September
Überblick
(Christian Wendt, Berlin, Neville Morley,
Überblick
(Christian Wendt, Berlin, Neville Morley, Bristol)
Christian Wendt, Berlin:
Glauben an und bei Thukydides
Neville Morley, Bristol:
Belief in an Unhistorical Thucydides
Liisi Keedus, Helsinki:
O ye of different faith—Leo Strauss and his school
Uwe Walter, Bielefeld:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Die Kategorie des Glaubens ist aus der Selbstdefinition der Historiker und Historikerinnen gestrichen – Nachprüfbares oder im Mindesten plausibel zu Machendes, bestenfalls auf der Basis einer breiten Datensammlung, soll die Arbeit am historischen Sujet abgrenzen von einer bloßen informierten Meinungsäußerung, vom Dilettieren.
Wie aber steht es mit dem Glauben an Instanzen oder Personen, denen Glaubwürdigkeit beigemessen wird, etwa an das Renommee einer Koryphäe, das unanfechtbar geglaubte Referenzwerk, die treffendste methodische Schule?
Am Beispiel des Thukydides und seiner Rezeption soll diese Frage exemplarisch gestellt werden: Wie gelingt es, einem fernen Autor ein derartiges Maß an Glaubwürdigkeit zuzusprechen, dass man an ihn glauben kann wie an eine quasi unanfechtbare Instanz? Und daraus leitet sich die Frage ab: Wieviel Glauben oder auch Glauben-Wollen steckt in der Überzeugungskraft eines historischen Arguments?
Christian Wendt, Berlin, behandelt das Moment des Glaubens oder der Überzeugung bei Thukydides selbst, um anhand dessen die Konstruktion von Glaubwürdigkeit in bezug auf den athenischen Autor als Mechanismus zu hinterfragen.
Neville Morley, Bristol, geht dem Phänomen auf den Grund, wie es dazu kam, daß ein als Musterhistoriker wahrgenommener Autor in anderem Kontext zu nahezu unanfechtbarer Glaubwürdigkeit gelangen konnte, wie also der Transfer des Thukydides von der Geschichts- zur Politik- und Sozialwissenschaft zu erklären ist.
Liisi Keedus, York, setzt sich mit der Rezeption des Thukydides bei Leo Strauss auseinander und problematisiert die Glaubwürdigkeit des Interpreten, der einen besonderen Zugang zu einem selbst als glaubwürdig verstandenen Urtext genießt, seine Autorität dementsprechend doppelt konstruiert.
Uwe Walter, Bielefeld, wird diese Denkanstöße kommentieren und erweitern. Denn dem gewählten Beispiel zum Trotz soll es nicht allein um Thukydides und sein Nachleben gehen, sondern eine geschichtstheoretische, auch experimentelle Perspektive eingenommen werden.
Abstract (English version):
The category of ‚belief‘ is excluded from the self-definition of historians; the verifiable, or at the very least the plausible, preferably on the basis of a broad range of data, should distinguish work on the historical subject from a simple expression of informed opinion, from dilettantism.
But what about belief in authorities, or persons to whom credibility is attached, such as the reputation of a genius, the automatically believed reference work, or the most perceptive methodological school?
This question can be illustrated through the example of Thucydides: how is it possible to grant an ancient author such a degree of credibility that one can believe in him as an almost unquestionable authority? And this also raises the question: How much belief, or wish to believe, is contained in the persuasive power of a historical argument?
Christian Wendt, Berlin, explores the moment of belief or conviction in Thucydides himself, as the basis for questioning the construction of credibility in relation to the Athenian author.
Neville Morley, Bristol, gets to the bottom of the phenomenon whereby an author perceived as a model historian can attain in a quite different context an almost unchallenged authority, as in the case of the transfer of Thucydides from history to political and social science.
Liisi Keedus, York, deals with the reception of Thucydides by Leo Strauss, and problematizes the credibility of the interpreter, who enjoys special access to an original text understood as being itself credible, and thus doubly establishes his authority.
Uwe Walter, Bielefeld, will comment and expand on these ideas, since these issues concern not only Thucydides and his reception, but engage with a historical-theoretical, even experimental perspective.
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
HWF-221
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
(Steffen Diefenbach, Konstanz, Kai Trampedach,
Überblick
(Steffen Diefenbach, Konstanz, Kai Trampedach, Heidelberg)
Kai Trampedach, Heidelberg:
Einführung
Ludwig Meier, Heidelberg:
Die heiligen Männer und der rechte Glaube
Steffen Diefenbach, Konstanz:
Askese und Amt. Die Quellen bischöflicher Autorität im West-Ost-Vergleich
Sebastian Schmidt-Hofner, Tübingen:
Die Heiligen und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike
Kai Trampedach, Steffen Diefenbach:
Fazit und Schlussdiskussion
Abstract (scroll down for English version):
Die – im Weberschen Sinne – charismatische Autorität der asketischen Heiligen konnte traditionale Formen der Herrschaftsbildung im staatlichen und kirchlichen Bereich des spätantiken Römischen Reichs herausfordern. In unserer Sektion geht es darum, diese Herausforderungen institutioneller Ordnung sichtbar zu machen und die Frage nach normativen, medialen und performativen Strategien der Einbindung asketischer Autorität durch staatliche und kirchliche Strukturen zu stellen. Im Sinne dieser übergreifenden Fragestellung ist auch das thematische Spektrum der geplanten vier Vorträge bewusst weit gefasst. Nach einer kurzen Einführung der beiden Organisatoren in das Thema der Sektion wird Kai Trampedach zunächst das ambivalente Verhältnis von Asketen und spätantiken Kaisern in den Blick nehmen. Dabei wird er zeigen , in welcher Weise Asketen Druck auf das politische Zentrum entfalten konnten und wie sich die Kaiser ihrerseits gezielt mit Heiligen Männern umgaben, um in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des 5. und 6. Jh.s Rechtgläubigkeit zu demonstrieren und die religiösen Loyalitäten der Bevölkerung an sich zu binden. In Fortführung dieser Fragestellung wird Ludwig Meier die Rolle beleuchten, die Asketen für die Formierung von konkurrierenden Orthodoxien und kirchlicher Identitäten in der provinzialen Bevölkerung spielten. Da die Heiligen starken Einfluss auf verschiedene Segmente der Gesellschaft ausübten, trugen sie im 6. Jh. einerseits wesentlich zur Ausbildung der Kirchen des syrisch – orientalischen Christentums bei – andererseits standen sie dabei in einer fragilen und spannungsgeladenen Beziehung zu den Bischöfen, die durch ihre Weihegewalt einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau alternativer Kirchenstrukturen leisteten. Die Relation von Bischöfen und asketischer Autorität steht auch im Zentrum der Überlegungen von Steffen Diefenbach. Ihn beschäftigt die Frage, warum es nur im Westen des römischen Reichs zu einer effektiven Integration asketischer Autorität in das Bischofsamt gekommen ist, während im Osten Askese und Amt dauerhaft divergierende P ole religiöser Autorität blieben. Als eine wesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung ist die Prägung des Bischofsamtes durch hohe Aristokraten anzusehen, die erfolgreich eine Verbindung von Askese und Amt propagierten und damit eine Vorstellung episkopaler Autorität entwickelten, die im Kern nicht auf amtlichen Vollmachten, sondern auf bischöflicher Heiligkeit basierte. Diese Hypothese soll mit Blick auf die anders gearteten Verhältnisse im Osten des Reichs überprüft und weiterentwickelt werden. Abschließend geht S e bas ti an S c hmi dt – Ho f ne r als Experte für die spätantike Rechtskultur der Frage nach, in welchem Maße Heilige Männer der Kontrolle und Regulierung durch die Gesetzgebung unterworfen wurden. Der übergreifenden Fragestellung entsprechend, wird se in besonderes Augenmerk vor allem auf den Parallelen und Interferenzen zwischen ziviler und kirchlicher Gesetzgebung liegen, um zu überprüfen, ob staatliche und kirchliche Institutionen auf ähnliche Herausforderungen reagierten und analoge, komplementäre oder eben auch divergierende Integrationsstrategien entwickelten . Die Sektion soll nach einer Diskussion mit einem Fazit der beiden Sektionsleiter schließen.
Abstract (English version):
Ascetic holy men wielded a charismatic authority – in Max Weber’s sense of the term – that could challenge forms and institutions of traditional authority in the Later Roman Empire, civil as well as ecclesiastical. Our section aims at uncovering these challenges of institutional order and exploring the normative, medial and performative strategies applied by civil and ecclesiastical authorities in order to control this charism atic potential. The four talks of this section will tackle this complex topic from different perspectives. After a short introduction by the two organizers Kai Trampedach will discuss the ambivalent relationship between ascetics and emperors. He will exp lore under which conditions ascetics were able to put pressure on the political centre and how the emperors reacted to this challenge by surrounding themselves with holy men, in order to demonstrate orthodoxy and win the loyalties of the population in eccl esiastical conflicts. In a similar way Ludwig Meier will focus on the influence of ascetics in forming othodoxies und ecclesiastical identities on the level of local populations. Since holy men exerted a profound influence on different parts of society t he y played on the one hand a crucial role for the making of different churches in Syriac Christianity. On the other hand this frequently involved rivalries and tensions with bishops who, due to their sacramental dut ies and ordinations, decisively promoted th e establishment of alternative ecclesiastical structures. The relationship between bishops and ascetic authority also figures prominently in Steffen Diefenbach’ s discussion of different forms of episcopal authority in the later Roman Empire. His starting point is the question why only in the western part of the Empire the bishops achieved an effective integration of ascetic authority whereas in the East asceticism and episcopal office tended to remain two different sources of religious authority. The weste rn development seems to depend on a successful moulding of the episcopal office by high aristocrats, who propagated an idea of the bishop’s authority, which emphasized personal holiness, not pragmatic competence. This hypothesis shall be put to the test an d further developed with regard to the different situation in the Eastern part of the Empire. In his final talk Sebastian Schmidt-Hofner discusses the question, to which extent holy men were controlled and regulated by legislative power. He will especially focus on parallels and interferences between civil and ecclesiastical legislation in order to examine, in how far comparable challenges were met by divergent or complementary strategies employed by civil and ecclesiastical authorities. The panel will end with a final discussion and concluding remarks of the two organizers.
Zeit
(Mittwoch) 11:15 - 13:15
Ort
HWF-221
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
(Sitta von Reden, Freiburg) Peter Bang,
Überblick
(Sitta von Reden, Freiburg)
Peter Bang, Kopenhagen:
Among States and Empires— Towards a Global Comparative History of Rome
Hermann Kulke, Kiel:
The Premodern State in India: Reflections on Processes of State Formation and Periodization in the Eurasian Context
Christoph Lundgren, Dresden:
Stateness—a New Category for Analyzing the Premodern World
Bhairabi Prasad Sahu, Delhi:
From Kingdoms to Transregional State: Exploring the Dynamics of State Formation in Early Medieval Odisha
Kesavan Veluthat, Delhi:
From Chiefdom to Kingdom and Empire: Trajectories of State in South India
Sitta von Reden, Freiburg:
Kingdom, State or Empire? The Case of Hellenistic Egypt
Abstract (scroll down for English version):
Was in vormodernen Gesellschaften unter Staatlichkeit zu verstehen ist, ob man von Staaten im Sinne Max Webers in der frühen europäischen und indischen Geschichte überhaupt sprechen kann und unter welchen Bedingungen sich vormoderne politische Ordnungen entwickelten ist intensiv historisch sowohl in der europäischen wie auch indischen Forschung diskutiert. Imperiale Ordnungen sind ebenfalls seit längerem Gegenstand interdisziplinärer Debatten, in denen das Römische Reich häufig als archetypisches Modell fungiert. Ein wichtiges Substrat der Diskussionen ist, dass Staaten und Imperien keine statischen Ordnungen darstellen, die in einer evolutionären Entwicklungslinie stehen, sondern als bestimmte, nämlich institutionelle Reaktionen auf sich wandelende Bedingungen in einem Herrschaftsraum zu verstehen sind. Diese Sektion, die im Rahmen der Partnerschaft des 51. Historikertages mit Indien organisiert wurde, wird in sechs Beiträgen die Forschungsergebnisse der letzten Jahre in der deutschen Altertumswissenschaft, der Indologie und indischen Geschichtswissenschaft diskutieren und weiterentwickeln sowie versuchen, die Möglichkeiten globalen wissenschaftlichen Austauschs aufzuzeigen. Die Vortragssprache ist Englisch.
Abstract (English version):
The question of what is a „state“ and what an empire, and how to distinguish between the two, has been discussed intensely in social theory and history, often in comparative perspective. Especially among pre-modern and ancient/early historians, the question of whether we can call ancient Mediterranean and Indian kingdoms, city states and the Roman Empire “states” in the sense of Max Weber’s influential definition, and what is involved when we talk about state formation in the ancient world is highly controversial. One important result of recent debates is that a state is not a reified form of political organization that has evolved in European history, but a series of particular – institutional – responses to changing social and political conditions. This section, which has been organized as part of the German-Indian partnership of the 51st Historikertag, aims to expand this debate, exploring comparatively the nature of states, empires and kingdoms in the Early Medieval in India and the Ancient Mediterranean, which has not been attempted before. Assembling specialists of European Ancient History, Indology and Indian History from both Europe and India it also aims to strengthen academic dialogue in a globalized academic world. All papers are delivered in English.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal B
Universität Hamburg
Überblick
(Werner Rieß, Hamburg) Abstracts (scroll down
Überblick
(Werner Rieß, Hamburg)
Abstracts (scroll down for english version)
Jede Gesellschaft steht in epistemischer Hinsicht im Spannungsfeld von Wissen und bloßen Meinungen. Individuen wie Gesellschaften oszillieren zwischen diesen beiden Polen und nehmen vielerlei Zwischenpositionen ein, um Orientierungs- und Handlungswissen zu gewinnen.
In der direkten Demokratie Athens kam der Aushandlung von Wissen zentrale Bedeutung zu: Die extreme Aufteilung von Kompetenzen erschwerte die Weitergabe von Wissen. Dennoch war diese Regierungsform zwei Jahrhunderte hinweg recht effektiv, was die Frage nach der Organisation von Wissen aufwirft. In den letzten Jahren haben internationale Forschung (etwa J. Ober, Democracy and Knowledge, Princeton 2008), Nachbardisziplinen (etwa M. Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013) sowie der durch die Digitalisierung beschleunigte Wandel unserer Informationsverarbeitung auch die althistorische Forschung auf diesem Gebiet befeuert.
Die Sektion verbindet erstmals in der Alten Geschichte Forschungen zum Wissen mit dem spatial turn: Wo fanden die Aushandlungsprozesse zwischen Meinungen und gesichertem Wissen statt? Für Athen ist eine grundsätzliche Offenheit (physisch wie sozial) von Räumen zu konstatieren, die den freien Meinungsaustausch in einer bis dahin ungekannten Weise beförderte. In diesen Diskursräumen fanden Aushandlungsprozesse statt, denen nachgespürt werden soll, Prozesse, die wir idealtypisch als gesellschaftlich, politisch, juristisch sowie geistig-intellektuell bezeichnen. Selbstverständlich überlappen sich diese Felder der sozialen Praxis. Aus heuristischen Gründen ist die Kategorisierung in verschiedene Praxisfelder jedoch nützlich, erlaubt sie doch die genauere Verortung der in Frage stehenden Aushandlungsprozesse.
Hans Beck, Montréal:
Im Schatten der Pnyx. Die athenische Demokratie und das Wissen der Straße
Die Demokratie Athens zeichnete sich durch ihr hohes Maß an Wissen aus. In der sogenannten open air Kultur der Polis war politische Expertise breit gestreut. Die Beteiligung der Bürger an den Institutionen der Stadt förderte nicht nur den Bildungsstand der Politen, sondern sie zeitigte auch ein beachtliches Erfahrungswissen („nomologisches Wissen“). Neben der Kennerschaft im Inneren wird in jüngster Zeit auch ein breites Wissen der Polisbürger über die griechische Welt insgesamt konstatiert: Je größer die kommunikativen Netzwerke, um so kleiner wurde die Welt der Hellenen. Zu den Charakteristiken dieser Small Greek World (Irad Malkin [2011]) gehörte es, dass die Polisbürger gut über die Lage im übrigen Griechenland Bescheid wussten.
Wieviel wussten die Bürger der Polis aber wirklich über politische Konstellationen andernorts? Forschungen zum Austausch von Nachrichten verweisen durchwegs auf die rudimentäre Infrastruktur, die für den Informationsfluss bestand. Die maßgeblichen Polis-Instrumente waren Proxenien und Gesandtschaften; beide spielten bei der Diskussion um die Ratifizierung von Friedensschlüssen und Verträgen eine wichtige Rolle. Die überlieferten Beispiele solcher Diskussionen legen dennoch nahe, dass die Volksversammlung häufig nur eine begrenzte Kenntnis von den Verhandlungsgegenständen hatte. Die schon von den Zeitgenossen angemahnte Abhängigkeit der Ekklesia von Demagogen und das Gewicht von Gerüchten bei der Entscheidungsfindung sind vor dem Hintergrund einer solchen Uninformiertheit kein Zufall.
Dieser ambivalente Befund von hohem Erfahrungswissen auf der einen Seite und relativer Unkenntnis auf der anderen dient im zweiten Teil meines Vortrages einer genaueren Bestimmung des Wissens, das in der Öffentlichkeit bzw. „auf der Straße“ (Alex Gottesman, Politics and the Street in Democratic Athens [2014]) vorherrschte. Im öffentlichen Raum war der Austausch von Wissen nicht den Bürgern vorbehalten, sondern er bezog alle mit ein (Nicht-Bürger, Fremde, Frauen, Sklaven). Gleichzeitig fand die Formierung von Meinungsbildern in Gruppen und Milieus statt – in Vereinen, Phratrien, Banden –, die einer dezidiert anderen Dynamik folgten als die Institutionen der Stadt. Die Straße war insofern ein Ort, in dem die politischen Hierarchien der Polis zwar nicht aufgehoben, in ihrer Wirkkraft aber eingeschränkt waren. Die Komplexität und auch Komplementarität dieser informellen Wissensräume hatte, wie abschließend gezeigt wird, wiederum Rückwirkungen auf den politischen Prozess in Athen.
Christian Mann, Mannheim:
Der Ruf der Demagogen: Gerüchte als akkumuliertes Wissen und als politische Waffe
Politische Meinungsführer, in den zeitgenössischen Quellen zumeist demagogoi genannt, waren ein unverzichtbares Element der athenischen Demokratie – sie machten die Volksversammlung erst handlungsfähig. Ihre Darstellung in den Quellen ist allerdings von negativen Stereotypen geprägt: Demagogen standen unter Generalverdacht, Politik nur zum eigenen Vorteil und nicht zum Wohl der Polis zu betreiben, schön klingende Worte anstelle von sachlichen Argumenten einzusetzen, wider besseres Wissen schlechte aber populäre Vorschläge zu machen und Ämter zur persönlichen Bereicherung zu nutzen. Aufgrund der schwachen Stellung von Amtsträgern, der scharfen Konkurrenz der Demagogen untereinander und fehlender Parteistrukturen schwebten alle Demagogen ständig in der Gefahr, ostrakisiert oder in einem politischen Prozess verurteilt zu werden.
In den Volksversammlungen konnten die anwesenden Bürger sich ein Bild von den Demagogen machen, sie verfügten damit über ein gesichertes Wissen. Doch die entscheidende Frage, ob ein Demagoge Politik zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil der Polis betreibe, konnte auf der Grundlage dieses Wissens nicht beantwortet werden. Große Bedeutung besaßen deshalb die Gerüchte, die man sich in den Häusern und Straßen Athens erzählte: Aischines preist die pheme, die in der Stadt umlief, als akkumuliertes Wissen des Volkes; die pheme zeige den Charakter eines Bürgers an (Gegen Timarchos, 127-129). Die möglichen Ansatzpunkte für Gerüchte sind vielfältig: Sie können auf den ökonomischen Status eines Demagogen bezogen sein, auf seine politischen Vorschläge, aber auch auf sein Erscheinungsbild, d.h. seine Kleidung und Frisur, seine Stimme, seine Bewegungen.
In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen, die genauer zu untersuchen sind: Welche Möglichkeiten boten sich Demagogen, Einfluss auf die Gerüchte über sich selbst und über die politischen Gegner zu nehmen? Und welche Zusammenhänge zwischen dem öffentlichen Auftreten von Demagogen und den über sie kursierenden Gerüchten lassen sich erkennen?
Claudia Tiersch, Berlin:
Selbstbeschreibungen der Demokratie in attischen Reden
Obzwar sich die athenische Demokratie insbesondere seit 403 v. Chr. als erstaunlich funktionale politische Ordnung bewährte, die selbst in militärischen und finanziellen Problemlagen ein hohes Maß an Stabilität und Problemlösungskompetenz aufwies, sind die zeitgenössischen politiktheoretischen Entwürfe weitgehend demokratiekritisch. Allerdings ist in der Forschung zunehmend darauf verwiesen worden, daß zumindest die kritischen Bemerkungen der attischen Redner nicht als Ablehnung der Demokratie zu interpretieren seien, sondern vielmehr als mahnender bzw. ermunternder Diskurs mit den Bürgern, sich stärker für den Erhalt der grundsätzlich akzeptierten Ordnung einzusetzen. Genau hier möchte mein Beitrag einsetzen. Er geht von der Grundannahme aus, daß traditionelle normative Vorstellungen der eunomia eher hierarchische Modelle präferierten, daß der lebendige politische Diskurs der athenischen Demokratie aber im Verlauf mehrerer Jahrzehnte eine Fülle an Kategorien und Überlegungen über Wesen, Ziele und Funktionalität der demokratischen Ordnung entwickelte. Die attischen Reden sollen deshalb unter folgenden Fragestellungen analysiert werden: Welche Selbstbeschreibung der
athenischen Demokratie geben die attischen Redner? Worin sehen sie deren Vorzüge bzw. deren Spezifika und die Bedingungen ihres Funktionierens? Wie charakterisieren sie die Bedeutung von Institutionen, die Rollenverteilung zwischen den Bürgern und deren Handlungserfordernisse? Welche Normen nehmen in den Reden eine zentrale Bedeutung ein? Welche Rolle spielt z.B. die Kategorie der Gerechtigkeit, wie wird diese semantisiert? Welches Wissen über die demokratische Ordnung transportieren und verhandeln sie? Wie wird die neue politische Wirklichkeit kategorial verarbeitet? Welche unterschiedlichen Ansätze werden hier bei den jeweiligen Rednern erkennbar? Anliegen des Beitrags ist die Bestimmung von Grundzügen des Wissens über die athenische Demokratie, welches zwar als Expertenwissen, jedoch in diskursiver Aushandlung, in den attischen Rednern erkennbar wird.
Dorothea Rohde, Bielefeld:
Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen
Unter dem Begriff des politischen Verrates lassen sich in klassischer Zeit verschiedene Tatbestände subsumieren. Obwohl eine Verurteilung die Todesstrafe vorsah, wurden die Prozesse in erster Linie auf der Basis von Überzeugungen entschieden. Der Gerichtssaal als Diskursraum der Aushandlung von Wissen und Meinen umfasste dabei drei Dimensionen: Erstens zeichneten sich die Verfahren durch das weitgehende Fehlen von Beweisen aus. An die Stelle von Fakten trat der Versuch, die eigene Version durch die Narration von Ereignissen und Wahrscheinlichkeiten glaubhaft zu machen. Zeugenaussagen dienten dabei nicht allein der Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes, sondern sie waren ritualisierte Akte der Hilfeleistung. Zweitens zielten die rhetorischen Strategien darauf ab, die eigene Integrität durch den Verweis auf gemeinschaftsrelevante Taten hervorzuheben und den Gegner zu diskreditieren. Die athenischen Richter stimmten daher auch über die vor ihnen stehenden Persönlichkeiten ab. Drittens wurden bei Verratsprozessen die Rechtsnormen situativ durch die „Staatsräson“ ausgefüllt. Was als Verrat galt, beurteilten die Richter aufgrund des diffusen Nützlichkeitskriteriums. Es wurde also vor allem um die Deutungshoheit in politischen Richtungsentscheidungen gestritten.
Gleichwohl wäre es verfehlt, den Primat des Glaubens vor faktenbasiertem Wissen nur als rechtshistorisches Kuriosum abzutun. In Athen dienten Verratsprozesse nicht nur der Auseinandersetzung zwischen Konkurrenten, sondern hier konnten auch Kriterien für ein erwünschtes Verhalten von Politikern formuliert, der Vorrang des Gemeinwohls vor Partikularinteressen eingeimpft, Beschlüsse der Volksversammlung korrigiert und das Verpflichtungsverhältnis der Bürger untereinander durch die Definition von außenpolitischen Feindschaften gestärkt werden. Auf diese Weise fungierte die Verratsanklage in ihren verschiedenen Ausprägungen als ein Mittel der Homogenisierung der politischen Akteure.
Katarina Nebelin, Rostock:
Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen
Nebelin behandelt den geistig-intellektuellen Prozess der Selbstoptimierung. Die Vorstellung, dass man beständig an sich arbeiten müsse, um die eigene Vortrefflichkeit auszubilden und zum Ausdruck zu bringen, war bereits Teil des archaischen Elitenideals gewesen. Intellektuelle Qualitäten hatten dabei aber zunächst keine zentrale Rolle gespielt. Dies änderte sich erst seit dem Auftreten der Sophisten im fünften Jahrhundert v. Chr. In dieser Zeit brachte Athen ein demokratisches und ein philosophisches Grundmodell der geistig-intellektuellen Selbstoptimierung hervor. Letzteres spaltete sich wiederum in eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten auf. Gemeinsam war allen ihre elitäre Ausrichtung: Selbstoptimierung sollte durch individuelles Leistungsstreben erreicht werden. Unterschiede bestanden vor allem in zwei zentralen Punkten: der Reichweite der jeweiligen Konzeption und ihrem Verhältnis zu gängigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen. So erhielt der demokratischen Ideologie zufolge jeder Bürger die Chance, sich zu entfalten, zu bewähren und Ruhm für seine Taten zu ernten – unabhängig von seiner sozialen Herkunft oder seinem Vermögen. Philosophische Selbstoptimierungskonzepte richteten sich dagegen meist an exklusivere, enger begrenzte Personengruppen. Oft beruhten sie zudem auf einer bewussten Abwendung von gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Die für die demokratische Selbstoptimierung zentrale Anerkennung durch Andere spielte dabei häufig nur eine untergeordnete Rolle. Einige Denker vertraten jedoch Vortrefflichkeitskonzeptionen, die mit demokratischen Wertvorstellungen leichter zu vereinbaren waren. So verbanden u.a. die Sophisten die Selbstoptimierung durch rhetorisches Training mit einem Gemeinschaftsbezug. Dies wirft die Frage nach der wissenssoziologischen Konstitution Athens auf: Konnten philosophische Vortrefflichkeitsvorstellungen und die von den Philosophenschulen offerierte Bildung einen positiven Beitrag zur ‚bürgerlichen‘ Selbstoptimierung innerhalb der Demokratie leisten, oder standen sie der politischen Ordnung reserviert gegenüber?
Martin Dreher, Magdeburg:
Synopsis
Abstracts (English version)
From an epistemic perspective, every society exists in tension between secure knowledge and personal opinion. Individuals and societies alike oscillate between these two poles. They take on many positions in an effort to gain knowledge for the purpose of orientation and future action.
Under the direct democracy of ancient Athens, the negotiation of knowledge was of primary importance. The radical division of competencies made the transmittance of knowledge a difficult matter. Nevertheless, this form of governance was quite efficient for two hundred years, which raises the question of how knowledge was organized. In recent years, international research (e.g. J. Ober, Democracy and Knowledge, Princeton 2008), also in adjacent disciplines (e.g. M. Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013), and advancements in processing information through digitalization have all inspired research in ancient history.
For the first time in the field of Classics, this panel aligns research on the deliberation and adjudication of knowledge to the physical realm. Where did the processes of negotiation between opinions and secured knowledge take place? In Athens, we can safely assume that the fundamental openness (physical as well as social) of space stimulated a free exchange of ideas and thoughts in an unprecedented way. In these discursive locations, discussions took place, which will be traced back in this panel. These discussions are what we ideally call political, jurisdictional, as well as intellectual. It goes without saying that these fields of social practice overlapped. For heuristic reasons, however, the breakdown into distinct fields proves useful as it allows for a more precise approach toward the negotiation procedures addressed in each context.
Hans Beck, Montréal:
In the Shadow of the Pnyx: Knowlegde and the Street in Democratic Athens
Athenian democracy distinguished itself through a high degree of knowledge. In the open-air culture of the democratic city-state, political expertise was a rich commodity. Participating in the political administration of their city, Athenian citizens not only enjoyed a formidable degree of education, but also a robust repertoire of political experience as such (“nomological knowlegdeˮ). Beyond this competence in domestic affairs, it has been argued that Greek citizens were generally well informed about the world far and beyond: the larger their networks of communication, the smaller the world of the Hellenes. One of the main characterisitics of this Small Greek World (Irad Malkin [2011]) was, by implication, that it allowed citizens to make informed decisions about their polis’ external affairs.
How much did the ordinary Athenian really know about political constellations elsewhere? Recent research on the dissemination of news alerts us of the rudiminetary structure behind the flow of news. City-states drew mostly on the institution of proxeny as well as the dispatch of ambassadors, both of which played a vital role in the negotiation of, for instance, peace treaties and interstate alliances. But the attested debates in the ekklesia where such arrangements were discussed indicate that the people were only poorly informed about the subject matter under revision. It is not by coincidence that contemporary observers had already raised their concerns about the people’s dependence on demagogues and on rumor; in the absence of well-grounded information, slander was even more prominent.
This ambivalent assessement of solid nomological experience on the one hand and relative un-informedness on the other invites a closer examination of the knowlegde that pervailed “in the streetˮ (Alex Gottesman, Politics and the Street in Democratic Athens [2014]). In the public sphere, knowledge-driven conversations were not confined to citizens, but the information flow included everyone (non-citizens, metics, women, slaves). At the same time, the formation of a public opinion occured in circles and milieus (clubs, phratries, gangs) that adhered to a decidely more distinct dynamic of shaping knowlegde than the one that prevailed in political institutions. The street was thus a realm in which the common political and social hierarchies were subject to a different trajectory, if not altogether suspended. As will be concluded in the final section of my paper, the complex and complementary nature of these informal realms of knowlegde exchange left a significant mark on the political grammar of Athenian democracy.
Christian Mann, Mannheim:
The Demagogues‘ Fame: Rumors as Aggregated Knowledge and Political Weapons
Political leaders (demagogoi) were an indispensable element of the Athenian democracy, the assembly could not work without them. But the representation of demagogues in the sources is characterized by negative stereotypes: Demagogues were suspected to consider only their own advantage, not the polis’, to use empty rhetoric instead of clear talk, to make popular but inappropriate suggestions and to use their position for personal enrichment. Because of the weak position of all magistrates, the sharp competition among them and the lack of party structures, the demagogues were always in peril of being ostracized or convicted in the law court.
During the assemblies citizens could see demagogues in action, so there was some kind of “certain knowledge” about them. But the most important question, that is if a demagogue took care of his own advantage or the polis’, could not be answered on that basis. In this situation rumors were very important, rumors that were disseminated in the houses and streets of Athens: Aeschines praises pheme circulating in the town for indicating the real character of each citizen (In Timarchum, 127-129). The contact zone between knowledge and rumors was diverse: Rumors were connected to the economic status of a demagogue, or to his political suggestions, but also to his habitus, for example his clothes and his hair, his voice and his way of moving.
In this context, two questions will be discussed: What were the ways demagogues could gain influence on the rumors concerning themselves and their rivals? And what is the connection between the public appearance of demagogues and the rumors circulating in Athens?
Claudia Tiersch, Berlin:
Democratic Self-Description in Athenian Oratory
While the Athenian democracy proved to be a viable political order, well able to tackle military and financial problems successfully, especially since 403 B.C., normative treatises by Plato or Aristotle demonstrate a critical stance.
However, recent scholarship posits that the criticism expressed in Athenian oratory should not be taken as a rejection of the democracy, but rather as appeal or encouragement to the citizenship to support and strengthen the existing order.
My paper focuses on the self-description of democracy in Athenian oratory. It highlights that Athenian oratory reflects a continuing public discourse, in which a wide range of thoughts and perceptions about the political aims of the Athenian democracy flourished and developed.
A nuanced reading of public speeches should enable us to better grasp what Athenians thought about their political order, beyond the hierarchical attitudes, which shaped normative political treatises.
Accordingly I am analysing the picture of democracy that the Athenian orators convey: How do the orators describe democracy? Which advantages and specific elements of the political order do the orators provide and how do these contribute to its functioning? How do they characterise the importance of institutions, the different roles played by specific citizens and their duties? Which values appear as leitmotivs in political speeches? Did concepts such as justice carry particular importance and if so, how does it appear in oratory? What level of knowledge formed the basis of rhetorical arguments? How do the orators categorise their current political reality? Which differing approaches do we encounter in specific orators? This paper seeks to pinpoint the degree of expertise about Athenian democracy appearing in contemporary oratory as a result of public discourse.
Dorothea Rohde, Bielefeld:
Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen
In classical times, a variety of offences could be subsumed under the term „treason“. Even though a conviction would entail death penalty, lawsuits for the main part were decided on the basis of beliefs. The courtroom as a discursive space for negotiating knowledge and meaning thereby comprised three different dimensions: Firstly, legal actions were to a large extent characterised by an absence of evidence. Facts were superseded by the attempt to demonstrate the own version’s plausibility by means of narration of events and probabilities. In this process, witness reports served not only to sort out facts but rather presented ritualised acts of support. Secondly, rhetorical strategies aimed at emphasising the own integrity by referring to achievements on behalf of the community and at the same time discrediting the opponent. To a considerable extent, the Athenian judges thus voted on the accused’s personality. Thirdly, in trials for treason legal norms situationally were deduced from the raison d’État. Identification of treason was based above all on the vague criterion of utility. Hence, the opponents above all struggled for interpretive predominance in political decisions.
Nevertheless, it would be inappropriate to discount this primacy of meaning over fact-based knowledge as a mere historical curiosity. At Athens, treason trials for treason not only served as arenas for contesting rivals. Rather, they also helped to establish criteria for desirable behaviour of politicians, instill the priority of common welfare over individual interests, correct decisions of the assembly, and strengthen the relationship between the citizens by defining external enmities. This way, the prosecution of treason in its different specifications functioned as an instrument for homogenising the political agents.
Katarina Nebelin, Rostock:
Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen
Nebelin discusses the mental-intellectual process of self-optimization. The idea that one must constantly work on oneself in order to cultivate and express personal excellence was already an ideal of the archaic Greek elite. Intellectual qualities, however, did not initially figure prominently. This changed with the rise of the sophists in the fifth century B.C. During this period, Athens produced a basic democratic and philosophical model of mental-intellectual self-optimization. This model, in turn, branched out into a multitude of different variants. All of them shared an elitist emphasis: self-optimization should be attained with individual effort. Differences revolved primarily around two axes: the reach of the concept and its relationship to contemporary social values. Thus, according to democratic ideology, every citizen received the opportunity to achieve his potential, to prove himself, and to win glory for his deeds – regardless of his social background or wealth. Philosophical concepts of self-optimization, in contrast, normally focused on more exclusive, more narrowly defined groups of people. They also were often based on the deliberate rejection of social values. Recognition by others, which was so central to the democratic concept of self-optimization, frequently played only a subordinate part. Some thinkers, however, proposed conceptions of excellence that were easier to reconcile with democratic values. The sophists, in particular, connected self-optimization to the values of the democratic community through rhetorical training. This raises questions about the intellectual-sociological constitution of Athens: could philosophical conceptions of self-optimization and the education offered by the philosophical schools make a positive contribution to “civil” self-optimization under a democracy, or did they remain critical of the political order?
Martin Dreher, Magdeburg:
Synopsis
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Katharina Wojciech, Freiburg) Katharina Wojciech, Freiburg: Einführung Maria
Überblick
(Katharina Wojciech, Freiburg)
Katharina Wojciech, Freiburg:
Einführung
Maria Osmers, Würzburg:
Herakles für alle? Vergangenheit als politisches Argument in der griechischen Antike
Eva Hagen, Paris/Freiburg: Glaubensgemeinschaften: Ursprungserzählungen und ethnische Identität in Rom und Latium
Katharina Wojciech, Freiburg:
Von Theseus zu Chabrias: Protagonisten historischer Erzählung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.
Angela Ganter, Erlangen:
Mythos, Ritual und Rationalisierung: Romulus und Remus auf den Lupercalia, oder: Das augusteische Rom als Hirtenidyll
Uwe Walter, Bielefeld:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Im Jahr 343 v. Chr. musste Aischines in einem Prozess zu dem Vorwurf Stellung beziehen, drei Jahre zuvor als Gesandter bei Philipp II. den athenischen Anspruch auf die Stadt Amphipolis unzureichend begründet zu haben. Der Redner verteidigte sich mit dem Verweis auf sein Argument, dass schon die Frau des Akamas, Theseus’ Sohn und einer der zehn attischen Phylenheroen, das Territorium von Amphipolis als Mitgift in die Ehe eingebracht habe.
Argumentationsstrategien wie diese begegnen auf der politischen Bühne nicht nur in Athen. Gründungsmythen und berühmte Heroen waren in der Antike fester Bestandteil der Alltagswirklichkeit, stifteten Identität und legitimierten bestehende oder erwünschte Zustände. Aber glaubte man tatsächlich an die auf diese Weise heraufbeschworene Vergangenheit? In der Sektion werden antike Zugänge zur eigenen und zur fremden Geschichte untersucht. Dabei werden nicht nur die Intentionen diskutiert, die den Verweisen auf Historie zugrunde lagen, sondern auch deren Wirkung und Rezeption. Die folgenden vier Perspektiven auf historisches Argumentieren rücken erstmalig die Gemeinsamkeiten zwischen der römischen und der griechischen Erinnerungskultur ins Zentrum des Interesses. Die gleichzeitige Betrachtung unterschiedlicher Räume, Epochen und Kontexte ermöglicht es, den vermeintlichen Gegensatz von Glaube und Wissen für die Antike aufzulösen und die Darstellung der Vergangenheit in politischen Kommunikationssituationen insgesamt als „geglaubte Geschichte“ zu begreifen.
Maria Osmers, Würzburg:
Herakles für alle? Vergangenheit als politisches Argument in der griechischen Antike
Herakles war in klassischer Zeit omnipräsent. Er schmückte Bauwerke, Vasen und Münzen, wurde in Kulten verehrt und trat prominent in der Dichtung auf. Durch seine Verbindung mit Olympia und seinen Platz in gesamtgriechischen Erzählungen galt und gilt er als der panhellenische Heros schlechthin. Zugleich aber betonten einzelne Poleis ihre jeweils eigene Beziehung zu Herakles und verfolgten dabei verschiedene politische Ziele. Die Bezugnahme auf den Heros konnte die Zugehörigkeit zur griechischen Welt unterstreichen, innenpolitische Interessen legitimieren oder Ansprüche gegenüber anderen Gemeinwesen begründen. Ein berühmtes Beispiel ist seine Vereinnahmung durch Sparta: Herakles wurde zum dorischen Heros ausgestaltet. Jedoch dominierte selbst dieses Narrativ konkurrierende Erzählungen keineswegs. Auch kleinere Poleis – dies zeigen etwa Münzen einer kleinasiatischen Symmachie aus dem beginnenden 4. Jh. – wählten Herakles als Bezugspunkt, wenn es ihnen darum ging, große Politik zu betreiben. Doch wie passte das alles zusammen? Wie gelang es den Griechen, die eigenen Geschichten mit Erzählungen anderer Gemeinschaften und überregionalen Narrativen in Einklang zu bringen? Ausgehend von der Gestalt Herakles zeichnet der Beitrag den spezifischen Umgang der Griechen mit ihrer Vergangenheit nach und zeigt, wie auch Widersprüchliches und für uns Unvereinbares in einer „geglaubten Geschichte“ zusammengeflochten werden konnte.
Eva Hagen, Paris/Freiburg:
Glaubensgemeinschaften: Ursprungserzählungen und ethnische Identität in Rom und Latium
Für das antike Latium sind zahlreiche Ursprungs- und Gründungsmythen bekannt, sowohl für das gesamte Volk der Latiner als auch für die einzelnen latinischen Städte: In der seit der Späten Republik kanonischen Erzählung hatte das Volk seinen Ursprung in dem Zusammenschluss der Ureinwohner Latiums mit den trojanischen Flüchtlingen, besiegelt durch die Hochzeit des Aeneas mit der einheimischen Königstochter Lavinia. Vor und neben dieser „Vulgata“ wiesen andere Erzählungen dem eponymen Heros Latinus die zentrale Rolle als Stammvater der Latiner zu. Die Städte erscheinen in der römischen Annalistik als Gründungen Alba Longas, der von Aeneas’ Sohn Ascanius gegründeten Mutterstadt, während sie gleichzeitig bis in die Kaiserzeit hinein über individuelle Gründungsgeschichten mit einheimischen, trojanischen und griechischen Helden verfügten. Wie sind diese teils einander ablösenden, teils gleichzeitigen und sich einander ausschließenden Erzählungen zu bewerten? Wie ist mit der Diversität der Narrative umzugehen, wenn der Glaube an eine gemeinsame Abstammung allgemein als zentrales Element ethnischer Identität betrachtet wird? Bedarf es für ihre Wirksamkeit als politisches Argument und für die ethnische Identitätsstiftung einer normativen Version und, wenn ja, wird diese zwischen den einzelnen latinischen Städten ausgehandelt oder von dem römischen Hegemon im Latinerbund verordnet – oder besteht eine „Glaubensfreiheit“, solange es andere integrative Faktoren wie die gemeinsame Sprache und gemeinsame Kulte gibt? In dem Vortrag wird die Wirksamkeit altehrwürdiger wie neu konstruierter Ursprungsnarrativen diskutiert und so ein aktuelles Bild des latinischen Ethnos als „Glaubensgemeinschaft“ gezeichnet.
Katharina Wojciech, Freiburg:
Von Theseus zu Chabrias: Protagonisten historischer Erzählung in der attischen Rhetorik des 4. Jh. v. Chr.
In der attischen Rhetorik waren Bezüge auf Geschichte Usus. In den einmal jährlich inszenierten Festen für die Gefallenen wurden dabei vor allem die gemeinsamen Erfolge der Bürgerschaft zelebriert, die gesamte Polisgemeinschaft erschien auf diese Weise als Protagonist der historischen Narration. In der Argumentation vor der Volksversammlung und in den Gerichten war es hingegen möglich, die Leistungen einzelner Athener stärker hervorzuheben. Konkrete Namen erleichterten die Erinnerbarkeit des Geschehenen, erhöhten die emotionale Teilhabe daran, konnten zur Nachahmung anspornen oder als vermeintliches Faktenwissen zur Glaubwürdigkeit des Gesagten beitragen. In diesem innenpolitischen Kontext waren es allerdings seltener mythische Heroen, sondern vielmehr Gesetzgeber wie Solon, Staatsmänner wie Aristeides oder Themistokles sowie berühmte Strategen wie Konon, Iphikrates, Timotheos und Chabrias, die innerhalb der Darstellung der athenischen Geschichte funktionalisiert wurden. Doch was wussten die Athener von ihren alten und neuen „Helden“ wirklich und wie ist die steigende Bedeutung der eigenen Zeitgenossen als paradeigmata zu erklären? Im Vortrag soll die Konkurrenzsituation zwischen der alt geglaubten Vergangenheit und der „history in progress“ unter Berücksichtigung möglicher Rationalisierungstendenzen diskutiert werden.
Angela Ganter, Erlangen:
Mythos, Ritual und Rationalisierung: Romulus und Remus auf den Lupercalia, oder: Das augusteische Rom als Hirtenidyll
Alljährlich im Februar wurde die stadtrömische Gesellschaft Zeuge eines seltsamen, archaisch anmutenden Rituals: Nachdem man Faunus, dem wilden Gott der Hirten, geopfert hatte, rannten seine Priester nackt durch das Zentrum Roms und schlugen zuschauende Frauen mit Fellriemen der Opfertiere. Taten sie dies, um die Fruchtbarkeit der Frauen zu erhöhen? Rannten die Priester um den Palatin als Ursprungshügel der Stadt, um diese in kreisförmigem Umlauf zu reinigen? Rationalisierende Diskurse um die Bedeutung des Festes entbrannten bereits in spätrepublikanischer Zeit. Anhand von Ursprungserzählungen versuchte man zu deuten, was nicht mehr in die Lebenswelt der antiken Millionenstadt zu passen schien. Oder gerade doch? Ablehnende Haltungen verschiedener Intellektueller wie Cicero, die den lasziven Charakter des Festes verurteilten, kontrastieren mit der Selbststilisierung des augusteischen Rom als Hirtenidyll. Über Romulus und Remus wurde das Fest in der Gründungszeit der Stadt verankert. Erinnerungsorte wie der Palatin, das Forum Romanum und das Lupercal als der Höhle, in der die Zwillinge gesäugt worden sein sollen, verflochten als Schauplätze des Festes scheinbar jahrhundertealte Traditionen mit gegenwärtigem Ritual. Der Beitrag hinterfragt, inwiefern man hier rituellen Vollzug und rationalisierende Geschichtsbetrachtung voneinander trennen kann und inwiefern all dies in „geglaubter Geschichte“ zusammenfließt.
Abstracts (English Version):
In 343 BC, Aeschines had to explain himself before the court against accusations that he had not adequately established the Athenian claims to the city of Amphipolis while he was part of a delegation to Philip II three years earlier. The orator defended himself by referring to his argument that Acamas, the son of Theseus and eponymous hero of one of the Attic tribes, had already acquired the territory of Amphipolis for the Athenians as part of the dowry of his wife.
Similar arguments can be found in numerous political debates in antiquity. Foundation myths and famous heroes were integral parts of everyday life, created identity and authorized existing or desired conditions. But did the people actually believe in the stories that were told about the past in these situations? In this session, we examine the approaches of ancient societies to their own history and the history of others. Besides the intentions, we discuss the effects and reception of various references to the past. Four different perspectives on historical argumentation shift the focus of research to the similarities between Roman and Greek cultures of remembrance for the first time. By simultaneously analyzing diverging spaces, eras, and contexts, we will thereby resolve the apparent contradiction between faith and knowledge for the Classical Antiquity: All representations of the past in political communication should be understood as “believed history”.
Maria Osmers, Würzburg:
“Everyone’s Herakles? The Past as a Political Argument in Ancient Greece”
In the classical period, Herakles was omnipresent. His picture decorated buildings, vases and coins, he was worshiped in cults, and he frequently appeared in ancient poetry. Due to his connection to Olympia and his prominence in numerous tales from all over the Greek world, Herakles represented and still represents the Panhellenic hero par excellence. At the same time, individual poleis emphasized their own relation to Herakles and, thereby, pursued their own interests and objectives. References to Herakles could prove the city’s belonging to the Greek world, could authorize internal political interests, and could justify claims against others. A famous example of such an appropriation can be found in Sparta: Herakles was designed as a Dorian hero. But even this narrative did not suppress conflicting accounts from elsewhere. Coins of an alliance of cities in Asia Minor from the beginning of the fourth century demonstrate that smaller poleis also preferably chose Herakles as a reference point when it came to high politics. But how does this all fit together? How did the Greeks manage to harmonize their own stories with tales of other communities and with transregional or Panhellenic narratives? Based on the figure of Herakles, my paper traces the specific way of handling the past in ancient Greece and reveals how conflicting and seemingly incompatible aspects could be brought together in one and the same “believed history”.
Eva Hagen, Paris/Freiburg:
Communities of Faith: Narratives of Origin and Ethnic Identity in Rome and Latium
Numerous origin and founding narratives are known for ancient Latium, both for the Latins as a whole and for the individual Latin cities. In the canonical narrative since the Late Republic, the people originated in the integration of the native inhabitants of Latium and the Trojan refugees, a union sealed by the marriage of Aeneas with the local king’s daughter, Lavinia. Prior to and concurrent with this “vulgate”, other narratives give the central role of progenitor of the Latins to the eponymous hero Latinus. The cities appear in the Roman annalistic tradition as being founded by Alba Longa, the metropolis built by Aeneas’ son Ascanius, while at the same time possessing their own foundation tales up to the Imperial era, with indigenous, Trojan, and Greek heroes. How are these narratives – some succeeding others, some running concurrently and contradicting each other – to be evaluated? How should the diversity of narratives be tackled when the belief in a common ancestry is generally viewed as a central element of ethnic identity? For its effectiveness as a political argument and for the formation of ethnic identity, is a normative version required? If so, is this negotiated between the individual Latin cities or decreed by the Roman hegemon within the Latin League? Or, as long as other integrative elements exist, such as a common language and common cults, are we dealing with “freedom of belief”? The paper discusses the effectiveness of time-honoured and newly constructed origin narratives, giving an up-to-date picture of the Latin ethnos as a “community of faith”.
Katharina Wojciech, Freiburg:
From Theseus to Chabrias: Protagonists of Historic Narrative in the Attic Oratory of the 4th Century B.C.
In Attic oratory historic references were common. During the annual public funeral ceremonies for the fallen warriors the collective success of all Athenians was particularly celebrated. Like that, the polis-community as a whole appeared as the protagonist of the historic narration. However, when speaking to the Assembly or a court of law, it was possible to emphasize the achievements of single Athenians. Personal names made it easier to remember events, to increase the emotional participation, to spur imitation or, as alleged factual knowledge, to contribute to the credibility of what had been said. In this domestic context, however, mythical heroes were hardly named. Instead, legislators like Solon, statesmen like Aristides or Themistocles as well as famous strategists like Conon, Iphicrates, Timotheus, and Chabrias were instrumentalized. But what did the Athenians really know about their old and new “heroes”? And how is the increasing significance of their own contemporaries as paradeigmata to be explained? Taking into account possible tendencies of rationalization, this contribution discusses the competition between the presumed old past and the “history in progress”.
Angela Ganter, Erlangen:
Myth, Ritual, and Rationalization: Romulus and Remus at the Lupercalia, or: The Idyll of Augustan Rome
Every year in February, Rome experienced a strangely archaic ritual. After having sacrificed to Faunus, the wild god of the shepherds, his priests were running naked along the streets of the Roman city centre, and they beat female spectators with laces of the victims’ skin. Did they do that to enhance their fertility? Did the priests run around the Palatine, said to be the nucleus of the settlement, in order to purify the town? Rationalizing accounts discussing the meaning of the festival already emerged in Republican Rome. By referring to the origins of their society, the Romans tried to explain phenomena that were incompatible with the environment of the metropole. Were they really? Intellectuals like Cicero condemned the lascivious character of the Lupercalia. However, positions like these collide with the self-representation of Augustan Rome as an idyll. With Romulus and Remus, the festival was anchored in the foundation era of the city. Memorials like the Palatine, the Forum Romanum, and the Lupercal – the cave where the twins were said to have been suckled – combined presumably centuries-old traditions with the places where the festival was celebrated. This contribution tries to decipher the interwoven structures of rituals and rationalization, or, to say it differently, how these aspects created a “believed history”.