauben habe in den Nachkriegsjahren vielen Menschen einen Halt gegeben und damit auch die Nächstenliebe als Wert verankert. Ebenso wichtig sei gewesen, dass die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von der Hilfsbereitschaft der ehemaligen Feinde tief gerührt waren und nun Hilfe indirekt zurückgeben wollten.
In dem Beitrag wird die Kirche nun nicht als Glaubensgemeinschaft begriffen, sondern als eine Organisation, die trotz des Krieges international weiterhin bestens vernetzt war. Am Beispiel des Evangelischen Hilfswerkes, das eng mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen kooperierte, soll die Frage beantwortet werden, welche Motive und Prozesse zum Aufbau einer Abteilung für Katastrophenhilfe führten. Dabei werden lebensgeschichtliche Kontinuitäten der ersten Helfer über 1945 hinaus in den Blick kommen, es wird dem politischen Antrieb des Hilfswerks nachgegangen, der Einfluss des internationalen Netzwerks untersucht, die organisationale Eigenlogik offen gelegt, die Hilfe gleichsam „nötig“ machte, und schließlich der Anreiz beschrieben, der Hilfe für den Helfer hat.
Lasse Heerten, Berlin:
Humanitäre Empathie mit ‚dem Anderen‘? Christliche und jüdische Identifikation mit Biafra während des Nigerianischen Bürgerkrieges, 1967-1970
In diesem Beitrag werden religiöse Motive in der humanitären Kampagne zugunsten der biafranischen Sezessionisten während des Nigerianischen Bürgerkrieges analysiert. Trotz intensiver Bemühungen Biafras, den Konflikt mithilfe von PR-Agenturen zu internationalisieren, zog der Konflikt während des ersten Kriegsjahres nur wenig internationales Interesse auf sich. Dies änderte sich schlagartig im Sommer 1968, als Journalisten von der Hungersnot berichteten, die in der Sezessionsrepublik ausbrach: ‚Biafra‘ wurde global zum Chiffre für humanitäre Krise, symbolisiert durch die Ikone hungernder Kinder. Eine Schlüsselrolle in der Kampagne kam in Biafra stationierten Missionaren zu, die das Bild eines genozidalen Religionskriegs zwischen einem muslimischen Nordnigeria und einem christlichen Biafra zeichneten. Viele ihrer internationalen Unterstützer sahen in den Biafranern Repräsentanten des Christentums und der westlichen Moderne in Afrika. Zudem wurden die Biafraner, zurückgehend auf Genealogien, die koloniale Ethnologen entworfen hatten, als „Juden Afrikas“ bezeichnet, die zum Opfer eines Genozids, eines afrikanischen ‚Auschwitz‘ zu werden drohten. Um dieses Schreckensszenario zu verhindern beteiligten sich neben christlichen Hilfsorganisationen auch zahlreiche jüdische Organisationen an der humanitären Operation. Die Biafraner wurden so zum gemeinsamen Objekt der selektiven Empathie christlicher und jüdischer Europäer und Amerikaner.
Abstracts (English version):
Maria Framke, Rostock:
‘Fine work done’?: Humanitarian Relief by Non-State Actors and Organizations During the Partition of the Indian Subcontinent, 1947-1949
In 1947, India’s fight against colonial rule came to an end with the independence of British India, but also simultaneously witnessed the partition of the subcontinent. The two independent nation-states, Pakistan and India came into being albeit not without large-scale violence and displacement of millions of people. Before 1947, Indian humanitarian efforts in armed conflicts were mainly directed towards international wars. The internationally linked, and national and local organizations, however, were also involved in comprehensive relief work during communal violence between Hindus and Muslims especially in the 1920s and afterwards. Contemporary historical sources suggest that community based relief organizations became very active in organizing help to their members. This tradition of selective aid, discernible in the interwar period, later became an important way of distributing relief during the Partition days.
Against this background the presentation examines the relief work of two religious-cultural organizations, the South Asian branch of Christian YMCA and the Hindu nationalist organization Hindu Mahasabha. By looking at the two organizations and their relief work during partition, the paper explores their complex aims, objectives and strategies by focusing particularly on the question of neutrality and the nature of the beneficiary.
Andreas Weiß, Braunschweig:
Christians as Refugees During the Decolonisation in Southeast Asia
The decolonisation in Southeast Asia was, among other things, tainted by religious confrontations. In the centre of the conflicts were often were Christian minorities, who were suspected of being collaborators of the imperial powers. Christian Vietnamese and Burmese (Karen) fled from the new socialist regimes in their homelands especially to Thailand. Their special position as Christians and refugees there became a risk when the protests of the Buddhist majority against their own government mixed with violent attacks on the refugees. This blending of political protests with religious resentments raised a new challenge both for the Thai government as well as for Buddhist (national and international) organisations.
Therefore the presentation will focus on Buddhist organisations that cared for Christian refugees independently, but also in cooperation with national Thai organisations and the ASEAN. The presentation asks how these organisations address their own religious beliefs, but also the religious denomination of the refugees. Furthermore it analyses which role these issues played with regard to humanitarian relief?
Patrick Merziger, Leipzig:
Discovering the „Distant Other“. Church and Disaster Relief in the Early Federal Republic of Germany
Accounts of Christian humanitarian aid often stress that churches have always helped people all over the world. For their part, German churches provided aid for the „distant other“ who was not of its faith only after 1949. Explanations for this new commitment cite two related motives: a society deeply unsettled by the experience of National Socialism now leaned on faith; charity thereby gained new importance as a value. At the same time, Germans were grateful for the surprising willingness to help them that emerged after the war, especially on the part of its former enemies; now people wanted to pass back the aid they had experienced.
In this contribution, I conceptualize the church not as a religious community but as an organization that was still well-connected internationally despite the war. Using the example of the Protestant relief organization Evangelisches Hilfswerk, which cooperated closely with the World Council of Churches, I will address the question as to which impulses and processes led to the establishment of a distinguished agency for disaster relief. The biographical trajectories of aid workers beyond 1945 will come into view; the political motives that drove the agency and the impact of the international network will be investigated. I will also scrutinize the intrinsic organizational logic that turned aid into a “necessity” as well as the incentive to offer aid among those who devoted themselves to the “distant other”.
Lasse Heerten, Berlin:
Humanitarian Empathy with the ‚Other‘? Christian and Jewish Identification with Biafra during the Nigerian Civil War, 1967-1970
The paper analyzes religious motives in the humanitarian campaign on behalf of the Biafran secessionists during the Nigerian Civil War. The conflict attracted little interest internationally during its first year, despite Biafra’s intensive efforts to internationalize the conflict with the support of PR agencies. This changed dramatically in the summer of 1968 when journalists started covering the famine that hit the secessionist Republic: ‘Biafra’ became the global synonym for humanitarian crisis, symbolized through the icon of starving children. A key role in the campaign was played by missionaries stationed in Biafra, who sketched the conflict as a genocidal religious war between Muslim Northern Nigeria and Christian Biafra. In effect, many of their international supporters perceived the Biafrans as representatives of Christianity and Western modernity in Africa. Going back to genealogies constructed by colonial ethnologist, they were also labeled as the “Jews of Africa”, threatening to become the victims of an ‘African Auschwitz’. To prevent this horrific scenario, many Jewish organizations participated in the aid operation alongside Christian relief organizations. The Biafrans thus became the object of the joint selective empathy of Christian and Jewish Europeans and Americans.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Gregor Horstkemper, München) Podiumsdiskussion -Christoph Cornelissen, Frankfurt -Gregor Horstkemper, München -Ruth Sindt, Kiel -Helmuth Trischler, München -Eva Schlotheuber, Düsseldorf
Überblick
(Gregor Horstkemper, München)
Podiumsdiskussion
-Christoph Cornelissen, Frankfurt
-Gregor Horstkemper, München
-Ruth Sindt, Kiel
-Helmuth Trischler, München
-Eva Schlotheuber, Düsseldorf
Überblick
(Yvonne Robel, Hamburg, Malte Thießen,
Überblick
(Yvonne Robel, Hamburg, Malte Thießen, Oldenburg)
Jens Gründler, Stuttgart:
Pathologisierungskonflikte. Britische Experten und Verwaltungspraktiker
in der Auseinandersetzung um »mentally defective« und ihre Behandlung
Britta Marie Schenk, Kiel:
Unheilbar wohnungslos? Gesundheitsnormen in europäischen Obdachlosenasylen im späten 19. Jahrhundert
Yvonne Robel, Hamburg:
Pathologisches Nichtstun? Die öffentliche Aufmerksamkeit für »Faule« und »Müßiggänger« zwischen 1900 und 1930
Christoph Lorke, Münster:
Sozialer Deutungsglaube in Demokratie und Diktatur. Armut und Pathologisierungsdispositive nach 1945
Malte Thießen, Oldenburg:
Einführung/Moderation
Abstract (scroll down for English version):
Gesundheitskonzepte sind Gesellschaftskonzepte – und umgekehrt. Seit Beginn der Moderne geht es bei der Ordnung der Gesellschaft um medizinische Fragen. „Gesundes Verhalten“, „gesundes Leben“ oder die „gesunde Gesellschaft“ avancierten zu Leitbegriffen, mit denen soziale Normen und Hierarchien „geordnet“ werden sollten. Ob in der Armuts- und Obdachlosenhilfe, der Mütter- und Jugendfürsorge, der Strafverfolgung oder beim Altern – stets wurde Sozialverhalten mit Gesundheitsnarrativen diagnostiziert, prognostiziert und pathologisiert. Die „gesunde Gesellschaft“ avancierte zur Glaubensfrage, mit der um die Grundsätze sozialer Entwicklungen gestritten wurde.
Diesen Entwicklungen spürt das Panel als „Pathologisierung des Sozialen“ nach. Im Fokus steht die Frage, mit welchen Konzepten und Praktiken „gesundes Verhalten“ im 19. und 20. Jahrhundert popularisiert werden sollte. Diese Spurensuche setzt folglich drei Schwerpunkte: Erstens untersuchen die ReferentInnen, welche Rolle Konzepte der Psychiatrie, Hygiene oder Bakteriologie in der Deutung und Diagnose von „Armut“, „Nichtstun“, „Obdachlosigkeit“ oder „Sittlichkeit“ spielten. Medizinische, psychiatrische und biologische Deutungen machten soziale Entwicklungen sichtbar und behandelbar. Diese Pathologisierungen schlugen sich zweitens in konkreten Praktiken nieder, an denen die Vortragenden Kooperationen und Konflikte zwischen unterschiedlichen Akteuren analysieren. Schließlich etablierten sich seit dem 19. Jahrhundert nicht nur Wissenschaftler, sondern ebenso Ärzte, Beamte, Lehrer oder die Kirchen als „Sozialingenieure“. Diese Konzepte und Praktiken entsprachen verbreiteten Bedürfnissen nach einer „gesunden Gesellschaft“, so dass die Vorträge drittens Popularisierungen und alltägliche Aneignungen der Konzepte und Praktiken untersuchen. Dank dieser drei Schwerpunkte gehen die Vorträge über bisherige „top-down-Modelle“ hinaus und ordnen das Pathologisieren des Sozialen in gesellschaftliche Kontexte ein. Eingebettet werden diese Befunde zudem im europäischen und transnationalen Kontext, um Antworten auf die Frage zu finden, warum die „gesunde Gesellschaft“ in der Moderne zu einer übergreifenden Glaubensfrage geriet.
Jens Gründler, Stuttgart:
Pathologisierungskonflikte. Britische Experten und Verwaltungspraktiker in der Auseinandersetzung um „mentally defective“ und ihre Behandlung
Im Januar 1913 trat der „Mental Deficiency Act“ in England und Wales in Kraft, mit zwei Jahren Verzögerung in leicht veränderter Form in Schottland. Diese Gesetze waren das Ergebnis langjähriger wissenschaftlicher und politischer Debatten darüber, ob der sozialpolitischen Vor-stellung einer „gesunden“ Gesellschaft gegenüber den Rechten von Individuen, z. B. ihrer Unversehrtheit, Vorrang zu gewähren wäre. Der Vortrag spürt der Pathologisierung von Armen und Verbrechern, als „moralisch und geistig verkommenen Subjekten“, die ihre Minderwertigkeit vererbten, nach, die seit den 1850er Jahren rezipiert und durch Wissenschaftler wie Francis Gal-ton popularisiert wurde. Psychiater, Mediziner und Verwaltungsexperten nahmen das eugenische Programm an und knüpften daran konkrete Forderungen, wie mit den Betroffenen umzugehen sei.
Im Fokus des Vortrags steht die „Royal Commission on the Care and Control of the Feeble-Minded“ die auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen eingerichtet wurde. Die Mitglieder befragten an 68 Tagen insgesamt 248 Wissenschaftler, Pädagogen, Mediziner, Praktiker der Armenverwaltung sowie Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Vereinigungen. Das Ziel war eine Bestandsaufnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse und administrativer Praktiken in Bezug auf Personen, die als „psychisch krank“ oder „geistig behindert“ und damit als Gefahr für den Erhalt einer „gesunden“ Gesellschaft galten. Gleichzeitig sollten Vorschläge für Neuerungen oder „Verbesserungen“ gemacht werden. Im Vortrag nehme ich die verschiedenen Positionen der Befragten in den Blick. Die Mehrheit der Experten forderte zwar eine Ausweitung der Pathologisierungen und argumentierten, dass große Teile der Armen und Kriminellen „psychisch und geistig minderwertig“ und entsprechend zu behandeln wären. Allerdings blieben diese Einschätzungen nicht unwidersprochen. Einige Experten, insbesondere Praktiker aus Armenverwaltung und Anstaltsleitung, wiesen das Argument „Degeneriertheit und Minderwertigkeit“ zurück. Letztendlich setzten sich deren Ansichten über den Einfluss von Erziehung und sozialem Umfeld auf Armut und Verbrechen in den politischen Aushandlungsprozessen durch und bestimmten maßgeblich die Gesetzgebung. Im Gegensatz zum Kontinent, so meine These, blieben Pathologisierungen von Armen und Kriminellen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in der britischen Praxis von Armenverwaltung und Psychiatrie weitgehend folgenlos. Im Vortrag wird da-her auch nach unterschiedlichen nationalen Kontexten zu fragen sein, in denen Pathologisierungen auf Resonanz oder Ablehnung stießen.
Britta Marie Schenk, Kiel:
Unheilbar wohnungslos? Gesundheitsnormen in europäischen Obdachlosenasylen des späten 19. Jahrhunderts
In den 1860er Jahren fand im Deutschen Kaiserreich ein Umbruch in der Obdachlosenfürsorge statt. Obdachlosenasyle wurden in Großstädten gegründet, bürgerliche Sozialreformer fungierten als Experten und Praktiker zugleich und begannen mit staatlichen Stellen zu kooperieren. Konfliktreich gestaltete sich fortan das Verhältnis zwischen diesen neuen und den etablierten konfessionellen Wohltätigkeitsakteuren. Ein Bindeglied stellten hingegen Pathologisierungen dar, die auf beiden Seiten en vogue waren und von Hygienestereotypen bis zu eugenischen Deutungen von Obdachlosigkeit reichten. Pathologisierungen, so die These meines Vortrags, fungierten als eine Art Brücke zwischen unterschiedlichen Akteuren. Die Voraussetzungen und Formen dieser Pathologisierungen werden für die verschiedenen Akteure auf drei Ebenen herausgearbeitet: erstens auf der Ebene der konfessionellen und staatlichen Konzeptionen der Obdachlosenfürsorge. Zweitens wird auf der Ebene der Praktiken zum einen analysiert, wie Hygienemaßnahmen den Alltag in Obdachlosenasylen gestalteten. Zum anderen gehe ich der Frage nach, inwiefern die Zuweisung einer Unterkunft von eugenischen Kriterien abhing. Auf der dritten Ebene wer-den diese Pathologisierungen international vergleichend analysiert, um die europäische Dimension des Glaubens an eine gesunde Gesellschaft zu vermessen. In dieser Perspektive auf Pathologisierungen als konsensuale Praktik werden Obdachlose als Objekt der Konzeption einer gesunden Gesellschaft sichtbar, so dass sich das Zusammenwirken von Gesundheitsvorstellungen und sozialer Ungleichheit untersuchen lässt.
Yvonne Robel, Hamburg:
Pathologisches Nichtstun? Die öffentliche Aufmerksamkeit für „Faule“ und „Müßiggänger“ zwischen 1900 und 1930
Als „gesunde Gesellschaft“ galt insbesondere in der europäischen Moderne immer auch eine arbeitsame. „Müßiggang“, „Faulheit“ oder „Arbeitsscheu“ wurden als innere Bedrohung wahr-genommen. Wissenschaftler und Praktiker stellten sie vermehrt als Folgen eines ungesunden Verhaltens oder einer krankhaften Disposition Einzelner dar. Hierbei korrelierten Gesundheits- und Sozialdiskurse auf spezifische Art und Weise. Zwar bedienten sich Pädagogen, Sozialexperten, Politiker oder Journalisten psychologischer und medizinischer Erklärungsmuster, als sie zwischen 1900 und 1930 verstärkt über „selbstverschuldete“ Nichtstuer stritten. Darüber hinaus wurde abweichendes unproduktives Verhalten auch mit Gesundheitsnarrativen problematisiert. Gleichwohl konkurrierten solche Deutungen stets mit anderen und waren bei weitem nicht so konsistent, wie sich zunächst vermuten lässt.
Der Beitrag geht diesen Widersprüchen nach, indem er erstens danach fragt, mit welchen Gesundheitskonzepten einzelne Akteure operierten, die sich für Phänomene der „unproduktiven Faulheit“, des „gemeinschädigenden Müßigganges“ bzw. der „Arbeitsscheu“ interessierten. Die „geistige Gesundheit“ jener Nichtstuer anzuzweifeln war insofern etwas anderes als auf ihre fehlende „moralische Gesundheit“ abzuheben. Daraus leiteten sich zweitens verschiedene An-sichten über die Heilbarkeit abweichenden Verhaltens ab. Besonders in Anbindung an die Pathologisierung des Nichtstuns kursierten verschiedene Ideen über die praktische Behandlung von „Faulheit“ oder „Müßiggang“. Befördert wurden solche Entwürfe durch die seit den 1910er Jahren populäre Charakterologie. Jene pathologisierte Suche nach Ursachen und Therapien, so lässt sich im dritten Schritt zeigen, konkurrierte zwar einerseits mit dem Bild der „unverbesserlichen“, weil „willentlichen“ Nichtstuer, bestärkte es jedoch andererseits auch. Somit trugen die widersprüchlichen Suchbewegungen wesentlich zu einer langlebigen Konstruktion individueller und kollektiver Verantwortlichkeiten für die arbeitssame gesunde Gesellschaft bei.
Christoph Lorke, Münster:
Sozialer Deutungsglaube in Demokratie und Diktatur. Armut und Pathologisierungsdispositive nach 1945
Der Beitrag diskutiert die gesellschaftliche Kommentierung des sozialen „Unten“ im geteilten Deutschland und plädiert dafür, die Vorstellungswelten des Sozialen stärker als bislang auch blockübergreifend zu betrachten. Denn sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR war die Bewertung sozial „abgehängter“ Teile der Bevölkerung wesentlicher Bestandteil sozialer Selbstbeschreibungen. Dazu werden die Regeln und Rituale der Etablierung und Vermittlung sozial-symbolischer Sinndeutungen gegenübergestellt und erörtert, und zwar am Beispiel kinder-reicher Familien. Beim Sprechen über den „unteren gesellschaftlichen Rand“, so meine Ausgangsthese, wurden hier wie dort mit öffentlich-medial zirkulierende Zuschreibungsformen, Wertungen und Charakterisierungen das Label „arm“ geprägt und definiert. Das Sprechen über „Armut“ bewegte sich dabei innerhalb bestimmter Sicherheitsdispositive (Michel Foucault), die wiederum auf Pathologisierungsdispositive verweisen. Diese knüpften in beiden deutschen Staaten (in zu differenzierender Intensität und zu diskutierender Periodisierung) an überkommene soziale Vorstellungswelten an.
Der häufig auszumachende Rückgriff auf normative Beschreibungskonstanten – etwa auf ein „gestörtes“ Verhältnis zur Arbeit, Familie und Gesellschaft, aber auch auf Bildungs-, Kultur- und Moraldefizite – und damit verbundene Popularisierungen des (abweichenden) Sozialen im öffentlichen Raum des jeweiligen „sozialen Glaubensregimes“ beförderte in West- wie Ost-deutschland nicht nur eine auf pathologischen Definitionen beruhende Individualisierung sozialer Randständigkeit. Zudem grenzte sie „unwürdige“ Arme auch in symbolischer Hinsicht zwei-fach ab: von den „verschämten“ Armen einerseits und der „Normalgesellschaft“ andererseits. Die Erwartungen und Annahmen, die in der Bundesrepublik und der DDR mit pathologisch gedeuteten „armen“ Lebensformen verbunden waren, erlauben damit Rückschlüsse auf die Funktion derartiger Sozialdeutungen in modernen Industriegesellschaften.
Abstract (English version):
Concepts of health are concepts of society and vice versa. In modernity, debates on social order are framed by medical knowledge and medical metaphors. Experts tried to promote “healthy behavior”, “healthy life” or the “healthy society” to influence social norms and hierarchies. Health concepts diagnosed, predicted, and pathologised social behavior, for example in institutions of public and youth welfare, in poor relief, in homeless shelters and mental institutions. In short, the “healthy society” advanced general questions on the principles of society.
The papers of the panel analyze these developments as an act of „pathologization of the social“. They study concepts and practices of “healthy behavior” in 19th and 20th century Europe and the way it was popularized. The speakers focus on three aspects: Firstly, they shed light on the influence of medical concepts on diagnoses of poverty, faineance, homelessness, and immorality. Interpretations of misbehavior and misconduct as “genetic defects”, “diseases”, and “illnesses” served as evidence for scientific knowledge and promised to make unwanted social developments visible and treatable. Secondly, the papers take a closer look at the “pathologization of the social” in social and everyday practices that fueled cooperation and conflicts between scientists, doctors, public officers, teachers, or priests. Thirdly, the papers investigate the promotion of “healthy behavior” and the responses of the public. In this perspective, the panel embeds scientific concepts in a deeper social context and questions established “top-down-approaches”. The “Pathologization of the social” is interpreted not just as a discourse of experts, but as a popular and widespread view on society in modern Europe.
Jens Gründler, Stuttgart:
Disputes about Pathologization. British Experts and Administrative Officers in Debate over the “Mentally Defective” and their Proper Handling
The “Mental Deficiency Act” came into effect in January 1913 in England and Wales, two years later a slightly different version in Scotland. These acts were the result of long lasting scientific and political debates on whether there was a supremacy of socio-political visions of a “healthy” society over individual rights or not. This paper traces the ways and methods of pathologising paupers, criminals and other persons labeled socially deviant, as “morally and mentally degenerate individuals”. Those concepts and practices were discussed since the 1850s and scientist as Francis Galton popularized these in the later 19th century. Within the medical, psychiatrical and administrative establishment eugenic interpretations of social evil were welcomed and linked up with demands on how to handle the concerned. The “Royal Commission on the Care and Control of the Feeble-Minded” was installed in 1904 at the height of the debates and discussion over proper care and handling the “degenerate” members of society. The members interviewed 248 scientists, pedagogues, medical men, officers of the poor and prisons as well as members of civic societies. The central aim was to establish actual scientific knowledge and contemporary administrative practice in regard to persons who were either regarded as “mentally ill” or “men-tally defective” and as being a danger for society, especially for a “healthy” society. At the same time the Commission had to gather proposals for the “betterment” of rules and measures.
The paper looks at different positions voiced by the witnesses before the Commission to trace the processes of negotiation. Indeed, the majority of experts demanded to expand concepts of illness on large parts of the poor and criminals. In their view, these groups were mostly “mentally defective” and had to be handled properly, draconic if necessary. These interpretations of social ills, however, were objected. Some experts, especially those working in the administration, repudiated the notion that most of their “clients” were degenerated or defective. They stressed that not nature decided about who became poor or criminal but education, familial security and stability, circumstances in which one was born etc. In the end the latter experts influenced the legislature significantly. In reality, the attempts to pathologise paupers and criminals from the late 19th to the first quarter of the 20th century remained mostly fruitless and without consequences in practice. In stark contrast to developments on the continent, notions of degeneration were rejected in the political arena in Great Britain.
Britta Marie Schenk, Kiel:
Homelessness as Illness. Concepts of „Health“ in European Homeless Shelters During the Late 19th Century
In the 1860’s the provision for the homeless was completely reorganised in Germany. Nightasylums and shelters were established, social reformers served as experts and were committed in institutions and societies caring for the homeless at the same time. These social reformers and public authorities began to work hand in hand. The older, often denominational, agencies and societies caring for the homeless came quickly into conflict with the new, scientifically oriented reformers. In this context pathologising the homeless was one way of bridging the conceptual gaps and pacifying the conflicts between the different parties. The preconditions and implementations for those mutual “Pathologisierungen” will be analysed for several “players” on three levels. On a first level, the paper looks at different concepts of caring for the homeless within denominational and public protagonists. Subsequently it analyses the measures of hygiene that were implemented within night asylums, shelters and hostels, framing everyday life. On a third level the presentation examines forms of pathologising the homeless in other nation states to outline the European dimensions of the “faith in healthy society”. In this respect, understanding “Pathologisierungen” as consensual practices allows us to uncover the homeless as one object of concepts of “healthy societies”. Taking this perspective the collusion of “notions of health” and social inequality can be examined.
Yvonne Robel, Hamburg:
„Doing Nothing” – a Pathological Problem? The Public Interest to “Laziness” and “Idleness” Between 1900 and 1930
The praise of a hard-working mankind became a central idea in modern Europe. Working hard meant to stay healthy, both for individuals and for the society. “Laziness”, “idleness” or “work-shy people” were said to be internal threats and diseases. Increasingly, scientists and practitioners interpreted them as a result of an unhealthy behavior or of a fundamental pathological problem. Therefore, discourses on the social and the medical were deeply intertwined. When educationalists, social experts, politicians and journalists discussed “self-inflicted slackers“, between 1900 and 1930, they referred to medical and psychological concepts as well. Again and again they explained deviant behavior of non-working by speaking about a lack of healthiness. How-ever, these explanations came in conflict with others and weren’t as consistent as one would expect.
The paper discusses these discrepancies by investigating the concepts of “health“ different actors used when they were interested in “unproductive laziness“, “socially destructive idleness“ or “work-shy slackers”. Some of these actors doubted the “mental health” of slackers, others discussed their “moral health”. These different positions were accompanied with changing ideas of recovering. Especially the interpretation of “laziness” and “idleness” as pathological problem meant to invent specific methods of treatment. Particularly theories about the human character, which became popular in German sciences around 1910, played an important role for this invention. The search for reasons and medical treatments to deal with “laziness” and “idleness” got in conflict to ideas of the “self-inflicted” or “incorrigible” slacker on the one hand and con-firmed them on the other hand at the same time. Thus, this inconsistent search significantly contributed to a persistent construction of individual and collective responsibility for a hard-working and healthy society.
Christoph Lorke, Münster:
Social Faith in Democracy and Dictatorship: Poverty and Dispositifs of Pathologization after 1945
The paper focusses on processes of societal commenting of the social “bottom” in divided Germany and pleads for an intensified consideration of social conceptualizations “across the blocs”. The valuation of socially “suspended“ sections have been an essential element of the social self-descriptions in both West and East Germany. Putting families with many children (“Kinderreiche”) in the focus, the presentation seeks to illustrate the rules and rituals of establishing and mediating social-symbolical interpretations. In Western and Eastern Germany, talking about the society’s lower margins and defining the label “poor” were results of publicly and medially circulating attributions, valuations, and characterizations within certain dispositifs of security (“dispositif de sécurité”, Michel Foucault), which in turn refer to dispositifs of pathologization. They followed – in differing intensity and periodization – the traditional social conceptualizations.
Certain normative modes of describing the social – e.g. a “disturbed” attitude towards labour, family and society, and supposed educational, cultural, and moral deficiencies – and given popularizations of (deviant) social behaviour can be observed in the Federal Republic as well as in the GDR. An individualization of social marginalisation, based on pathological definitions and conceptions, supported the symbolical demarcation of the “undeserving poor” in two aspects: on the one hand in contrast to the “deserving poor”, and on the other hand to the “normal society”. While illuminating the social expectations and assumptions, which were associated with pathological “poor” forms of life in divided Germany, one may draw further conclusions regarding the meaning and function of societal interpretations within modern industrial societies.
Überblick
(VHD) Podiumsdiskussion Moderation: Martin Schulze Wessel, München •
Überblick
(VHD)
Podiumsdiskussion
Moderation: Martin Schulze Wessel, München
• Claus Arnold, Mainz
• Gangolf Hübinger, Frankfurt/O.
• Astrid Reuter, Münster
• Monika Wohlrab-Sahr, Leipzig
• Philipp Lenhard, München
Religionsgeschichte wird heute aus verschiedenen disziplinären Perspektiven geschrieben. Die Theologien, die Geschichtswissenschaft und auch die Kultur- und Sozialwissenschaften vermehren auf jeweils spezifische Weise das Wissen über Religion in der Vergangenheit. Dabei unterscheiden sich nicht nur die Theorien und Methoden der verschiedenen Disziplinen, sondern auch die Forschungs- und Debattentraditionen. Welcher Begriff von Religion zugrunde gelegt wird, wie das Verhältnis von Religion und Gesellschaft aufgefasst wird, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Konfessionen und Religionsgemeinschaften in einer Disziplin bevorzugt untersucht werden. Auch die Frage, ob globale, europäische oder regionale Zusammenhänge untersucht werden, hat einen weitreichenden Effekt auf die Epistemologie von Religionsforschung. In dem Panel sollen die Spezifika verschiedener disziplinärer Zugänge zur Geschichte von Religion diskutiert und mögliche Übergänge zwischen verschiedenen Fachtraditionen erörtert werden.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal J
Hauptgebäude
Überblick
(Rolf Brütting, VGD) Waltraud Schreiber, Eichstätt-Ingolstadt:
Überblick
(Rolf Brütting, VGD)
Waltraud Schreiber, Eichstätt-Ingolstadt: Die religiöse Dimension im kompetenzorientierten GU
Michael Wolffsohn, München:
Zur »Normalität« einer belasteten Beziehung: Über die Shoa hinaus: Aspekte jüdischer Geschichte und Alltagskultur im Geschichtsunterricht
Hakki Arslan, Osnabrück:
Der Islam in der Geschichte und im Geschichtsunterricht
Abstract:
„Glaubensfragen“ und der „Umgang mit Religion“ haben in unser säkularisierten Welt plötzlich wieder Konjunktur: Auch wenn manche Lehrpläne „Religion“ nicht einmal als Begriff erwähnen, spielt die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht durch die Epochen und Kulturen hinweg – und nicht erst seit den Ereignissen von 2015 – fraglos eine zentrale Rolle. Während in unserer Sektion der Fokus (beispielhaft) auf drei Weltreligionen gelenkt wird, die alle ihre spezifischen Implikationen und Bedeutungen für unseren Kulturraum haben, wird zu fragen sein, wie wir grundsätzlich mit dem Thema Religion als sinnstiftendes oder legitimierendes Phänomen umgehen sollten. Inwieweit kann/darf/muss die „Dimension Religion“ z.B. eine Kategorie bei der Sach- und Werturteilsfindung im Geschichtsunterricht sein?
Die Sektion will deshalb der Frage nachgehen, inwieweit und an welchen Stellen Religionen, Religiosität und Konfessionalitäten für den Geschichtsunterricht relevant sind. Welche Kompetenzbereiche werden z.B. durch diese Dimension berührt? Gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen? Ganz selbstverständlich bietet sich der Blick auf die Gegenwart an, in der insbesondere die den Nahen Osten verändernden politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der letzten Jahre dazu führen, dass „Religion“ erneut einen höheren Stellenwert in Gesellschaft und Politik einnimmt – bis hin zu einer sich weltweit abzeichnenden Radikalisierung an den extremen Rändern. Darüber hinaus erfordert eine zunehmend multikulturelle Schülerschaft neue Herangehensweisen an religiöse Themen (auch und gerade) im Geschichtsunterricht. Bedingungslose Toleranz und Indifferentismus können weder im Unterricht noch im sozialen Raum helfen, vielmehr muss die Bandbreite dieser religiösen Dimension erkannt und auch in unserer säkularisierten Welt akzeptiert werden. Sie wird durch die Begriffe „Interkulturalität“ und „Identität“ markiert, berührt damit grundsätzliche Problembereiche, auf die Antworten gefunden werden müssen. Exemplarisch sei hier auf das Inhaltsfeld „Was Menschen im Mittelalter voneinander wussten“ verwiesen, in dem das „Neben- und Gegeneinander am Rande des Abendlandes: Christen, Juden und Muslime“ als ein Schwerpunkt genannt wird: Das gemeinsame „interkulturelle“ Zusammenleben der drei Religionsgemeinschaften, etwa in Jerusalem, Süditalien oder Spanien, förderte auf der einen Seite „Identitätsstiftung“, aber eben auch „Stigmatisierung“ der jeweils anderen Religion als das Fremde oder Andere. Gleiches gilt für die Sekundarstufe II, in der lehrplangemäß meist die Kreuzzüge sowie das Osmanische Reich thematisiert werden. Im Fokus stehen hierbei „das Verhältnis von geistlich und weltlicher Macht“, die rechtliche Stellung „religiöser Minderheiten“, „das Verhältnis zwischen christlich und muslimisch geprägten Gesellschaften in ihrer gegenseitigen zeitgenössischen Wahrnehmung“ usw. Die Ordnungsbegriffe ließen sich jedoch auch auf das 19. Jahrhundert übertragen (Kulturkampf) oder auf den Nationalsozialismus und dessen Konsequenzen (Antisemitismus und Shoa).
Es geht bei diesem Vorhaben keinesfalls um eine klandestine „Wiederkehr“ der Religionskunde in den Geschichtsunterricht, sondern um den Kompetenzerwerb unserer Schülerinnen und Schüler im interkulturellen Dialog, in dem eine kritische Auseinandersetzung mit der „religiösen Dimension“ vonnöten ist. Auf diesem Feld ist in der Praxis eine Schieflage erkennbar, die auf wechselseitigem Unwissen, Unverständnis und Vorurteilen beruht. Tatsächlich ist die Kenntnis von Religionen keineswegs nur als „Metaphern-Baukasten“ für die jeweiligen Moral- und Wertevorstellungen der sich begegnenden Kulturen für solide Sach- und Werturteile unabdingbar. Auch die westliche Welt muss sich ihrer Kulturgenese immer wieder vergewissern, um den Zuschreibungen, Wertehorizonten, aber auch Vorurteilen der Migrationskulturen auf Augenhöhe begegnen zu können. Für viele Schülerinnen und Schüler ist das Christentum als eine der geistig-moralischen Grundlagen der westlichen Welt fremd geworden, bisweilen vielleicht sogar fremder als den sich davon abgrenzenden muslimischen Schülerinnen und Schülern.
Berührungsängste gibt es nach wie vor zum Judentum. Hier geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit einem Antisemitismus, der in Deutschland zu welthistorischer Singularität mutierte. Die Aufarbeitung der NS-Geschichte befindet sich in Deutschland inzwischen auf einem akzeptablen Niveau und muss ein zentrales Thema des Geschichtsunterrichts bleiben. Die Veränderung der bundesrepublikanischen Bevölkerung hat indes einen neuen „Antisemitismus“ bzw. „Anti-Israelismus“ hervorgebracht, der quer durch unsere Gesellschaft geht und in Teilen der muslimischen Zuwanderer zu erschreckenden Ausmaßen gefunden hat. Dadurch ist der Nah-Ost-Konflikt teilweise auf unseren Schulhöfen angekommen. Dass diese Situation durch die Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan nicht entschärft werden wird, liegt auf der Hand. Wer wollte angesichts dieser politischen und historischen Situation verneinen, dass unsere Geschichte sowie Gegenwart (noch immer) wirkmächtige religiöse Dimensionen haben?
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
PHIL-D
Philosophenturm
Überblick
(Dirk van Laak, Gießen, Michael Wildt, Berlin, Per Leo, Berlin) Michael Wildt, Berlin: Begrüßung und Moderation -Dirk van Laak, Gießen: Podiumsdiskussion -Per Leo, Berlin -Hazel Rosenstrauch, Berlin -Gustav Seibt, München -Silvia Serena Tschopp, Augsburg
Überblick
(Dirk van Laak, Gießen, Michael Wildt, Berlin, Per Leo, Berlin)
Michael Wildt, Berlin: Begrüßung und Moderation
-Dirk van Laak, Gießen: Podiumsdiskussion
-Per Leo, Berlin
-Hazel Rosenstrauch, Berlin
-Gustav Seibt, München
-Silvia Serena Tschopp, Augsburg
Überblick
(CISH/VHD) Podiumsdiskussion -Jie-Hyun Lim, Seoul -Patrick Manning, Pittsburgh -Matthias Middell, Leipzig -Katja Naumann, Leipzig -Martin Schulze Wessel, München
Überblick
(CISH/VHD)
Podiumsdiskussion
-Jie-Hyun Lim, Seoul
-Patrick Manning, Pittsburgh
-Matthias Middell, Leipzig
-Katja Naumann, Leipzig
-Martin Schulze Wessel, München
Zeit
(Freitag) 15:15 - 17:15
Ort
H-Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Marc Buggeln, Berlin) Gabriele Metzler, Berlin: Moderation Marc
Überblick
(Marc Buggeln, Berlin)
Gabriele Metzler, Berlin:
Moderation
Marc Buggeln, Berlin:
Steuerpolitik zwischen Gerechtigkeit und Effizienz: Umverteilungssemantiken und
-auswirkungen in der Bundesrepublik Deutschland
Winfried Süß, Potsdam:
Der generöse Leviathan. Staatsausgaben zwischen Boom und Krise
Hans-Peter Ullmann, Köln:
Die »Erweiterung des Staatskorridors«. Öffentliche Schulden zwischen Expansion und Konsolidierung
Ralf Ahrens, Potsdam:
Vom Lenkungsinstrument zum »Opium für die Wirtschaft«: Subventionen als haushalts- und strukturpolitisches Problem
Laura Rischbieter, Berlin:
Kommentar: Staat, Wirtschaft und Umverteilung in globaler Perspektive
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
PHIL-G
Philosophenturm
Überblick
(Carola Dietze, Gießen) Carola Dietze, Gießen: Einleitung:
Überblick
(Carola Dietze, Gießen)
Carola Dietze, Gießen:
Einleitung: Konturen einer Geschichte des Rechtsterrorismus in Europa und den USA von 1865 bis heute
Daniel Schmidt, Münster/Gelsenkirchen:
Rechtsterroristische Gewalt im Europa der Zwischenkriegszeit: Italien und Deutschland im Vergleich
Constantin Iordachi, Budapest: Manufacturing Martyrdom: Ideology and Practice of the Fascist Iron Guard in Inter war Romania
Michael Sturm, Münster:
»Taten statt Worte«: Zur Anatomie des Rechtsterrorismus in Europa nach 1945
Christoph Kopke, Berlin:
Kommentar
Abstract (scroll down for English version)
In der sozialwissenschaftlichen sowie auch in der historischen Terrorismusforschung hat der Rechtsterrorismus – anders als der Linksterrorismus und der ethnisch-nationalistische Terrorismus – bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten. Nicht zuletzt angesichts der Gewalttaten der Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) sowie anlässlich der Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Oktoberfestattentat im Jahre 1980 erscheint es jedoch wünschenswert, dass die Geschichtswissenschaft sich der Erforschung des Rechtsterrorismus stärker widmet, um über die Beschäftigung mit einzelnen Gruppen und Gewalttaten hinaus, Kontinuitäten und Veränderungen sowie typische Strukturen und Rezeptionsprozesse aufzuzeigen. Ziel dieser Sektion ist es, anhand der Analyse ausgewählter Fallbeispiele Ansätze zu einer solchen Geschichte des Rechtsterrorismus zu entwickeln.
Abstract (English)
Until recently, right-wing terrorism has received comparatively less attention than forms of left-wing, ethnic-nationalist and religious terrorism; this is true both in the social sciences and in the historical profession. Current events such as the terrorist violence perpetrated by the right-wing group “Nationalsozialistischer Untergrund” around the turn of the millenium and the reopening of the investigation of a right-wing background of the “Oktoberfestattentat“ in 1980 (when a bomb exploded at the main entrance to the Oktoberfest-compound, killing 13 people and injuring more than 200) call on historians to pay more attention to forms of right-wing terrorism. On the basis of studies that deal with different groups and their violent acts we need to frame an analysis of continuities and changes as well as typical structures and reception processes in the history of right-wing terrorism. The aim of this section which focuses on selected cases is to present and discuss a preliminary outline of such a more comprehensive history of right-wing terrorism.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Eva Brugger, Jörn Happel, Basel) Anja
Überblick
(Eva Brugger, Jörn Happel, Basel)
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Währung, Ware, Wunschobjekt. Felle zwischen Markt und Hof im 15. Jahrhundert
Eva Brugger, Basel:
Transatlantisches Begehren.
Biberpelz und die Kolonie New Netherland (1609–1664)
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Biber und Vikuña: Globale Rohstoffe für die europäische Hutproduktion am Beispiel Wiens im 17. und 18. Jahrhundert Jörn Happel, Basel:
Pelzrausch. Sibirien in Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts
Heiner Lang, Bamberg:
Kommentar
Abstracts (scroll down for Englisch version):
Die Sektion „Globaler Rausch. Das Projekt Pelz vom 15. bis in das 19. Jahrhundert“ nimmt das Begehren nach einem globalen Objekt aus der Perspektive einer integrierten Wirtschaftskulturgeschichte in den Blick. Sie verfolgt das Ziel, Pelze als Motor und Antrieb globaler ökonomischer Projekte zu begreifen, die von wirtschaftstheoretischen Modellen wie Angebot und Nachfrage ebenso geprägt sind, wie von sozialen Beziehungen, Affekten und Materialitäten. Als Projekt – im Sinne zeitgenössischer Definitionen, wie sie etwa Daniel Defoe für das späte 17. Jahrhundert liefert – verstanden, sind Pelze vom 15. bis in das 19. Jahrhundert in besonderem Maße dazu geeignet, die Unsicherheiten und Gefahren ökonomischer Investitionen mit dem Versprechen auf Wohlstand und Prestige zu tilgen. Mit diesem Ansatz greift die Sektion zentrale Aspekte der aktuellen methodischen Diskussion auf: Zunächst stellen sich die Beiträge dem Vorwurf der Unvereinbarkeit von wirtschafts-, kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen. Die Ausbildung und Etablierung von (transatlantischen) Handelskompanien wird vielmehr ebenso thematisiert wie die Aushandlungen sozialer Distinktion und religiöser wie kultureller Unterschiede in Reiseberichten, Luxusverordnungen und Kostümbüchern. Die Beiträge greifen Fragen des material turns in den Geschichtswissenschaften auf und untersuchen Pelze auch als globale Objekte, die durch ihre Haptik und Ästhetik ein Begehren hervorbringen, das wiederum die Entstehung von Konsum- wie Luxusgütern, von Second-hand Märkten und Reproduktionen begünstigte. Dem Rausch der Pelze will die Sektion aus global- und verflechtungshistorischer Perspektive nachgehen und damit unterschiedliche, in der disziplinären Forschung meist getrennte regionale Perspektiven miteinander verschränken. Aus interepochaler wie interregionaler Perspektive sollen ökonomische Praktiken und ihre Affekte gleichermaßen in den Blick genommen und nach den historischen Netzwerken, Verbindungen und Handelswegen gefragt werden, die das Begehren nach Pelzen in der Vormoderne begründen und den Rausch antreiben.
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Währung, Ware, Wunschobjekt. Felle zwischen Markt und Hof im 15. Jahrhundert
Im Vortrag wird die Rolle von Fellen (z.B. Eichhörnchen, Zobel, Hermelin) im Handel zwischen der Hanse und anderen Kaufleuten und den europäischen Höfen im Spätmittelalter analysiert. Die Felle werden in ihrer Mehrfachbedeutung als Währung und Ware in ökonomischer Perspektive einerseits sowie als repräsentative Luxusobjekte und Bedeutungsträger in kulturhistorischer Perspektive andererseits untersucht. Fragen nach Ankauf, Transport und Wert(-schätzung) geraten dabei ebenso in den Blick wie die Verwendung der Felle als Kleiderschmuck und Raumausstattung im Schnittfeld von „Masse & Klasse“.
Eva Brugger, Basel:
Transatlantisches Begehren. Biberpelz und die Kolonie New Netherland (1609-1664)
Die Pelzvorkommnisse in nordamerikanischen Gebieten weckten im 17. Jahrhundert das Begehren europäischer Seemächte ebenso wie das von Handelscompanien, einzelnen Händlern und Projektemachern. Die Nachfrage nach Biberpelzhüten, Muffs, Kappen und Mänteln war durch die (west-)europäischen Biberbestände kaum zu befriedigen. Männer wie Frauen in den europäischen Metropolen wie Paris, London oder Amsterdam gierten nach den modischen Kleidungsstücken oder suchten nach Möglichkeiten einer kostengünstigen Reproduktion. Nicht zuletzt um dieses Begehren zu stillen, bemühten sich Engländer, Franzosen und Niederländer während des 16. und 17. Jahrhunderts Handelsstützpunkte mit kolonialen Strukturen in den Gebieten des heutigen Nordamerika und Kanada aufzubauen.
Das Paper schliesst an diese Beobachtung an und nimmt mit der Kolonie New Netherland ein Projekt in den Blick, das maßgeblich auf dem Begehren nach Pelzen fusst. Mit New Amsterdam – dem heutigen New York – steht eine Siedlung im Mittelpunkt, die im 17. Jahrhundert zum zentralen Umschlagsplatz für Pelze wurde. Vom Hafen Fort Amsterdam aus wurde entlang des Hudson Rivers mit den umliegenden nordamerikanischen Kolonien gehandelt. Die unbearbeiteten Felle wurden von hier aus nach Europa zur Verarbeitung oder als Kleidungsstücke nach Asien verschifft. Während sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten mit den so genannten „contact zones“ zwischen Europäern und Indigenen befasst hat, sind die wirtschafs-, kultur- und sozialhistorischen Implikationen des transatlantischen Pelzhandels bislang kaum analysiert. Mit dem Fokus auf die Ware wie die Währung Pelz will das Paper das Begehren nach Pelzen in den Mittelpunkt stellen und die Ausbildung ökonomischer Handelskompanien wie der Westindischen Handelskompanie (WIC) mit wirtschaftlicher Risiken und Versprechen auf Wohlstand verschränken. Ihre Gestalt gewinnt das Begehren in diesem Spannungsfeld bezeichnenderweise nicht zuletzt in Kleidung, die aus Pelz gefertigt oder mit Applikationen versehen, auf den sozialen Status ihrer Besitzer verweist.
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Biber und Vikuña: Globale Rohstoffe für die europäische Hutproduktion am Beispiel Wiens im 17. und 18. Jahrhundert
Der schwarze Biberhut Ludwigs XIV. mit scharlachroten Straußenfedern und Goldborte, abgebildet auf Henri Testelins Gemälde zur Gründung der Académie des Sciences 1666, wurde zum Inbegriff barocker Hutmode. Die europäische Hutproduktion orientierte sich insbesondere im Luxussegment im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an der französischen Mode. Auch Wien, das sich lange dem französischen Modediktat widersetzte, übernahm schließlich den französischen Biberhut als wichtiges Modeaccessoire. Obwohl Biber in Mitteleuropa kein unbekanntes Tierfell war, gab es in Wien keine ausgesprochene Biberhutproduktion. Denn der Biber war in Mitteleuropa längst ausgestorben und musste teuer importiert werden, zunächst aus Russland, ab dem 16. Jahrhundert aber vermehrt aus Kanada. Kaum ein Hutmacher in Wien war in der Lage, die exquisiten Biberhüte nach französischem Vorbild herzustellen, sodass ein Großteil des Adels seine Biberhüte direkt aus Frankreich importieren ließ. Biberfelle und ihre noch teurere Alternative, Vikuña aus den südamerikanischen Anden, zeichneten sich durch eine besondere Fellqualität aus, die dem Hut nach einer Reihe langwieriger und komplexer Verarbeitungsprozesse besondere Robustheit, Steifheit, aber auch Feinheit und Glanz verliehen. Der Vortrag zeigt die Globalisierung der Rohstoffe in der Hutproduktion auf und untersucht am Beispiel Wiens die Auswirkungen dieser Globalisierung auf das lokale Handwerk. Im Zuge des Biberhut-Hypes kam es nämlich zur Ansiedlung von französischen und italienischen Hutmachern in Wien, die das Gefüge des ansässigen Handwerks durcheinanderbrachten.
Jörn Happel, Basel:
Pelzrausch. Sibirien in Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde Sibirien im Zuge zahlreicher wissenschaftlicher Großexpeditionen gründlich erforscht, vermessen, kartographiert, beschrieben. Immer wieder faszinierte die Reisenden der Pelzreichtum des Landes, wenngleich den Gelehrtenvor Ort auch bewusst wurde, dass die Bejagung von Zobeln und weiteren Pelztieren wenig auf Nachhaltigkeit setzte. Zudem kam es aufgrund des Eintreibens der Pelzsteuer (jazak) bei der indigenen Bevölkerung Sibiriens immer wieder zu großen Auseinandersetzungen mit der russischen Verwaltung oder mit russischen Pelzjägern. Der Vortrag konzentriert sich auf die Erfahrung des Pelzlandes Sibirien im 18. und 19. Jahrhundert durch vornehmlich wissenschaftliche Reisende. Es interessiert, wie die russische Verwaltung an die Pelze gelangte, die anschließend über Moskau nach Westeuropa exportiert wurden, und wie Jagd und jazak die Kolonie veränderten und schrittweise durch das Zurückdrängen der einheimischen Völker auch russifizierten. Neben der Faszination für die Schönheit Sibiriens und seiner Pelze spielte in den Reise- und wissenschaftlichen Berichten stets die überall verbreitete Korruption, Gewalt und Misswirtschaft eine Rolle. All dies ist auch ein Teil der letztlich erfolgreichen Eroberung und Erschließung Sibiriens und lässt sich am Umgang mit den Pelztieren im besonderen Maße aufzeigen.
Abstracts (English version):
The panel “Global rush. The project fur from 15th to 19th century” discusses the desire for a global object from a perspective that integrates economic with cultural history. We see fur as an engine and motivation for global economic projects, which are characterized by economic models like supply and demand as well as by social relations, affects and materialities. In terms of a contemporary definition of projects such as Daniel Defoe’s definition from the late 17th century – fur is a particularly suitable example to show how the promise of wealth and prestige leveled uncertainties and risks of economic investments. With this approach the panel picks up central aspects of the current methodological discussion: The papers deal with the accusation of the incompatibility of economic, cultural and socio historical approaches. The development and establishment of (transatlantic) companies will be discussed as well as the negotiation of social distinction and religious and cultural differences in travelogues, sumptuary laws and costume books. The papers pick up questions of the material turn in history: The authors consider fur as global objects that create desire based on their textures and aesthetics. In turn, this desire promotes the development of luxury goods, second-hand markets and replicas. The panel will follow the rush of furs from a global historical perspective. By doing so, the aim is to entangle different regional perspectives that are often separated in disciplinary research. From an inter-epochal and inter-regional point of view the panel takes economic practices and their affects into account and asks for historic networks, connections and trade routes that boosted the global fur rush in Early Modern times.
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Currency, Goods, and Objects of Desire. Furs between Market and Court in 15th-Century Europe
The lecture will consider the role of furs (e.g. of squirrel, sable, ermine) in trade relations between the Hanseatic League, other merchants, and European courts during the later Middle Ages. They will be examined in their multiple meanings from an economic as well as from a cultural point of view: on the one hand they are currency and trading goods on the other they are used as representative luxury objects and cultural symbols. At the intersection of „mass and class“ the use of furs in fashion and room decoration will be analysed as well as questions regarding acquisition, transport and value.
Eva Brugger, Basel:
Transatlantic Desires. Beaver Fur and the Colony New Netherland (1609-1664)
Fur occurrences in North America generated the desire of European naval powers, trading companies, individual merchants and entrepreneurs in Early Modern times. The (West-) European fur resources were not able to meet the demand for beaver hats, fur muffs, caps and coats. Men and women in the European metropolises such as Paris, London and Amsterdam were longing for fashionable clothing or were searching for possibilities to replicate them affordably. Not least to satisfy this desire, merchants and the English, French and Dutch governments sought trading bases with colonial structures in the areas of today`s North America and Canada.
The present paper studies the colony New Netherland, which was mainly founded based on the desire for fur. The colony’s capital New Amsterdam – today`s New York – is the focal point of the paper as it became the main place of fur transshipment in the 17th century. From Fort Amsterdam fur was traded with the surrounding colonies along the Hudson River, raw pelts were shipped to Europe and fur clothing was shipped to Asia. In recent decades research focused mainly on the so-called “contact zones” between Europeans and Indigenes from an economic or cultural historical point of view. The entanglement of economic, cultural and socio historical impact on the transatlantic fur trade is less analyzed until today. By studying fur as both – a product and a currency – I intend to explain the development of trading companies like the West India Company (WIC) with economic risks and the promise on wealth.
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Beaver and Vicuña: Globalized Commodities for the European Hat Production, the Viennese Example in the Seventeenth and Eighteenth Centuries
Louis‘ XIV black beaver hat with scarlet ostrich feathers and a golden border, depicted on Henri Testelins‘ painting on the foundation of the Académie des Sciences in 1666, became exemplary for the baroque hat fashion. The European luxury hat production looked to Paris in the seventeenth and eighteenth centuries. Even Vienna, which resisted much longer than any other German-speaking territory to the French influences in fashion, finally adopted the French beaver hat as important accessory. Although beavers were native in Central Europe, there was no particular beaver hat production in Vienna because long ago, the beaver was extinct in Europe and had to be expensively imported from Russia. Since the sixteenth century France imported increasingly Canadian beaver. Viennese hatters were barely able to make those exquisite French hats. As a consequence, the Viennese nobility had imports made directly from Paris to a large extent. Beaver furs and the even more expensive alternative vicuña from the central Andes in South America were famous for their quality. Robustness, starchiness as well as delicateness and lustre were the features of the beaver hats after a long row of complex processing procedures. This paper explores the globalization of the raw materials in the European hat production and its effects on the local handicraft by taking the example of Vienna. In the course of the beaver hat hype, French and Italian hatters settled in Vienna and gave rise to changes in the fabric of the local handicraft.
Überblick
(Jürgen Martschukat, Erfurt) Barbara Lüthi, Köln,
Überblick
(Jürgen Martschukat, Erfurt)
Barbara Lüthi, Köln, Jürgen Martschukat, Erfurt:
Einführung, Filmvorführung:
Concerning Violence: Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence (Göran Olsson, Schweden/USA/DK/ FIN: 2014)
Andreas Eckert, Berlin:
Postkoloniales Afrika
Barbara Lüthi, Köln: Globale Migration
Jürgen Martschukat, Erfurt:
Afroamerikanische Gewalterfahrungen
Abstract (scroll down for English version):
Wir werden den mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm Concerning Violence: Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence (Schweden: G.H. Olsson, 2014) vorführen und diskutieren. Der Film verarbeitet Frantz Fanons antikoloniale Schrift Die Verdammten dieser Erde (1961), deren erstes Kapitel „Concerning Violence“ (gelesen von der afroamerikanischen Sängerin Lauryn Hill) die Montage historischer Dokumentaraufnahmen im Film rahmt. Im Anschluss an die Filmvorführung werden wir mit dem Publikum diskutieren, inwieweit eine solche Relektüre Fanons den analytischen Blick auf verschiedene globale Gewaltverhältnisse der jüngsten Zeitgeschichte schärfen kann. Als Einstieg in die Diskussion werden drei pointierte Kommentare dienen. Sie werden sich erstens den zeithistorischen Gewaltverhältnissen und Gewalterfahrungen im postkolonialen Afrika (A. Eckert) zuwenden, zweitens der globalen Migration (B. Lüthi) und schließlich der jüngeren afroamerikanischen Geschichte (J. Martschukat) und dabei fragen, inwieweit Fanon im Sinne Olssons einen analytischen Zugang bzw. eine Perspektive auf postkoloniale Gewaltverhältnisse eröffnen kann.
Insbesondere wollen wir uns mit Fanons Beschreibung von kolonialer Gewalt als tragendes Element einer „manichäischen Welt“ auseinandersetzen. Durch die Entmenschlichung der Kolonisierten erscheine koloniale Gewalt gegen sie als legitimiert und notwendig. Der Glaube an ‚rassische’ Differenz sei als gleichsam transzendente Wahrheit etabliert, die Gewalt für die einen (die Kolonisierenden) als adäquates Mittel erscheinen lasse, eine Ordnung der Unterordnung zu schaffen und am Leben zu halten. Gewalt, so Fanon, sei Quelle, Produkt und Motor dieser Ordnung, und sie sei für die koloniale Welt das, was für die Welt der Leibeigenschaft das göttliche Recht gewesen sei. Daher werde Gewalt auch für die anderen (die Kolonisierten) zum ultimativen Versprechen, sich aus diesen herrschenden Gewaltverhältnissen befreien zu können.
Abstract (English version):
The panel will present and discuss the award winning documentary Concerning Violence: Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence (Schweden: G.H. Olsson, 2014). The film revolves around Frantz Fanon’s anti-colonial book The Wretched of the Earth (1961), with its first chapter “Concerning Violence” (read by African American singer Lauryn Hill) framing the montage of original documentary film clips from the anticolonial movement and struggles in Africa. After the film screening we will discuss with the audience in how far this re-reading of Fanon’s can lead to new perspectives on global relations of violence in our most recent history. Three short commentaries will serve as introduction to the discussion. They will address contemporary practices and experiences of violence in postcolonial Africa (A. Eckert), in the context of global migration (B. Lüthi) and of the most recent African American history of violence in the United States (J. Martschukat) in order to probe Fanon’s potential for writing a history of the present.
In particular, we will examine Fanon’s depiction of colonial violence as crucial means of a “Manichean world”. According to Fanon, it is the dehumanization of the colonized that makes colonial violence seem legitimate and necessary. The belief in ‘racial’ difference is established as transcendental truth, with violence appearing as adequate means to create and keep alive a system of oppression and subordination. Violence, says Fanon, is the source, the product and the motor of the colonial world, just like serfdom was for a system of divine right. Therefore, violence also turns into the ultimate promise for the colonized to break free from their oppression.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal A
Hauptgebäude
Überblick
(Rüdiger Graf, Potsdam) Floris Heukelom, Nijmegen: Reassessing
Überblick
(Rüdiger Graf, Potsdam)
Floris Heukelom, Nijmegen:
Reassessing the Kahneman/Tversky Paradigm Shift in the 1970s
Till Grüne-Yanoff, Stockholm:
Boost vs. Nudge – Zur Historisierung zweier Typen der Verhaltensintervention
Rüdiger Graf, Potsdam:
Felder verhaltensökonomischer Forschung und die Praxis ihrer Regulierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Holger Straßheim, Berlin:
»Nudging Ourselves, and Each Other, to Happier Lives«. Der globale Aufstieg von Verhaltensexpertise und -politik
Jakob Tanner, Zürich:
Zunehmende Familienähnlichkeit? Verhaltensökonomie als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft
Abstracts (scroll down for English version)
Floris Heukelom, Nijmegen:
Reassessing the Kahneman/Tversky paradigm shift in the 1970s
Die verhaltenspsychologische Forschung, die unter verschiedenen Namen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, unterschied einen normativen Bereich von einem deskriptiven. In normativer Perspektive lieferten Theorien wie John von Neumanns und Oskar Morgensterns Spieltheorie, Jimmie Savages bayessche Statistik sowie die ökonomische Theorie der Nutzenmaximierung und die mathematische Logik die Regeln, denen jedes rationale Individuum folgen sollte. Zugleich schlossen Psychologen wie Clyde Coombs, Ward Edwards, der junge Amos Tversky und andere aus ihren experimentellen Untersuchungen, dass Individuen sich im Großen und Ganzen rational verhalten.
Dies änderte sich in den 1970er Jahren, als Daniel Kahneman, Amos Tversky und andere zu argumentieren begannen, dass Individuen systematisch und vorhersagbar von diesen Regeln rationalen Verhaltens abweichen. Auf diese Weise beanspruchten Wissenschaftler, an der Spitze der Vernunft zu stehen und wurden zu Beratern, die anderen Menschen erklären konnten, wie sie sich besser verhalten könnten und zwar nicht nur unter den Bedingungen von Stress, sondern in jeder alltäglichen Entscheidungssituation. Warum geschah dies zu diesem Zeitpunkt und in dieser intellektuellen Umgebung? An anderer Stelle (Heukelom 2014) habe ich die Bedeutung von Kahneman und Tverskys Rhetorik und ihrer intuitiv ansprechenden Beispiele herausgearbeitet. In meinem Vortrag werde ich dazu zwei komplementäre Erklärungen anbieten: die stark gestiegene Zahl von Psychologiestudenten und die Absenkung der epistemologischen Standards für die Durchführung von Experimenten.
Laut den Angaben der American Psychological Association stieg die Zahl der Psychologiestudenten in den 1970er Jahren stark an. Oftmals konnten Studenten nun Credits dadurch erwerben, dass sie an Experimenten teilnahmen, die ihre Professoren durchführten. Auf diese Weise wurden die Kosten und der Aufwand für die Durchführung von Experimenten verringert. Darüber hinaus wurden die epistemologischen Standards für Experimente in den 1970er Jahren deutlich gesenkt. In den Experimenten von Savage, Edwards, Luce, Coombs und anderen in den 1950er Jahren mussten die Wahrscheinlichkeiten für die Probanden vollkommen nachvollziehbar sein – zum Beispiel durch tatsächliches Würfeln – und die Belohnungen – wie Geld, Zigaretten oder Süßigkeiten – waren stets real. Seit den 1970er Jahren bildeten Fragebögen, die zwischen Konferenzsektionen ausgefüllt wurden, und hypothetische Belohnungen die empirische Basis für Publikationen in Science oder dem Psychological Review. Beide Elemente, weniger Kontrolle und weniger motivierte Probanden, trugen zur Bestimmung von systematischen und vorhersagbaren Biases durch Kahneman, Tversky und andere bei.
Till Grüne-Yanoff, Stockholm:
Boost vs. Nudge – Zur Historisierung zweier Typen der Verhaltensintervention
Wissenschaftlich fundierte Verhaltensinterventionen nehmen in neuester Zeit einen wichtigen Platz im Regulationsinstrumentarium verschiedener Staaten ein. Allerdings ist weitgehend ungeklärt, ob es sich dabei um einen oder um mehrere verschiedene Typen von Interventionen handelt, was wiederum Implikationen sowohl für die Effektivität als auch für die normative Akzeptabilität ebendieser Interventionen hat. In einem früheren Aufsatz (Grüne-Yanoff & Hertwig 2015) unterscheiden wir zwischen Boosts und Nudges als zwei solcher Typen, und verteidigen diese Unterscheidung gegen die Replik, dass Boosts eine Art von Nudges seien (Sunstein 2015, Bar-Gill & Sunstein 2015). Kurz gefasst, liegt der Unterschied darin, dass Nudges direkt auf Verhaltensoptimierung abzielen, Boosts dagegen längerfristige Verbesserungen von Entscheidungskompetenzen anstreben.
In diesem Beitrag untersuche ich diese Unterscheidung im Kontext der historischen Entwicklung der Verhaltenswissenschaften. Es ist weithin bekannt, dass diese Entwicklung nicht kontinuierlich verlief, sondern wichtige theoretische und begriffliche Brüche aufweist (vergl. z.B. Sent 2005). Insbesondere interessiert mich hierbei der Begriff der Heuristik, welcher, von Simon aus der Informatik in die Psychologie eingeführt, dafür benutzt wurde, zu erklären, wie Menschen in Situationen mit hoher Komplexität oder geringer Informationsdichte Entscheidungen fällen. Meine Hypothese ist, dass die Unterschiede im Begriff der Heuristik z.B. zwischen Simon & Newell und Kahneman & Tversky (hierzu z.B. Chow 2014), einen direkten Einfluss darauf haben, welche Interventionstypen auf menschliches Verhalten (enger gesprochen: Nudges oder Boosts) die jeweiligen Autoren als möglich oder notwendig erachteten. Ich belege diese These zum einen mit Äußerungen dieser Autoren zu den kausalen Mechanismen dieser Heuristiken, welche implizieren, dass nur ein Typ von Intervention erfolgreich seien kann; und zum anderen mit direkten Äußerungen dieser Autoren zu möglichen Interventionstypen. Folglich findet sich der Unterschied von Boosts und Nudges schon in früheren Phasen der Verhaltenswissenschaften – er wurde nur durch die jüngste Prominenz der Nudges überdeckt.
Bar-Gill, Oren and Cass R. Sunstein. 2015. Regulation as Delegation. Journal of Legal Analysis 7(1). DOI: 10.1093/jla/lav005 .
Chow, Sheldon J. (2014): Many Meanings of ‘Heuristic’. The British Journal for the Philosophy of Science: 1-40.
Grüne-Yanoff, Till & Hertwig, R. Nudge versus boost: How coherent are policy and theory? Minds and Machines. Published online 2015; DOI 10.1007/s11023-015-9367-9.
Sent, E.M., 2005. Behavioral economics: how psychology made its (limited) way back into economics. History of Political Economy, 36(4), pp.735-760.
Sunstein, Cass R. (2015). The Ethical State. Cambridge University Press. In press.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Felder verhaltensökonomischer Forschung und die Praxis ihrer Regulierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Der Vortrag untersucht die Ursachen für den Aufschwung der Verhaltensökonomik als akademische Subdisziplin seit den 1980er Jahren, indem er vor allem nach dem Verhältnis von verhaltensökonomischer Theoriebildung und verhaltensregulierender Praxis fragt. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass gerade die Prozesse der Deregulierung und Vermarktlichung einen neuen Regulierungsbedarf erzeugten. Denn anders als Thesen einer „neoliberalen Gouvernementalität“ postulieren, verhielten sich Individuen auf Märkten nicht dem Modell des Homo oeconomicus gemäß. Durch die Beschreibung der Heuristics and Biases, aufgrund derer sich Menschen eben nur begrenzt rational verhielten, versprachen Verhaltensökonomen, dieses Verhalten wieder steuerbar zu machen. Verhaltensökonomik bildete also keine Alternative zu den hypertrophen Kontroll- und Steuerungsfantasien der „Cold War Rationality“, sondern schrieb diese eher unter anderen Vorzeichen fort. Nachdem dies ausgehend von den Anwendungsfeldern, auf denen Verhaltensökonnomen ihre Theorien entwickelten, gezeigt wurde, soll im zweiten Teil des Vortrags gefragt werden, wie neu verhaltensökonomische Regulierungsvorschläge waren. Dabei wird im Gegensatz zu den Ansprüchen von deren Protagonisten auf Neuartigkeit und Innovation argumentiert, dass die Verhaltensökonomik Teil eines wesentlich breiteren Trends war, Regulierungstechniken auf der Basis verhaltenswissenschaftlichen Wissens zu entwickeln.
Holger Straßheim, Berlin:
„Nudging Ourselves, and Each Other, to Happier Lives“. Der globale Aufstieg von Verhaltensexpertise und -politik
In den vergangenen zehn Jahren haben die seit langem bekannten Erkenntnisse der Verhaltensökonomie und -psychologie vermehrt Eingang in politische Entscheidungs- und Steuerungsprozesse gefunden. Regierungen in Großbritannien, den USA, Australien oder Singapur befassen Expertenteams mit der Entwicklung von Verhaltensinterventionen und deren experimenteller Überprüfung. Auf transnationaler Ebene kommt es zur Vernetzung öffentlicher, privater und zivilgesellschaftlicher Organisationen mit dem Ziel, verhaltensökonomisches Wissen zu produzieren und anzuwenden. Durch den weltweiten Einsatz von Experimenten und randomisierten Vergleichsstudien gewinnt die Bewegung zugleich politische und wissenschaftliche Autorität. Während sich die bisherige Forschung intensiv und teilweise kritisch mit ihren normativen Prämissen auseinandergesetzt hat, bleibt die zentrale Frage nach den Gründen und Bedingungen für den globalen Aufstieg der Verhaltensökonomie unbeantwortet. Es fehlen systematisch vergleichende Studien zur inter- und transnationalen Verbreitung und Vernetzung von Verhaltensexpertise und ihrer Übersetzung in politische Regulierungen. Im Vortrag sollen daher die Mechanismen dieses späten Aufstiegs der Verhaltensökonomie als Regulierungslogik untersucht werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei die These, dass die Autorität der Verhaltensökonomie auf einer wechselseitig sich verstärkenden Kombination von Reputationsnetzwerken, experimentellen Praktiken und Semantiken der Rechtfertigung beruht. Der Diskurs des „libertären Paternalismus“ ermöglicht dabei eine Reorganisation zeitlicher Horizonte: Mit seiner Hilfe werden im Rückblick vergangene Krisenerscheinungen als Ergebnis begrenzter Rationalität erklärbar; zugleich liefert er für die Zukunft eine Neubeschreibung des Verhältnisses zwischen Bürgern und Staat. An die Stelle früherer Fortschrittsformeln (Wohlstand, Wachstum) tritt der Begriff des Glücks. Insofern geht es in dem Beitrag sowohl um die soziale wie auch zeitliche Dimension des Wechselverhältnisses zwischen ökonomischen Diskursen und politischen Regulierungslogiken.
Jakob Tanner, Zürich:
Zunehmende Familienähnlichkeit? Verhaltensökonomie als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft
Seit den ausgehenden 1970er Jahren sah sich die moderne Sozialgeschichte durch neue Ansätze herausgefordert. Alltagsgeschichte und Mikrohistorie verschoben den Forschungsfokus von der Analyse großer Strukturen und Prozesse in langen Zeiträumen hin zur Beschreibung von Praktiken, Ritualen und Bedeutungen in begrenzten Untersuchungskontexten. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf Akteure und deren Agency. Die Kategorie des „Eigensinns“ diente dazu, die „Kunst des Widerstandes“ gegen eine wirkungsmächtige Regierungsrationalität zu beschreiben. Die Darstellung von Märkten und Vermarktlichungsprozessen wurde durch das Konzept der „moralische Ökonomie“ erweitert. Im selben Zeitraum wurden die Wirtschaftswissenschaften von einer „stillen Revolution“ im Paradigma des Verhaltens nachhaltig verändert. Mit dem Abrücken vom Einheitsmodell des Homo oeconomicus wurden die bislang dominierenden Entscheidungstheorien und Optimierungsmaximen ausgehebelt. Die Annahme einer „begrenzte Rationalität“ ermöglichte es, kulturelle Prägungen von Handeln und Verhalten zu berücksichtigen. Anomalien, Verhaltensheuristiken sowie kognitive Irrtümer rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Der primär wissenschaftshistorisch argumentierende Vortrag untersucht, ob und wieweit sich eine kognitive Familienähnlichkeit zwischen Verhaltensökonomie und Geschichtswissenschaft feststellen lässt. Gibt es analytische Synergiepotenziale zwischen einem historisch sensitiven Praxisbegriff (bzw. einer Vorstellung von „Gewohnheiten“, wie sie die historische Anthropologie stark macht) und dem Verhaltensbegriff in den Wirtschaftswissenschaften? Gibt es analoge Annahmen über Rationalitäten und Restriktionen menschlicher Agency? Und, falls ja, wie sind diese zu erklären, wenn gleichzeitig weder von intensiver Inter- oder Transdisziplinarität noch von ähnlichen Empiriekonzepten und Erzählstrategien in den beiden Forschungsfeldern ausgegangen werden kann?
Abstracts (English version)
Floris Heukelom, Nijmegen:
Reassessing the Kahneman/Tversky Paradigm Shift in the 1970s
The behavioral psychological research that emerged under various names in the postwar United States distinguished a normative from a descriptive realm in a straightforward manner. Under the normative banner, theories such as John von Neumann’s and Oskar Morgenstern’s game theory, Jimmie Savage’s Bayesian statistics, economists’ utility maximization and mathematicians’ logic provided the rules that every rational individual should follow. In addition, however, psychologists such as Clyde Coombs, Ward Edwards, the young Amos Tversky, and many others, inferred from their experimental investigation in the descriptive domain that individuals indeed are rational, by and large.
This changed in the 1970s, when Daniel Kahneman and Tversky, and others, began to infer that individuals systematically and predictably deviate from these rules of rational behavior. As a consequence, scientists were left to rule supreme at the pinnacle of reason, and effectively became coaches that could teach individuals how to behave more optimally, not just in those rare moments of stress or information overload, but in virtually every decision made throughout the day. The question is: why then and there? Elsewhere, I have pointed to the smart rhetoric of Kahneman and Tversky, and their innovative use of intuitive examples (Heukelom, 2014). In this talk I want to point to two other explanations: the strong rise in the number of psychology students and the lower epistemological standards for conducting experiments.
As indicated by data from the American Psychological Association, the number of psychology students rose sharply during the 1970s. More often than not, psychology students could obtain study credits by participating in experiments set up by their professors. As a result, a huge pool of potential experimental subjects became available, thus reducing the effort and costs of conducting an experiment. Second, for reasons not yet entirely clear at the time of writing, the epistemological standards for conducting experiments in behavioral psychology were substantially lowered during the 1970s. In the 1950s experiments of Savage, Edwards, Luce, Coombs, and others probabilities had to be unambiguously clear to the subject, for instance by actually throwing a dice in front of the subject. Pay-offs had to be real, be it money, cigarettes or candy. Experiments had to be conducted in a room devoid of distractions. From the 1970s onwards, however, questionnaires with hypothetical pay-offs filled out by conference participants in between sessions, were proof enough for such outlets as Science and Psychological Review. Both elements contributed to the finding of systematic and predictable biases by Kahneman, Tversky and others. Less control and using – in all likelihood – less-motivated subjects, more easily led to the conclusion of systematic and predictable biases.
Till Grüne-Yanoff, Stockholm:
Boost vs. Nudge – a Historical Perspective on Two Types of Behavioral Interventions
Evidence-based behavioral interventions have recently become an important policy tool of many governments. However, it remains largely unexplained whether these interventions belong to one or many types – despite that fact that this categorization has important consequences both for the effectiveness as well as the normative acceptability of these interventions. In an earlier article (Grüne-Yanoff & Hertwig 2015), we distinguish between boosts and nudges as two such types, and defend this distinction against the claim that boosts are a kind of nudges (Sunstein 2016, Bar-Gill & Sunstein 2015). In short, the difference is that nudges aim directly at behavior optimization, while boosts seek longer-term improvements of decision-making competences.
In this paper I examine this distinction in the context of the historical development of the behavioral sciences. It is widely acknowledged that this development did not proceed continuously, but went through various theoretical and conceptual ruptures (see, for example, Sent 2005). In particularly, I will focus on the development of the concept of heuristics. Introduced by Herbert Simon from computer science into psychology, it was to explain how people make decisions in situations of high complexity or low informational density. My hypothesis is that the conceptual differences – for example the different notion of heuristics found in Simon & Newell on the one hand and Kahneman & Tversky on the other (cf. Chow 2014) – have a direct influence on what types of intervention on human behavior (especially: nudges or boosts) the authors deemed possible or necessary. I will argue for this thesis firstly with statements these authors made about the causal mechanisms of these heuristics, which imply that only one type of intervention may be effective. Secondly, I will also investigate direct expressions of these authors on possible intervention types. I will conclude that the distinction between boosts and nudges can be detected already in this earlier phase of the behavioral sciences – it has just been concealed by the recent prominence of the nudge approach.
Bar-Gill, Oren and Cass R. Sunstein. 2015. Regulation as delegation. Journal of Legal Analysis 7 (1). DOI: 10.1093 / jla / lav005
Chow, Sheldon J. (2014): Many Meanings of ‚Heuristic‘. The British Journal for the Philosophy of Science: 1-40.
Grüne-Yanoff, Till & Hertwig, R. Nudge versus boost: how coherent are policy and theory? Minds and Machines. Published online 2015; DOI 10.1007 / s11023-015-9367-9.
Sent, E. M., 2005. Behavioral economics: how psychology made its (limited) way back into economics. History of Political Economy, 36 (4), pp.735-760.
Sunstein, Cass R. (2016). The Ethical State. Cambridge University Press. In press.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Fields of Behavioral Economics and the Practice of Their Regulation in the Last Third of the 20th Century
The paper scrutinizes the causes of the rise of behavioral economics as an academic sub-discipline since the 1980s, concentrating mainly on the relationship between the development of behavioral economic theories and the practices of regulating behavior. It starts with the hypothesis that the processes of deregulation and marketization caused a new demand for the regulation of behavior. Contrary to the conceptions of a “neoliberal governmentality”, on markets individuals did not act according to the standards set by the model of the homo economicus. Describing the heuristics and biases because of which people behaved only as boundedly rational actors, behavioral economists promised to make this behavior governable. Behavioral economics, thus, was no alternative to the control fantasies of a “Cold War rationality”, but rather their advancement under new circumstances. Having established this, drawing on the empirical fields in which behavioral economists developed their theories, the second part of the paper will try to assess how innovative the suggestions for regulation were that behavioral economists out forward. In contrast to the protagonists’ claims to novelty and innovation, I will argue that behavioral economics was part of a broader trend to base techniques of regulation on knowledge that the behavioral sciences offered.
Holger Straßheim, Berlin:
„Nudging Ourselves, and Each Other, to Happier Lives“. The Global Rise of Behavioural Expertise and Politics
Over the past decade, we can observe the global spread of behavioural change approaches in public policy. Behavioural teams and ‘nudging’ networks such as the Behavioural Insights Team in the UK or the “iNudgeyou” network in Denmark have been established in order to facilitate the application and dissemination of findings from behavioural economics, behavioural science, neurosciences and psychology across different areas of public policy. Behavioural instruments have been applied to diverse policy areas such as consumer protection, food safety, climate change, employment, health, pensions, charitable giving or crime prevention. So far, only few studies focus on the inter- and transnational spread of behavioural governance. Covering diverse policy areas, the paper presents first assumptions about the global rise and the regulatory influence of behavioural expertise. It is being argued that behavioural experts are able to combine both political as well as epistemic authority. Behavioural expertise gains regulatory power by (1) spreading and institutionalizing networks of behavioural expertise, (2) by combining experimental evidence and political practicability in randomized control trials and (3) by mobilizing a discourse on ‘libertarian paternalism’. Earlier indicators of progress in terms of growth or welfare are at least partly replaced by measurements of ‘happiness’. This discourse realigns the temporal horizons of policy making by providing an explanation for failures in the past and by reimagining the relationship between citizens and the state for the future. The paper thus analyzes both the social and temporal dimension of the global rise of behavioural expertise and politics.
Jakob Tanner, Zürich:
Increasing Family Resemblance? Behavioral Economics as a Challenge for History
Since the late 1970s, modern social history was challenged by new approaches. The history of everyday life and micro-history moved the research focus away from the analysis of big structures and processes in a longue durée towards the description of practices, rituals, and meanings in narrower contexts. The focus riveted on actors and their agency. The category of Eigensinn (strong-mindedness or self-will) was used to describe the forms of resistance against governmental rationality. The concept of a moral economy changed the perception of markets and economic competition. In about the same period, the economic sciences were seized by a silent revolution under the paradigm of behavior. The rollback of the standard model of the homo economicus was accompanied by the decline of formerly dominating choice-theories and maximization theorems. The assumption that human behavior was shaped by a bounded rationality urged to take into account different cultural conditions of human action. Anomalies, heuristics, and biases moved into the centre of the analytical attention.
The paper, which will argue primarily from a history of science perspective, raises the question of whether there is a family resemblance between behavioral economics and the historical sciences or not. Are there cognitive synergies between a historically sensitive concept of practices (or habits, as used in historical anthropology) and the notion of behavior in economics? Are there analogies in the assumptions that practices (or behavior) are both boundedly rational and restricted? And, if so, how can this be explained, if we take into consideration that there was nearly no interdisciplinarity and the concepts of empirical research and narrative strategies diverged widely in the two fields of research?
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Hans-Werner Goetz, Hamburg) Hans-Werner Goetz, Hamburg:
Überblick
(Hans-Werner Goetz, Hamburg)
Hans-Werner Goetz, Hamburg: Glaubenskriege? Die Kriege der Christen gegen Andersgläubige in der mittelalterlichen Wahrnehmung
Wolfram Drews, Münster:
»Glaubenskriege« Karls des Großen? Die fränkische Auseinandersetzung mit Sachsen und mit spanischen Muslimen
Nikolas Jaspert, Heidelberg:
Kreuzzüge und »Reconquista« im 12. Jahrhundert: die Grenzen des Glaubenskriegs
Almut Höfert, Zürich:
Heilige und heiliger Krieg
Abstracts (scroll down for English version):
Im abendländischen Mittelalter, das gern als „Zeitalter des Glaubens“ bezeichnet wird, wirken Religion und Kirche nicht nur in alle Lebensbereiche hinein, sondern der christliche Glaube wird unstrittig auch zur Legitimation von Kriegen gegen Andersgläubige, gegen Muslime ebenso wie gegen Häretiker und Heiden, benutzt, die entsprechend immer wieder als gezielte Glaubenskriege gedeutet werden. Diesbezügliche Forschungen zum ‚Heiligen Krieg‘, zum Verhältnis des Klerus zum Krieg oder zur Anwendung christlicher Riten in Krieg und Heerwesen untermauern das, auch wenn Begriffe wie „Heiliger Krieg“ bekanntermaßen nicht mittelalterlich sind: Gewalt im Namen der Religion ist auch nach jüngsten Forschungen ein Kennzeichen des Zeitalters. Andererseits nehmen Neuzeithistoriker durch den Glauben begründete „Religionskriege“ erst für die Frühe Neuzeit in Anspruch. In jüngster Zeit sind auch in der Mediävistik Zweifel an einer einseitigen Deutung laut geworden, da sie weder einem mehrschichtigen mittelalterlichen Denken noch der zeitspezifischen Religiosität des Mittelalters voll gerecht werden kann, die ‚Profanes‘ und ‚Sakrales‘ meist zwanglos miteinander zu vereinbaren wusste. Die sogenannten Glaubenskriege wurden von politischen und militärischen, sozialen, wirtschaftlichen und auch demographischen Motiven überlagert oder gar bestimmt. Die berechtigte Skepsis gegenüber den älteren, gewiss einseitigen Thesen hat aber nicht zwingend zur Folge, dass religiöse Kriegsmotive keinerlei Rolle spielten oder der Glaube nur als Vorwand benutzt wurde, wie ein säkularisiertes, modernes Denken meinen könnte. Vielmehr ist − und das soll in dieser Sektion an exemplarischen Beispielen geschehen − die Rolle des Glaubens in der Ideologie ebenso wie in der praktischen Umsetzung in Relation zu anderen wirksamen Motiven zu betrachten und im Verhältnis von mittelalterlicher Wahrnehmung und faktischer Realität zu bewerten. Im Ergebnis sind, zugleich als Beitrag zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft im Mittelalter, ein differenzierteres Bild des Mittelalters und eine realistischere Einschätzung der ‚Glaubenskriege’ zu erwarten.
Hans-Werner Goetz, Hamburg:
Glaubenskriege? Die Kriege der Christen gegen Andersgläubige in der mittelalterlichen Wahrnehmung
Eine Sakralisierung des Krieges ist nicht erst für christliche Zeiten charakteristisch, sondern bereits in der Antike gang und gäbe. Entscheidend für eine Charakterisierung als ‚Religionskrieg‘ ist nun nicht so sehr die Terminologie − da der Begriff nicht zeitgenössisch ist, ist eine begriffsgeschichtliche Untersuchung für das Mittelalter auszuschließen − oder das (wichtige) Verhältnis der Kirche zum Krieg als vielmehr die Frage, ob Kriege aus religiösen Motiven geführt wurden, sei es zum Ziel der Christianisierung oder zur Befreiung der heiligen Stätten (unter dem Motto Deus lo vult, „Gott will es“). Ebenso ist zwischen religiöser Motivation und religiöser Deutung eines Krieg (Gottes Beistand; Invasion oder Niederlage als Sündenstrafe) zu differenzieren. Von der Quellenlage her lassen sich die Kriegsmotive im Mittelalter nur von der zeitgenössischen Wahrnehmung vor allem in der mittelalterlichen Historiographie her und damit mangels Selbstzeugnissen nicht von den Akteuren, sondern von den − zudem im Rückblick und im Wissen um den Ausgang − Berichtenden er-fassen. Der religiöse Grund kann daher ein wirkliches Motiv oder auch den Ereignissen (nachträglich) untergeschoben sein, um einen Krieg zu rechtfertigen. Er kommt vor allem in Kriegen gegen Andersgläubige zum Tragen: gegen Heiden − Heiden-krieg wird oft ausdrücklich erlaubt −, Sarazenen − werden Auseinandersetzungen hier schon vor den Kreuzzügen als Religionskriege um des Glaubens willen wahrgenommen? − sowie gegen Häretiker. Nach den Ergebnissen eines Forschungsprojekt zur Wahrnehmung anderer Religionen konnten gerade Chronisten von Andersgläubigen einerseits nahezu emotionslos berichten, andererseits führten hier vor allem kriegerische Auseinandersetzungen zu religiöser Abgrenzung und Diffamierung. In diesem Sinn wird im Vortrag an exemplarischen Fällen (unter anderem anhand Gregors von Tours, der Normanneneinfälle, der sehr frühen Reconquista, der Missionskriege im Urteil der Nachwelt oder der Kreuzzugsepik) diskutiert, in welchen Zusammen-hängen und in welchem Ausmaß eine religiöse Motivation von Kriegen eine Rolle spielt und Kriege gegen Heiden, Sarazenen und Ketzer als ‚Religionskriege‘ wahrgenommen werden.
Wolfram Drews, Münster:
‚Glaubenskriege‘ Karls des Großen? Die fränkische Auseinandersetzung mit Sachsen und mit spanischen Muslimen
Karl der Große, der Begründer des fränkischen Großreiches im frühen Mittelalter, galt sowohl im hohen und späten Mittelalter als auch in der Neuzeit zuweilen als Exemplum eines Glaubenskriegers. Der Neubegründer eines römischen Kaisertums wurde nicht nur als Schutzherr der römischen Kirche angesehen, sondern auch als Anführer eines religiös motivierten Krieges gegen spanische Muslime, als Verfechter einer auch gewaltsamen Mission gegenüber den heidnischen Sachsen und nicht zuletzt auch als vermeintlicher Anführer einer bewaffneten Pilgerfahrt zu den Heiligen Stätten im Heiligen Land, also als Kreuzfahrer avant la lettre. Viele dieser Zuschreibungen, wie sie sich etwa auf dem Aachener Karlsschrein finden, halten einer kritischen historischen Überprüfung jedoch nicht stand, spiegeln sie doch eher die Sicht-weise späterer Epochen auf Herrschaftspraxis und Herrschaftslegitimation des ersten karolingischen Kaisers. Der Vortrag nimmt vor diesem Hintergrund die zeitgenössischen Quellen in den Blick und analysiert deren Sichtweise auf die Motivation der Kriegszüge Karls des Großen gegen spanische Muslime und heidnische Sachsen. Da-bei wird danach gefragt, wem in diesen Quellen die Initiative für kriegerische Auseinandersetzungen zugeschrieben wird, mit welchen Argumenten sie legitimiert werden und ob sie in eine irgendwie geartete ideologische Tradition eingeordnet werden, etwa in die eines religiös gerechtfertigten Krieges wie in bestimmten Passagen des Alten Testamentes oder in hagiographisch überhöhten Berichten über militärische Auseinandersetzungen Kaiser Konstantins des Großen. Im Ergebnis wird geklärt, ob die genannten Kriegszüge Karls des Großen schon in den frühmittelalterlichen Quellen in besonderer Weise ideologisch hervorgehoben werden, ob sie also bereits von Zeitgenossen als „Glaubenskriege“ verstanden wurden.
Nikolas Jaspert, Heidelberg:
Kreuzzüge und ‚Reconquista‘ im 12. Jahrhundert: die Grenzen des Glaubenskriegs
Die mittelalterlichen Kreuzzüge und die unter dem Begriff der „Reconquista“ subsumierten Kriege zwischen muslimisch und christlich beherrschten Reichen der Iberischen Halbinsel sind zu Signa geworden für die als unheilsam geltende Verflechtung von Glaube und Gewalt, welche vermeintlich das Mittelalter wie keine andere Epoche kennzeichnete. Wird derzeit häufig und vorschnell vermutet, dass kriegerische Konflikte zwischen muslimischen und christlichen Herrschaftsträgern grundsätzlich religiös motiviert gewesen seien, so gilt dies besonders für die Kreuzzüge, weil gemeinhin der Ablass und damit die Erlangung geistlicher Gnaden als eines ihrer her-ausragenden Merkmale angesehen wird. Nach dieser Lesart waren Kreuzzüge stets und zuvörderst eine Form von spirituell verdienstvoller Gewaltanwendung; Ähnliches wird umgekehrt dem Dschihad attestiert. Offensichtlich ist hier Differenzierung gefragt. Dazu ist grundsätzlich das Verhältnis zwischen Glaube und Religion im hohen Mittelalter zu analysieren. Um deren Relevanz für die Kreuzzugsbewegung präziser als bislang üblich bestimmen zu können, bieten sich drei Vorgehensweisen an. Zum einen sollte nach Gruppen von Akteuren geschieden werden. Die Herkunft der Kombattanten ist genauso in Anschlag zu setzen wie ihre gesellschaftliche Zuordnung – nicht zuletzt deswegen, weil die Kreuzzüge durch eine große Breite beteiligter Gruppen und damit an potentiellen Motivationen gekennzeichnet waren, wogegen die überlieferten Deutungen der Ereignisse einem vergleichsweise reduzierten gesellschaftlichen Spektrum entstammten. Zum anderen verspricht der Vergleich zweier Kriegsszenarien – der Levante und der Iberischen Halbinsel – Aufschluss über die Bedeutung spezifischer Räume für die religiöse Aufladung christlich-islamischer Konflikte. Schließlich ist eine zeitliche Differenzierung unabdingbar, weil sowohl Kreuzzug als auch „Reconquista“ Wandlungen durchliefen. Hier kam dem 12. Jh. besondere Bedeutung zu, weil es in der christlich wie in der islamisch geprägten Welt durch eine Dynamisierung des religiösen Felds gekennzeichnet war.
Almut Höfert, Zürich:
Heilige und heiliger Krieg
Mittelalterliche Heilige wurden für viele Bereiche des Lebens um Beistand angerufen – auch in jenen Kriegen, in denen der Kampf für den christlichen Glauben gegenüber muslimischen Gegnern besonders stark betont wurde. So standen beispielsweise der Heilige Georg als herausragender Kreuzzugsheiliger und der Heilige Jakob, der als matamoros („Maurenschlächter“) auf der Iberischen Halbinsel angerufen wurde, den Christen in ihrem Kampf gegen Sarazenen und Mauren zur Seite. Aber die Beziehung zwischen Heiligen und „Heiligen Kriegen“ war weder eindimensional noch exklusiv und kann im Hinblick auf viele Aspekte betrachtet werden: Die Einbeziehung von Heiligenkulten als Glaubenspraxis bietet einen weiteren analytischen Zugriff, um die Vielschichtigkeit von sogenannten Glaubenskriegen zu erfassen.
Zunächst muss grundsätzlich zwischen der (freilich nicht immer nachweisbaren) Anrufung von Heiligen in der konkreten Kriegssituation und nachträglichen Deutungen wie etwa in Chroniken unterschieden werden, wonach ein Heiliger wunderbarerweise das Schlachtengeschehen beeinflusst habe. Des weiteren ist danach zu fragen, wo sich Sarazenenspezialisten unter den Heiligen herausbildeten und wo hingegen Heilige in ihrer allgemeinen Schutzfunktion im Krieg mit „Sarazenen“ angerufen wurden. In diesem Zusammenhang soll auch ein Blick auf Sizilien geworfen werden, dessen normannische Eroberung 1061-1091 nicht als Kreuzzug, aber gleichwohl als gottgefällige Beendigung der „sarazenischen“ Herrschaft galt. Als letzter Punkt sollen schließlich die unterschiedlichen Facetten einbezogen werden, die eine Heiligenfigur mit verschiedenen Heiligen- und Pilgerkulten in sich vereinigen konnte: Neben dem Heiligen Jakob als Maurenschlächter stand der friedliche Santiago der Jakobspilger auf ihrem Weg nach Compostela. In der Georgsverehrung finden wir überdies Kulte, in denen der Heilige, anstatt christliche Ritter in den Sarazenenkampf zu führen, mit dem muslimischen Khidr, einer herausragenden Figur der muslimischen Heiligen, verschmolz.
Überblick
(Martin Sabrow, Potsdam) Achim Saupe, Martin
Überblick
(Martin Sabrow, Potsdam)
Achim Saupe, Martin Sabrow, Potsdam:
Einführung: Das Relikt als Reliquie. Zur Frage nach dem transzendentalen Moment der gegenwärtigen Geschichtskultur
Achim Saupe, Potsdam:
Die geschichtsreligiöse Aufladung des Authentischen im historischen Museum
Stefanie Samida, Heidelberg:
Geschichtserleben als Erweckungserlebnis
Stefan Küblböck, Salzgitter:
Geschichtstourismus als Pilgerreise
Heidemarie Uhl, Wien:
Die Steine sprechen nicht. Die Aura des „Authentischen“ und die Gedenkstätte als „Heiliger Ort“
Abstract (scroll down for English version):
Das Selbstbild der Geschichtswissenschaft als auch ihr Bild in der Öffentlichkeit wird dadurch bestimmt, dass Geschichte im Kern Aufklärung sei, dass sie die kritische Auseinandersetzung mit einer allzu oft verklärten und verfälschten Vergangenheit betreibe. Die These der Sektion lautet dagegen, dass die öffentliche Geschichtskultur unserer Zeit zunehmend religionsförmige Züge angenommen hat, gleichsam Aufklärung in Sakralisierung verwandelt hat. Aufbauend auf einer funktionalistischen Religionsdefinition, die mit Clifford Geertz Religion als ein Symbolsystem definiert, das machtvolle Gefühle im Menschen wachruft, in dem sie Vorstellungen einer umfassenden und von einer unwiderstehlichen „aura of factuality“ umgebenen Seinsordnung erzeugt, sucht die Sektion die religiöse Kraft der gegenwärtigen Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur exemplarisch zu vermessen.
Nach einer Einführung von Martin Sabrow (Potsdam) widmet sich Achim Saupe (Potsdam) der geschichtsreligiösen Aura des Authentischen im historischen Museum. Ohne den Reiz des Authentischen, die Einzigartigkeit des Echten und die Aura des Originals scheint die Bedeutung und Wirkung von Kulturgütern heute kaum erklärbar. Stefanie Samida (Heidelberg) geht der Frage nach, ob und inwieweit die Aneignung von Vergangenheit in populären Reenactments ein Erweckungserlebnis für die beteiligten Akteure markieren kann. Stefan Küblböck (Salzgitter) befasst sich mit dem Phänomen der touristischen Geschichts- und Zeitreise. Zwar versprechen historische Reiseziele keine Wunderheilung mehr, wohl aber die vermeintlich unmittelbare Annäherung an eine Vergangenheit, deren Nacherleben von der identifikatorischen Verzückung bis zur reinigenden Konfrontation reichen kann.
Abstract (English Version):
Historians’ own image of their discipline, as well as the public image of history, is determined by the idea that it fundamentally aims to bring educational enlightenment by critically examining a past that is all too often glorified and distorted. By contrast, this section will argue that contemporary public historical culture has increasingly adopted religious forms of expression and that enlightenment has given way to sacralization. Drawing on a functionalist concept of religion, defined by Clifford Geertz as a system of symbols which awakens powerful feelings by producing the idea of a comprehensive order of existence surrounded by an irresistible “aura of factuality”, the section will give concrete examples of the religious power inherent in conceptions of contemporary commemorative culture and ways of coming to terms with the past.
After an introduction by Martin Sabrow (Potsdam) Achim Saupe (Potsdam) will analyse the religious aura of authentic historical objects in museums. The significance and impact of cultural artefacts today are difficult to explain without reference to the attraction of the authentic, the uniqueness of the real and the aura of originality. Stefanie Samida (Heidelberg) asks whether, or to what extent, the appropriation of the past in popular reenactments represents an experience of religious-style awakening for participants. Stefan Küblböck (Salzgitter) is concerned with the heritage industry and the idea of travelling through time. Although historical destinations no longer market miracle cures, they do suggest the possibility of an immediate encounter with the past, the reliving of which can bring about anything from identificatory rapture to cathartic confrontation.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
Audimax I
Auditorium Maximum
Überblick
(Linde Apel, Knud Andresen, Hamburg) Linde
Überblick
(Linde Apel, Knud Andresen, Hamburg)
Linde Apel, Knud Andresen, Hamburg:
Einführung und Moderation
Anke te Heesen, Berlin:
To Climb Into Other People’s Heads. Thomas Kuhn, die Wissenschaftsgeschichte und das Interview.
Franka Maubach, Jena:
Das Vetorecht der Quellen. Überlegungen zur sekundären Analyse von Oral-History- Interviews
Andrea Althaus, Hamburg: Migrationserzählungen. Zum Zusammenhang von Lebensgeschichte und Geschichte.
Julia Obertreis, Erlangen:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Die Oral History war in der Bundesrepublik lange eine Glaubensfrage, um die zeitweilig erbittert gestritten wurde. Interviews galten anfangs in Teilen der historischen Zunft als unglaubwürdig und subjektiv, wurden aber bald zu beliebten Quellen, da sie Antworten versprachen auf die in der Kulturgeschichte aufgeworfenen Fragen nach Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungsmustern historischer Akteurinnen und Akteure. Die seither geleistete theoretische und empirische Auseinandersetzung mit mündlichen Quellen hat gezeigt, dass es sich um eine anspruchsvolle Quellengattung handelt, von der kein direkter Zugriff auf subjektive Erfahrungen zu erwarten ist. Gleichwohl blieb eine weiterführende methodologische Diskussion über ihren langfristigen Quellenwert weitgehend aus. Gegenwärtig scheint die Oral History gleichermaßen etabliert zu sein, wie sie aufgrund ihrer methodischen und theoretischen Komplexität mancherorts ignoriert wird. Dies ist ein guter Moment für die Selbstreflexion über die Methoden, Fragestellungen und impliziten wie expliziten Ansprüche. Die Sektion befasst sich mit der selten beachteten Vorgeschichte der deutschsprachigen Oral History im Rahmen der frühen Zeitgeschichte, ihrer multidisziplinären und transnationalen Prägung, dem Erkenntnispotenzial mündlicher Erzählungen, mit Fragen der Sekundäranalyse sowie der Bedeutung der historischen und gesamtbiografischen Kontextualisierung von Interviews. Damit soll das methodische Instrumentarium stärker profiliert und zugleich die Oral History historisiert werden. Denn es sind mündliche Quellen entstanden, die über die Epoche der Mitlebenden und damit der Zeitgeschichte hinausweisen. Der Aura der Authentizität und der subjektiven Verführungskraft, die sich in der Überhöhung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in medialer Geschichtsvermittlung oft zeigt, kann durch methodische und wissenschaftsgeschichtliche Reflexionen begegnet werden. Unterstrichen werden soll aber auch die Stärke der Oral History, Lebensgeschichten als historische Quellen zu generieren und neue Akzente in der Zeitgeschichte zu setzen. Was ist das Erkenntnispotenzial mündlicher Quellen für die historische Forschung? Können wir tatsächlich glauben, was wir hören, oder hören wir nicht doch nur, was wir ohnehin schon (zu wissen) glauben?
Anke te Heesen, Berlin:
„to climb into other people’s heads“. Oral History und die Wissenschaftsgeschichte der 1960er Jahre
Welcher Stellenwert mündlichen Quellen eingeräumt werden soll, war in den 1950er und 1960er Jahren in der Oral History der USA nicht unumstritten. Dabei wurde nicht nur die Aussagekraft der mündlichen Zeugnisse der ‚einfachen Leute’ thematisiert, sondern auch die sogenannten „expert interviews“. Saul Benison, einer der Protagonisten der Oral History an der Columbia University in New York, hatte dazu eine Anleitung verfasst, die auch in der wissenschaftshistorischen Community Anwendung fand. Im Vordergrund standen die minutiöse Vorbereitung des Interviewers und die geeigneten Techniken des Fragens. Im Vortrag wird das von der National Science Foundation (USA) geförderte Projekt Sources for History of Quantum Physics beschrieben, dem Benison beratend zur Seite stand. In dreijähriger Laufzeit (1961-1964) sollte die Vielfalt der noch existierenden schriftlichen Dokumente und verbalen Erinnerungen zur Quantenphysik gesammelt und gesichert werden. Mit der Leitung des Projekts wurde der Wissenschaftsphilosoph und -historiker Thomas S. Kuhn beauftragt, der mit den Assistenten John Heilbronn und Paul Forman die erste Oral History-Quellensammlung der Wissenschaftsgeschichte anlegte. Diese Sammlung wie die archivierten Akten des Projekts selbst können als ein entscheidendes Kapitel der Geschichte des Forschungsinterviews verstanden werden.
Franka Maubach, Jena:
Das Vetorecht der Quellen. Überlegungen zur sekundären Analyse von Oral History-Interviews
Der Titel des geplanten Panels adressiert ein grundlegendes Problem der Quellenkritik und Epistemologie. Die Gefahr, den Aussagen der Quelle – hier: den Worten des Interviewpartners – umstandslos Glauben zu schenken, ihnen also ‚auf den Leim zu gehen‘, erscheint beim lebensgeschichtlichen Interview ausgeprägter als bei anderen Quellen (nicht zuletzt wegen der Überzeugungskraft des erzählenden Menschen, mit dem der Interviewer ja immer in eine intensive, ja intime Beziehung tritt). Zwar ist eine solche „Parteilichkeit“ keine Spezifik der Oral History. Bei ihr jedoch handelt es sich um eine besondere und besonders ausgeprägte Form von „Parteilichkeit“, die es quellenkritisch zu beschreiben gilt.
Gerade in der Anfangszeit der europäischen Oral History Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war die Tendenz ausgeprägt, das mündliche Zeugnis unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen, denen man „eine Stimme geben“ wollte, nicht nur anzuerkennen, sondern auch mit einer Aura der Authentizität (gegenüber entfremdenden Schriftquellen) zu umgeben. Aber sagten die Interviewpartner wirklich, was die Interviewer glaubten? Bestätigten sie die Vorannahmen der Interviewer über ihr Leben? Oder sagten sie grundlegend anderes? Und konnten die Interviewer das hören – und verstehen? Die sekundäre Quellenkritik früher Oral History-Zeugnisse, denen ich mich im Vortrag widmen möchte, könnte Aufschluss über einen Erkenntnisprozess geben, der beispielsweise im LUSIR-Projekt am Ende über die Vorannahmen hinaus- und zu der Erkenntnis führte, dass breite Bevölkerungsgruppen sich von den volksgemeinschaftlichen Verheißungen des Nationalsozialismus hatten einnehmen lassen; eine ganz besondere Version der „Vetokraft“ der Quellen.
Andrea Althaus, Hamburg:
Migrationserzählungen. Zum Zusammenhang von Lebensgeschichte und Geschichte
Wenn Historikerinnen und Historiker lebensgeschichtliche Interviews zur Erforschung eines historischen Phänomens heranziehen, beschreiben sie die Kontextualisierung der Erzählungen als zentralen Analyseschritt. Unter Kontextualisierung wird dabei meist die Verortung der Interviews in ihrem historischen Kontext verstanden, auf den sie verweisen und vor dessen Hintergrund sie ihre Bedeutung entfalten. Sinnvoll ist es, neben dem historischen auch den biografischen Kontext zu rekonstruieren und in die Analyse mit einzubeziehen. Am Beispiel von Migrationserzählungen deutscher und österreichischer Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Haus- oder Gastgewerbsangestellte in die Schweiz gingen, wird im Vortrag gezeigt, dass erzählte Migrationserfahrungen eine geschichtliche und eine lebensgeschichtliche Dimension haben. Migrationserfahrungen finden in einer historisch-konkreten Situation statt, werden von ökonomisch-politischen Bedingungen reguliert und gesellschaftlichen Diskursen geprägt. Wie Migration erfahren und erzählt wird, hängt jedoch auch von biografischen Erfahrungen vor und nach der Migration ab. Die historische Kontextualisierung ermöglicht es, zu untersuchen, welche diskursiven Linien und historischen Ereignisse Eingang finden in die Erzählung und dadurch historiografisch bedeutsam werden. Die Berücksichtigung der biografisch-narrativen Strukturen bietet die Möglichkeit zu analysieren, wie Interviewpartnerinnen und –partner zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben und in einer spezifischen Erzählsituation ihren (Migrations-)Erfahrungen Bedeutung zuschreiben. In einer solchen doppelten Kontextualisierung kann die Subjektivität individueller Sinngebungen analytisch differenziert(er) erfasst werden.
Abstracts (English version):
Oral histories were long a point of contention in the Federal Republic of Germany, occasionally becoming the subject of bitter dispute. Interviews were initially considered by some historians as too unreliable and subjective, but they soon became favourite research sources because they promised answers to cultural history questions concerning the experiences, perceptions and interpretive frameworks of historical actors. The theoretical and empirical treatments of oral sources since then have shown this to be a highly complex genre, one where unfiltered access to subjective experiences cannot be expected. Nonetheless, there has been little in-depth discussion on the methodological level about its ultimate value as a research source. While oral histories now seem well established in some spheres, they remain ignored in other ones, due to their methodological and theoretical complications. Now is a good point in time for us to reflect on our research methods, corresponding issues and implicit/explicit aspirations. This section looks at the seldom considered roots of German-language oral history in regards to early contemporary history and its multidisciplinary and transnational interactions; examines the research potential of oral narratives; investigates questions of secondary analysis; and ponders the importance of contextualizing an interview not only within history, but also within a broader biography. This should help us to better define the methodological arsenal, while also historicizing oral history. After all, there are also oral histories that point beyond the era of the still living, and thus beyond contemporary history. Here, the aura of authenticity and seductiveness of subjectivity, as often seen in the disproportionate elevation of eyewitness testimony in media presentations of history, can be counterbalanced by reflecting on methodology and the history of science. However, one should also highlight the strengths of oral history, in generating additional historical sources from life stories and providing new catalysts to the study of contemporary history. What potentials for new insights do oral sources hold for historical research? Can we really believe what we hear, or are we only hearing what we already believe?
Anke te Heesen, Berlin:
“To climb into other people’s heads”. Oral History and the History of Science in the 1960s
In the USA of the 1950s and 60s, there was much debate about how much weight should be given to oral histories. It was not only the validity of oral testimonies by “ordinary people” that was open to debate, but also of so-called “expert interviews.” Saul Benison, one of the proponents of oral history at Columbia University in New York, wrote instructions for the subject that also became used by science historians. It focused on meticulous preparations by the interviewer and on the appropriate ways to pose questions. This lecture will look at the project called Sources for History of Quantum Physics, which was funded by the National Science Foundation (USA), and for which Benison acted as an advisor. Running from 1961 to 1964, it aimed to gather and secure the wide range of written documents and verbal reminiscences that still existed concerning quantum physics. The project was led by historian and philosopher of science Thomas S. Kuhn, who was assisted by John Heilbronn and Paul Forman in building the first archival collection of oral histories concerning the history of science. This collection, along with the project’s archived documents, can be seen as a decisive chapter in the history of the research interview.
Franka Maubach, Jena:
The Veto Power of Source Materials. Thoughts on the Secondary Analysis of Oral History Interviews
The title of the scheduled panel calls attention to a fundamental problem in source material criticism and epistemology. The danger of giving unquestioning credence to the assertions found in source materials (here, the words of the interviewee), and thus to be “led by the nose”, seems greater with life-story interviews than with other source materials (also because of the persuasive charisma of the narrating person, with whom the interviewer always enters into an intense, even intimate relationship). While such “partisanship” is not restricted to the field of oral history, it is nonetheless a very particular and particularly pronounced form of “partisanship”, one that needs to be examined in terms of source material criticism.
Especially in the early days of European oral history research during the late 70s and early 80s, there was a strong tendency to not only acknowledge the oral testimonies of oppressed social groups, to whom one wanted to “give a voice”, but also to surround them with an aura of authenticity (to a greater extent than with more detached written sources). But did the interviewees really say what the interviewers believed? Did they confirm the interviewers’ presuppositions about their lives? Or did they say something fundamentally different? Were the interviewers able to hear this – and understand? My presentation will focus on the secondary source-material criticism of early oral history testimonies, potentially offering insights for a more nuanced interpretive process, one that ultimately takes us past our presuppositions and, using the example of the LUSIR Project, towards the recognition that large swathes of the German populace had let themselves be swept up into the community-bonding promises of National Socialism; a very particular version of the “veto power” of source materials.
Andrea Althaus, Hamburg:
Migration Narratives. The Relationship between Biography and History
When historians utilize life history interviews in researching a historical phenomenon, one major step in their analysis is to contextualize the narrative. This is usually understood as placing the interview within the historical context to which it refers and from which it derives its significance. However, besides this historical context, it is also helpful to reconstruct the biographical one, and to incorporate it into the analysis. This lecture will show how narrations of migration experiences have both a historical dimension and a biographical one by looking at the migration narratives of German and Austrian women who went to work in Switzerland after World War II as domestics and hospitality staff. Migration experiences take place within concrete historical situations, are governed by economic/political conditions and are shaped by social discourses. On the other hand, how migration is experienced and recounted also depends on the biographical experiences that happened before and since the migration. Historical contextualization allows us to analyse which discursive lines and historical events find their way into the narrative, thereby becoming historiographically significant. Meanwhile, the consideration of a narrative’s biographical framework helps us to analyse how the interviewee assigns meaning to their (migration) experiences at a particular time in their lifetime and within a specific situation of recounting. This twofold contextualization enables a more analytically nuanced understanding of the subjectivity of individual interpretation.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Anselm Schubert, Erlangen, Matthias Pohlig, Münster) Podiumsdiskussion -Thomas Kaufmann, Göttingen -Udo di Fabio, Bonn -Anselm Schubert, Erlangen -Matthias Pohlig, Münster Moderation: Alf Christophersen, Wittenberg
Überblick
(Anselm Schubert, Erlangen, Matthias Pohlig, Münster)
Podiumsdiskussion
-Thomas Kaufmann, Göttingen
-Udo di Fabio, Bonn
-Anselm Schubert, Erlangen
-Matthias Pohlig, Münster
Moderation: Alf Christophersen, Wittenberg