September
Überblick
(Barbara Potthast, Köln, Nina Schneider,
Überblick
(Barbara Potthast, Köln, Nina Schneider, Köln)
Silke Strickrodt, London:
Sticken für die christliche Mission: Mustertücher als Quelle für die Erfahrungswelten afrikanischer Kinder in Sierra Leone, 1820er–1840er
Katharina Stornig, Mainz:
Die Kindheit des Sklaven/der Sklavin: Repräsentationen ostafrikanischer Sklavenkinder in christlichen Medien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Barbara Potthast, Köln:
Die Repräsentation von Kindern und Jugendlichen im Paraguaykrieg (1864/5–1870)
Vanessa Höse, Köln:
Gefährlich und gefährdet: Straßenkinder im Fokus der argentinischen Magazinpresse, 1900–1920
Nina Schneider, Köln:
Die fotografische Repräsentation von Kinderarbeit in Brasilien im frühen 20. Jahrhundert
Abstracts:
Silke Strickrodt, Birmingham:
Sticken für die christliche Mission: Mustertücher als Quelle für die Erfahrungswelten afrikanischer Kinder in Sierra Leone, 1820er-1840er
Der Vortrag diskutiert die Repräsentation von Kindern durch christliche Missionsgesellschaften in der britische Kolonie Sierra Leone in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen dabei Mustertücher, die von afrikanischen Mädchen in Missionsschulen angefertigt und von den Missionaren an Unterstützer/innen der Mission in Großbritannien geschickt wurden. Diese Tücher sollten Zeugnis von der Lernfähigkeit der Kinder und der erfolgreichen Arbeit der Missionare geben. Als direkte, von afrikanischen Kindern stammende Quellen sind die Tücher einzigartig, doch was können solche materielle Quellen oder „Textil-Dokumente“ über die Erfahrungs- und Lebenswelten dieser Kinder in den Missionsschulen aussagen? Im Vortrag werden der Entstehungskontext wie die Nutzungsgeschichte dieser Tücher untersucht, wobei der Instrumentalisierung von Kindern für Werbezwecke durch die Missionare im Kontext der Neubewertung von Kindheit in Europa in dieser Zeit besondere Aufmerksamkeit gilt.
Katharina Stornig, Mainz:
Die Kindheit des Sklaven/der Sklavin: Repräsentationen ostafrikanischer Sklavenkinder in christlichen Medien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Der Vortrag von Katharina Stornig analysiert die Repräsentation von Sklavenkindern aus dem nordöstlichen Afrika in deutschsprachigen Missionszeitschriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seit der Jahrhundertmitte propagierten vor allem katholische Gruppen die Expansion der Missionstätigkeit im Inneren Afrikas mit Verweis auf beides, die Rettung von Seelen und die Befreiung von Körpern aus Sklaverei und Sklavenhandel. Dabei standen insbesondere Kinder im Zentrum der Argumentation: Die missionarischen Werbeschriften fokussierten häufig auf Sklavenkinder, die sie zum einen als unschuldige Opfer grausamer Erwachsener und zum anderen als besonders empfänglich für die christliche Unterweisung repräsentierten. Die Missionen druckten und verbreiteten zahlreiche Berichte aus Afrika, mittels welchen sie die Schicksale von Sklavenkindern für eine deutsche Öffentlichkeit glaubwürdig darstellen und um finanzielle Unterstützung werben wollten. Dabei handelt es sich nicht nur um gedruckte (Kurz-)Biografien, Augenzeugenberichte, Fotos und literarische Erzählungen von Sklavenkindheiten, sondern vereinzelt auch um (vermeintliche) Selbstzeugnisse, Kindheitserinnerungen und Briefe ehemaliger Sklaven und Sklavinnen. Der Vortrag setzt hier an. Im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit ausgewählten Zeitschriften („Jahresbericht des Vereins zur Unterstützung der armen Negerkinder“, „Das Negerkind“, „Echo aus Afrika“), sollen deren Möglichkeiten und Grenzen als historische Quellen diskutiert werden. Es wird argumentiert, dass Teile dieser Zeitschriften – trotz ihrem propagandistischen und oft stereotypen Charakter – auch wertvolle Einblicke in die Leben und Erfahrungen einer bislang von der Geschichtswissenschaft nur wenig beachteten Gruppe von Kindern in außereuropäischen Gesellschaften erlauben.
Barbara Potthast, Köln:
Die Repräsentation von Kindern und Jugendlichen im Paraguaykrieg (1864/5-1870)
Während des sog. Paraguay- oder Tripel Allianz Krieges (1864/5 – 1870), des blutigsten Krieges in Lateinamerika im 19. Jh., wurden auf paraguayischer Seite in den letzten beiden Kriegsjahren Kinder und Jugendliche eingezogen. Um der Gegenseite über die Schwäche und Dezimierung des paraguayischen Heeres zu täuschen, kämpften Kindersoldaten in einer der letzten Verteidigungsschlachten mit angeklebten Bärten. Bereits während des Krieges entbrannte in der Propaganda sowohl der Alliierten als auch der Paraguayer eine Debatte über den Einsatz von Kindersoldaten, die zur Untermauerung der jeweiligen politischen Positionen diente. Der Vortrag wird diese Debatte anhand von Zeitungsmeldungen, Bildmaterial sowie Memoiren nachzeichnen.
Vanessa Höse, Köln:
Gefährlich und gefährdet: Straßenkinder im Fokus der argentinischen Magazinpresse, 1900-1920
Im Kontext von Urbanisierung, Masseneinwanderung und Sozialer Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmete sich die argentinische Presse extensiv Fällen von Straßenkindern, Familiendramen, Waisenkindern, Kinderarbeit und straffälligen Kindern im städtischen Raum. Insbesondere Fragen der Delinquenz, Internierung und Reformierbarkeit von Kindern und Jugendlichen geriet in den Fokus der Bildpresse. Kinder wurden dabei zu einer Projektionsfläche für die gesellschaftlichen Umbrüche und Probleme der urbanen Gegenwart, über die sich Diskurse von Ökonomie, Pädagogik, Famile, Geschlecht, Kriminalistik und Hygiene entfalteten.
Der Vortrag wird vor allem auf bildanalytischer Ebene zeigen, wie über die Frage der Kindheit defizitäre Familienverhältnisse problematisiert, die Rolle von Wohlfahrtorganisationen evaluiert und letztlich die Notwendigkeit eines fürsorglichen Staats behauptet und durchgesetzt werden konnte. Die Problematisierung von Kindern und Jugendlichen aufgrund sozialer Prekarität und deviantem Verhalten gewann dadurch im argentinischen Magazinjournalismus biopolitischen Charakter und wurde zum Fluchtpunkt von Debatten um die Verfasstheit der Nation.
Nina Schneider, Köln:
Die fotografische Repräsentation von Kinderarbeit in Brasilien im frühen 20. Jahrhundert
Der Beitrag diskutiert fotografische Repräsentation von Kinderarbeit Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts in Brasilien. Kinderarbeit war in Brasilien lange Zeit kein gesellschaftlich relevantes Thema. Erst in den 1970er Jahren formierten sich erste soziale Bewegungen gegen Kinderarbeit. Bis heute fehlen detaillierte Forschungen, wie viele Kinder zur Jahrhundertwende arbeiteten, um welche Altersgruppen es sich handelte und in welchen Sektoren sie eingesetzt wurden. Unerforscht ist zudem, ob bestimmte Tätigkeiten Kindern einer bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppe bzw. einem Geschlecht zugeteilt wurden. Der Beitrag zeigt die Schwierigkeit auf, geeignete Quellen über Kinderarbeit zu finden und geht der Frage nach: Inwieweit kann Fotomaterial die historische Forschungslücke schließen insbesondere wenn wenig (oder keine) weitere Quellen zur Triangulierung vorliegen? Was sind Vor- und Nachteile von Bildquellen, speziell inwiefern erhellt oder verdeckt die fotografische Darstellung die Handlungsmacht von Kindern? Fotos, so die Hypothese, haben nicht nur das Potenzial, zu einer mehrstimmigeren Geschichtsschreibung beizutragen, sondern helfen, anachronistische moralische Bewertungen kritisch zu reflektieren und zu differenzierteren Ergebnissen zu gelangen. So zeigen Fotos aus verschiedenen Archiven in Rio und Sao Paulo, dass die Arbeitsbedingungen sehr stark variierten und dass, obgleich Kinder häufig physisch ausgebeutet wurden, sie Ausbildungen erhielten die mit einer Lehre vergleichbar sind. Das Fotomaterial hilft somit Fragen aufzuwerfen und Ambivalenzen aufzuzeigen, welche bestmöglich durch weitere Quellen eindeutiger geklärt werden können.
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
Phil-E
Philosophenturm
Überblick
(Jürgen Kocka, Berlin) Jürgen Kocka, Berlin: Einleitung,
Überblick
(Jürgen Kocka, Berlin)
Jürgen Kocka, Berlin:
Einleitung, Schlussdiskussion
Ute Deichmann, Köln:
Der Beginn deutsch-israelischer Zusammenarbeit in den Naturwissenschaften – Motive, Erfolge, moralische Kosten und Hintergedanken
Jürgen Renn/Thomas Steinhauser, Berlin:
Wendepunkte der deutsch-israelischen Kooperation in den Naturwissenschaften
Gabriel Motzkin/Yfaat Weiss, Jerusalem:
Wissensexport als Außenpolitik: zur Rolle der Geisteswissenschaften in den deutsch-israelischen Beziehungen
Jenny Hestermann, Frankfurt am Main:
Fördern auf Augenhöhe? Die Rolle der Stiftungen in der deutsch-israelischen geisteswissenschaftlichen Kooperation
Abstract:
Allgemeine Zeitgeschichte und Wissenschaftsgeschichte enger zu verzahnen ist ein wichtiges Desiderat der Forschung. Dazu soll die Sektion beitragen. Wie wirkten Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bei den belasteten Neuanfängen in den Beziehungen zwischen der BRD und Israel seit den1950er Jahren zusammen? Üblicherweise wird angenommen, dass die Naturwissenschaften dabei die Rolle eines „Eisbrechers“ spielten, dessen sich die Politik bediente. Trifft diese Sichtweise zu? Was bedeutete die politisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit für die Weichenstellungen, die Form und vielleicht auch die Inhalte der wissenschaftlichen Arbeit, zunächst in den Natur- und Technik-, bald auch in den Geisteswissenschaften? Wie beeinflussten sich die Entwicklungen in den Natur- und den Geisteswissenschaften gegenseitig? Wie abhängig war, wie unabhängig blieb Wissenschaft? Welche Rolle spielten die Öffentlichkeiten und nicht-staatliche Organisationen wie Stiftungen und die Max Planck- Gesellschaft?
Derzeit sind Forschungen zu dieser Thematik im Gange: in Jerusalem (Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum, Van Leer Institut), in Beer-Sheva (Ben Gurion Universität), in Frankfurt (Fritz Bauer-Institut) und in Berlin (im Zusammenhang eines Forschungsprogramms zur Geschichte der MPG am MPI für Wissenschaftsgeschichte). Die Sektion soll Zwischenergebnisse darstellen, miteinander in Beziehung setzen und das Thema der kritischen Diskussion öffnen.
Im ersten Beitrag (Deichmann) wird der Beginn der deutsch-israelischen Kooperationen in den Naturwissenschaften genauer untersucht. Welche Motive und Absichten standen hinter den frühen naturwissenschaftlichen Beziehungen? Die von wenigen Wissenschaftlern initiierte Kooperation, die bald politische Unterstützung fand, führte innerhalb weniger Jahre zu einer groß angelegten Zusammenarbeit. Diese basierte z.T. auf stilisierten und unzutreffenden Vorstellungen über die angebliche Distanz deutscher Wissenschaftler und von Institutionen wie der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft gegenüber dem Nationalsozialismus. Die naturwissenschaftliche Zusammenarbeit entwickelte sich von einer vor allem politisch und materiell motivierten in eine inhaltlich fundierte und kooperative Forschung mit hohem wissenschaftlichen Standard.
Im zweiten Beitrag (Renn/Steinhauser) werden verschiedene Phasen der bilateralen naturwissenschaftlichen Projekte vom Ende der 1950er bis in die 1980er Jahre identifiziert. Aus institutionell und fachlich sehr begrenzten Anfängen entwickelte sich schrittweise ein stabiles, vielfältiges Kooperationsnetzwerk. Wie wirkten politische und wissenschaftliche Faktoren zusammen? Blieb das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik stabil oder gab es Veränderungen? Welche Rolle spielten dabei das Wissen über die Ereignisse von Gestern und der Glaube an die Möglichkeiten von Morgen?
Im Vergleich zu den Naturwissenschaften setzte die bilaterale Kooperation in den Geisteswissenschaften später ein. Im Zuge der Ausarbeitung von Richtlinien für Beziehungen mit Deutschland in den Sektoren Bildung und Kultur war es noch in den frühen 1960er Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen in der israelischen Knesset und zur Verabschiedung von Bestimmungen gekommen, die eine Zusammenarbeit mit Deutschland auf diesem Gebiet nur in sehr beschränktem Maße zuließen. Wie konnte trotzdem spätestens zu Anfang der 1970er Jahre auch eine erhebliche deutsch-israelische Forschungskooperation in den Geisteswissenschaften zustande kommen, vor allem in den Fächern Germanistik und Geschichte? Welches waren die treibenden Kräfte und die maßgeblichen Akteure, welches die Hindernisse und Einschränkungen – mit welchem Ergebnis und mit welchen Auswirkungen, nicht nur, aber auch für die Wissenschaften und Wissenschaftler? Damit befassen sich der dritte und vierte Beitrag.
Der dritte Beitrag (Motzkin/Weiss) richtet sein Interesse auf die deutsch-israelischen Kulturbeziehungen, auf Strategien der deutschen und der israelischen Wissenschaftspolitik sowie auf Reaktionen in der öffentlichen Meinung besonders Israels. Dazu werden die Situationen an der Hebräischen Universität in Jerusalem und der Universität Haifa als konkrete Beispiele kurz skizziert, wo deutsche intellektuelle Traditionen stark waren. Es wird untersucht, aus welchen Gründen die Wirkung der Kooperation mit der deutschen Geschichtswissenschaft in Israel bedeutender war als die mit der Germanistik. In welchem Verhältnis standen israelischen Erwartungen und deutsche auswärtige Kulturpolitik? Hat diese die Kulturlandschaft Israels beeinflusst und wenn ja, wie?
Der vierte Beitrag (Hestermann) beschäftigt sich mit den Bedingungen und Förderungspolitiken der staatlichen wie privaten deutschen Stiftungen, die am Aufbau der geisteswissenschaftlichen Kooperation mit Israel seit den späten 1960er Jahren beteiligt waren. Er geht der Frage nach, wie die von deutscher Seite gewährte Finanzierung von Forschungen in Germanistik und Geschichtswissenschaft die Entstehung wissenschaftlicher Netzwerke zwischen Israel und Deutschland beeinflusste. Welche Erwartungen und Motive standen am Anfang der Förderungspolitik und von wem wurde diese maßgeblich geleitet? Wie wandelte sich beispielsweise die politische Agenda der Minerva-Stiftung im Lauf der Jahrzehnte? Welches waren die institutionellen Hintergründe, Interessen und Erwartungen des früheren BMFT (später BMBF), des Außenministeriums, der DFG sowie des DAAD?
Ziel der Sektion ist es, eine kritische Bestandsaufnahme der Geschichte der deutsch- israelischen Wissenschaftsbeziehungen vorzunehmen, mit Schwerpunkt auf der Zeit bis in die 1970er Jahre aber perspektivisch darüber hinaus. Es geht um Wissenschaftsgeschichte als Zeitgeschichte.
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Sebastian Gehrig, Oxford, Ned Richardson-Little,
Überblick
(Sebastian Gehrig, Oxford, Ned Richardson-Little, Exeter)
Katharina Kunter, Göttingen:
Säkularisierungskitt und Antikriegswaffe? Christentum und Menschenrechte nach 1945
Ned Richardson-Little, Exeter:
Das Scheitern der Sozialistischen Menschenrechte
Sebastian Gehrig, Oxford:
Der Kampf um das menschenfreundlichere System: Menschenrechte, das geteilte Deutschland und die Vereinten Nationen nach 1945
Fabian Klose, Mainz:
Zur Idee der Humanitären Intervention im Zeichen des Kalten Krieges, 1945–1989
Annette Weinke, Jena:
Kommentar
Abstract (scroll down for English version):
Menschenrechte und internationale Rechtsnormen haben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer gesellschaftlichen Legitimitätskraft einen nie dagewesenen Einfluss erlangt. Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat Menschenrechtsrhetorik und internationales Recht nochmals an Deutungskraft gewonnen. Gleichzeitig sind die rechtsphilosophischen, ideologischen und religiösen Grundlagen, aus welchen Menschenrechtskonzeptionen entstanden sind, seit jeher heftig umstritten geblieben. Durch die Formulierung von Menschenrechten in säkularer und juristischer Sprache sind die Ursprünge heutiger Menschenrechtsrhetorik zugleich öffentlich weitgehend in Vergessenheit geraten. Neuere Untersuchungen haben ideologische Konflikte um widerstreitende Menschenrechtsideen, die Idee der humanitären Intervention und den Einfluss der Kirchen sowie religiös und politisch motivierten Menschenrechtsaktivismus in den Mittelpunkt gestellt. Wie entwickelten sich sozialistische Menschenrechtskonzepte entgegen liberal-demokratischer Rechtsstaatsideen? Welche Rolle spielten die Kirchen, christliche Gruppen und Bewegungen in der Etablierung von Menschenrechtsvorstellungen in West und Ost? Wie wurden konkurrierende Menschenrechtskonzeptionen von Staaten und sozialen Bewegungen politisch instrumentalisiert? Wurde die sogenannte Menschenrechtsrevolution der 1970er Jahre mehr durch Dritte-Welt-Befreiungsbewegungen an deutsche und europäische Debatten herangetragen als dass sie im westlichen Kontext entstand? Und schließlich: inwiefern wurden Debatten um Menschenrechte mehr durch Glaubens- und politische Überzeugungsfragen als juristische Konzepte strukturiert und geprägt? Die vier Vorträge fragen nach der politischen und religiösen Inanspruchnahme von Menschenrechtsideen und internationalen Rechtsnormen. Diese Sektion begreift Menschenrechte daher als diskursiven Rahmen, in welchem ideologische und religiöse Konflikte um Deutungshoheiten in der Zeit des Kalten Kriegs ausgetragen wurden.
Abstract (English version):
Human rights and international law garnered increasing popularity since the end of the Second World War. Since the end of the Cold War, the language of human rights has reached unprecedented social and political legitimacy. At the same time, however, the religious, legal, and ideological origins of competing ideas of human rights fell into oblivion. The secular and legal language of today’s human rights debates has helped obscuring their conflict-ridden history. Recent scholarship has thus emphasised the role of ideological conflicts, church and religious activism, and social movements in the emergence of human rights as a political language and part of international law. How did socialist human rights concepts develop alongside and in conflict with liberal-democratic ideas? What was the role of the churches, religious groups and activists in the negotiation of human rights language? How were human rights politically employed and by whom? Was the so-called human rights revolution of the 1970s much more triggered by Third World liberation ideology and decolonisation movements than Western governments? And finally: Did religious and ideological beliefs structure the evolution of human rights language and international law much more than legal thought? This section explores human rights concepts, their political language, and religious and ideological roots as an integral part of the Cold War in Germany and beyond.
Zeit
(Mittwoch) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Isabel Heinemann, Münster) Isabel Heinemann, Münster: Einleitung:
Überblick
(Isabel Heinemann, Münster)
Isabel Heinemann, Münster:
Einleitung: Paar, Familie, Bevölkerung? Der Perspektivwechsel von der Eugenik zur Humangenetik und die (Re-)Aktualisierung religiöser Deutungsmuster
Claudia Roesch, Münster:
Bevölkerungssteuerung und Familienberatung in den USA: Das »Clergymen Advisory Council« von Planned Parenthood und die Debatte um Familienplanung in den 1950er und 1960er Jahren
Britta Marie Schenk, Kiel:
Eltern, Experten und Sterilisation: Humangenetische Beratung zwischen Glauben und Wissen in den 1960er bis 1980er Jahren
Till Kössler, Bochum:
Debatten um Vererbbarkeit von Begabung nach 1945
Gabriele Lingelbach, Kiel:
Kommentar
Abstracts:
Durch den Vergleich der Diskussionen um Vererbung von Begabung und „Behinderung“, um Lenkung von Reproduktion und Bevölkerungswachstum in den USA und der Bundesrepublik der 1950er bis 1980er Jahre soll herausgearbeitet werden, ob die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auch als Revitalisierung religiöser Legitimationsstrategien gelesen werden kann. Die Debatten legen dies nahe, wurden doch Vorstellung von „Familie“, dem Wert des Individuums und der Verantwortung des Einzelnen für das Wohl der Gemeinschaft mit religiösen Leitbildern verschmolzen oder diskursiv an diesen ausgerichtet. Am Ende der Sektion soll die Einschätzung stehen, inwiefern der Aufstieg von Wissensgesellschaften eine neue Konjunktur religiöser Werte und Begründungszusammenhänge implizierte, oder ob letztere nur zur Vermittlung kulturell und sozial kontroverser Botschaften genutzt wurden.
Folgende Fragen stehen im Zentrum der Überlegungen: (1) Wie wurde in Humangenetik, Begabungsforschung und Bevölkerungspolitik das Verhältnis von Glauben und Wissen verhandelt? (2) Welche religiös grundierten Vorstellungen determinieren die Vorstellungen von und Debatten um Begabung, Behinderung, und Reproduktion in Deutschland und den USA nach 1945? (3) Wann rekurrierten die Akteure auf die vermeintliche wissenschaftliche Nachprüfbarkeit, wann bemühten sie „Überzeugungen“ und „Glaubensfragen“? (4) Was sagt dies über Prozesse der Verwissenschaftlichung und der Pluralisierung von Normen in modernen Gesellschaften aus?
Isabel Heinemann, Münster:
Einleitung: Paar, Familie, Bevölkerung? Der Perspektivwechsel von der Eugenik zur Humangenetik und die (Re-)Aktualisierung religiöser Deutungsmuster
Nach dem Zweiten Weltkrieg löste die Humangenetik die durch den Nationalsozialismus diskreditierte Eugenik und Rassenforschung als Wissenschaft vom Menschen ab. Damit verbunden war der Anspruch, gestützt auf „moderne“ wissenschaftliche Erkenntnis, individuelle Reproduktion, Gesundheit und Intelligenz sowie die Entwicklung des Bevölkerungswachstums rational zu steuern. Innerhalb dieses Paradigmenwechsels kam kirchlichen Arbeitskreisen als Diskussionsforen und Beratungsinstanzen eine wichtige Funktion zu. Die Einleitung umreist die Einleitung die Leitfragen des Panels nach dem Zusammenhang zwischen religiöser Legitimation und Verwissenschaftlichung und exemplifiziert sie am Beispiel der Debatten um eugenische Sterilisation in der frühen BRD. Hierbei fragt sich insbesondere, inwiefern religiöse Deutungsmuster an die Stelle rassenanthropologischer Bewertungen traten und inwiefern die nationalsozialistische Rassenpolitik als Referenzkategorie der Debatten um Bevölkerungssteuerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diente.
Claudia Roesch, Münster:
Bevölkerungssteuerung und Familienberatung in den USA: Das Clergymen Advisory Council von Planned Parenthood und die Debatte um Familienplanung in den 1950er und 1960er Jahren
Planned Parenthood nutzte bis in die frühen 1960er Jahre die Legitimation durch kirchliche Würdenträger, um öffentliche Anerkennung und politische Fördergelder zu erhalten. Gleichzeitig begriffen protestantische und jüdische Geistliche ihre Unterstützung als Möglichkeit, sich besonders in Abgrenzung vom Katholizismus als moderne Religionen zu präsentieren, die in der Lage waren wissenschaftliche Methoden der Bevölkerungssteuerung in ihr Moralverständnis zu integrieren. Daher untersucht dieser Vortrag das Wechselverhältnis zwischen Moderne, Wissenschaft und religiöser Ethik zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Er zeigt die Spannungen zwischen einem konservativen Moralverständnis und dem Versuch, soziale Probleme wie Armut und ethnische Ungleichheiten durch Familienplanung zu bekämpfen, etwa in der Frage, ob Verhütungsmittel unverheirateten Frauen zugänglich gemacht werden sollten.
Britta Marie Schenk, Kiel:
Eltern, Experten und Sterilisation: Humangenetische Beratung zwischen Glauben und Wissen in den 1960er bis 1980er Jahren
Die Analyse der humangenetischen Beratung kann erklären, wie das Verhältnis von Glauben und Wissen in der Risikobestimmung von als vererbbar betrachteten Krankheiten und der Aussprache von Heim- und Sterilisationsempfehlungen an Eltern behinderter Kinder stets neu verhandelt wurde. Glauben resultierte in der humangenetischen Beratung in erster Linie aus Vertrauen und schuf Raum für Deutungen, die einschneidende Konsequenzen für die Betroffenen nach sich zogen. Im Vortrag wird diese These auf drei Untersuchungsebenen diskutiert: (1) auf der Ebene des Glaubens der ratsuchenden Eltern an Expertentum und an humangenetische Technologien, (2) auf der Ebene der Diagnosefindung und Ursachenforschung, (3) auf der Ebene der Konsequenzen humangenetischer Diagnosen in Form von Heim- und Sterilisationsempfehlungen für Kinder mit geistigen Behinderungen. In der Kombination aller drei Ebenen wird die Ambivalenz gesellschaftlicher Liberalisierungsprozesse sichtbar, die auch zur Einschränkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen führen konnte.
Till Kössler, Bochum:
Debatten um Vererbbarkeit von Begabung nach 1945
Begabung und Intelligenz stiegen im 20. Jahrhundert zu Leitbegriffen der Anlage-Umwelt-Debatte auf. Wie wenige Begriffe erwarben sie eine besondere Sprengkraft an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik, Biologie und Gesellschaft. Aus einem vielfältigen und wenig festgelegten Sprechen über Talente, Genialität und Schwachsinn entwickelte sich eine Kontroverse darüber, ob Begabung in der Gestalt von Intelligenz als eine biologische, vererbbare Tatsache angesehen werden kann, oder ob sie eher als eine fluide, durch Umwelteinflüsse und Lernprozesse im Lebensverlauf formbare Eigenschaft angesehen werden muss. Der Vortrag fragt vor diesem Hintergrund nach der bisher kaum beachteten religiösen Dimensionen der Begabungsdebatten. Er untersucht die Auseinandersetzungen um Begabung und Intelligenz im Katholizismus und Protestantismus nach 1945 im Spannungsfeld von religiösen Menschenbildern, Vererbungstheorien und psychologischer Wissenschaft. Ein besonderer Fokus liegt auf der Ausgestaltung und dem Wandel der Begabtenförderung der christlichen Kirchen nach dem Ende des Nationalsozialismus.
Überblick
(Jessica Gienow-Hecht, Berlin, Friedrich Kießling,
Überblick
(Jessica Gienow-Hecht, Berlin, Friedrich Kießling, Eichstätt-Ingolstadt)
Friedrich Kießling, Eichstätt-Ingolstadt:
Einleitung: Von der »Haltung der Zurückhaltung« zur »Gegenmacht«? Außenpolitische Rollenbilder in der Bundesrepublik von Brandt bis Schröder
Frank Trommler, Philadelphia:
Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht
Bernhard Rieger, London:
Volkswagen als bundesdeutscher Sympathieträger und Konfliktherd. Deutsche und mexikanische Perspektiven auf den deutschen Exporterfolg
Bettina Fettich-Biernath, Erlangen-Nürnberg:
Präsenz ohne Einfluss? Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Friedens- und Entwicklungsmacht in der Zweiten UN-Entwicklungsdekade
Jessica Gienow-Hecht, Berlin:
Kommentar: Deutsche Rollenbilder im Vergleich. Der Blick von außen
Abstracts (scroll down for English version):
Frank Trommler, Pennyslvania:
Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht
Für die Analyse des außenpolitischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik zwischen 1969 und 2005 ist der Einbezug des Faktors Kultur deshalb von Bedeutung, weil er hilft, zwei für die Innen- wie die Außensicht bedeutsame Wandlungen genauer zu fassen:
1) Die wachsende Akzeptanz der Schuldverantwortung für die NS-Vergangenheit als Basis einer neuen demokratischen Gesellschaft, zugleich als Basis eines gewandelten Begriffs von Kulturmacht, der sich von den Assoziationen mit dem nationalistischen Kulturimperialismus befreit hat.
2) Die aktive Außenwirkung der BRD als Faktor internationaler Kultur, etwas, wofür die politische Einbindung in den Westen vor 1970 nur den Satellitenstatus bereithielt, den Ausländer mit dem Bild der kulturellen tabula rasa nach dem NS verbanden. Mit dem Einklinken in die internationalen Wandlungen von Kulturbegriff und -praxis nach 1970, die der Kultur eine aktive Rolle gegen die politische Erstarrung des Kalten Krieges verschafften (KSZE-Akte), gelang eine neue Form kultureller Außenwirkung, die bei der Wiedervereinigung den alten nationalen Rollenbildern entgegenarbeitete.
Diese Hilfestellung von Kultur(politik) für die nicht nur diplomatisch-politische Anerkennung der Bundesrepublik in der Welt geschah allerdings nicht ohne Widerstände im AA. Zwar übte man dort das traditionelle Flaggezeigen nach 1949 mit Zurückhaltung, konzipierte aber auswärtige Kulturpolitik in der Folge der NS-Außenpolitik keineswegs neu. Diese Aufarbeitung, nach Brandts Kniefall 1970 zunächst stark von den Mittlerorganisationen praktiziert, erforderte den Abschied von Machtbehauptung zugunsten des Schuldeingeständnisses, blieb jedoch durch die ständige Demonstration der Machtposition gegenüber der DDR-Außenkulturpolitik bis 1990 im Bereich traditionellen Machtdenkens.
Erst als man im Ausland Deutschland nicht mehr im Narrativ von zwei Deutschländern fasste, fand auch das AA den vollen Zugang zu einem international (und stark europäisch) basierten Denken in kultureller Ausstrahlung, die ihre Dynamik aus der transkulturellen Vernetzung im globalen Kommunikationssystem gewinnt. Kulturelle Macht wird darin als Soft Power gemessen und im Wettbewerb wahrgenommen.
Bernhard Rieger, London:
Volkswagen als bundesdeutscher Sympathieträger und Konfliktherd. Deutsche und mexikanische Perspektiven auf den deutschen Exporterfolg
Dieser Vortrag analysiert Volkswagen als ein deutsches Paradeunternehmen, dessen Erfolge international sowohl Sympathien als auch Konflikte erzeugten und ein Schlaglicht auf die Stellung der Bundesrepublik in der Welt werfen. Die Nachkriegsgeschichte des Konzerns ermöglicht die Untersuchung von Rollenbildern und Machtdiskursen, um sich der vielschichtigen internationalen Präsenz der Bundesrepublik als Exportnation mit begrenzten machtpolitischen Ambitionen anzunähern.
Nach 1945 stieg VW rasch zu einem global operierenden Unternehmen auf, das als Symbol für die Bundesrepublik starkes internationales und heimisches Interesse auf sich zog. In den USA sicherte sich der Konzern in den Fünfzigern und Sechzigern außerordentliche, bis in die Gegenwart nachwirkende Sympathien, die auf dem Ruf des Käfers als niedlichem und ehrlichem Qualitätsprodukt beruhten. Dieser wirtschaftliche Erfolg besaß politische und kulturelle Bedeutung, da Volkswagen und sein Starprodukt in amerikanischen Augen die Transformation Westdeutschlands in ein westliches Gemeinwesen und somit in einen verlässlichen Bündnispartner versinnbildlichte. In Westdeutschland wurden amerikanische Sympathien für den Käfer ihrerseits als Indikator angesehen, dass die Bundesrepublik als friedfertige und machtferne Exportnation internationale Akzeptanz gewann. Spannungen prägten hingegen die Präsenz Volkswagens in Mexiko. Zwar fungierte der VW-Käfer auch hier aufgrund seiner Erschwinglichkeit und Zuverlässigkeit als Sympathieträger, doch betrachtete die mexikanische Öffentlichkeit das Unternehmen selbst mit Ambivalenz. In den Neunziger Jahren nahm Volkswagens Ruf als generöser Arbeitgeber Schaden, als das Management im Rahmen eines Arbeitskampfes die gesamte mexikanische Belegschaft entließ, um einen verschlechterten Tarifvertrag durchzusetzen. Mochte das machtbewusste Auftreten der Firma in Mexiko auch hohe Wellen schlagen, thematisierte die deutsche Presse derartige Episoden eher selten und trug so mit dazu bei, dass sich das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Exportnation mit begrenzten Machtambitionen trotz zunehmender globaler Geltung verstetigte.
Bettina Fettich-Biernath, Nürnberg:
Präsenz ohne Einfluss? Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Friedens- und Entwicklungs- macht in der Zweiten UN-Entwicklungsdekade
Bescheiden, gutmütig und unpolitisch, suggerierte das Foto. Zur Freude des Botschafters der Bundesrepublik in Tansania machte die Szene „Schlagzeilen“: Erhard Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, schwang sich während seines Besuchs im März 1970 auf eines der 100 mitgebrachten Fahrräder. Im Gegensatz zum Außenminister der DDR, der wenig später anreiste, verzichtete der Bonner Minister auf „protokollarischen Pomp“ und die Zurschaustellung von Symbolen staatlicher Souveränität. In den Augen des bundesrepublikanischen Botschafters lag darin ein klarer Punktgewinn für Bonn.
Von einer Friedens- und Entwicklungsmacht zu sprechen, mag als Widerspruch in sich anmuten. Zugleich ist mit dieser Formulierung die Kernfrage angeschnitten, den Begriff der Macht zu historisieren und sich mit der Genese unseres heutigen Verständnisses auseinanderzusetzen. Die staatliche Entwicklungspolitik kann in besonderem Maße als Schlüssel zum Selbstverständnis der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen dienen, da ihr Verhältnis zur Außenpolitik kontinuierlich reflektiert wurde; per definitionem sollte Entwicklungs- von Außenpolitik abgekoppelt und von nationalstaatlichen Interessen befreit werden.
Die erste sozial-liberale Koalition forcierte den Gedanken, Entwicklungs- und Friedenspolitik als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen. Welche Erwartungen wurden daran geknüpft, welche Bedeutung den Herausforderungen wie einer Neuen Weltwirtschaftsordnung oder dem internationalen Terrorismus zugeschrieben, die heute für eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs in den 1970er Jahren stehen? Wie spielten Rüstungsexport und die Unterstützung ausländischer Polizeieinheiten auch durch die Bundeswehr in das Image der Bundesrepublik hinein? Der Vortrag argumentiert, dass Aushandlungsprozesse um Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und ein Dilemma internationaler Verantwortlichkeit entscheidend für das Bild der Bundesrepublik als Friedens- und Entwicklungsmacht waren.
Abstracts (English version):
Frank Trommler, Pennyslvania:
Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht
Culture has been a particularly relevant factor in two developments that have shaped the understanding of West German foreign policy at home and abroad between 1969 and 2005:
1) The acceptance of guilt and responsibility for the Nazi past as the basis of a new democratic society as well as the basis for the transformation of the concept of cultural power that has been freed from the associations with nationalistic cultural imperialism.
2) The outreach of the Federal Republic as a player on the international cultural scene, something that before 1970 was thwarted by the assumption of its satellite status in the American orbit and the image of a tabula rasa after the Nazi destruction of culture. By joining in the transformations of the concept and practice of culture/ cultural policy after 1970 which provided culture an active role against the political petrification of the Cold War (Helsinki Accords), the Federal Republic succeeded in gaining a new form of cultural profile that impeded the recurrence of old national stereotypes when the German unification occurred.
Yet the supporting role of culture/cultural policies for the international recognition of the Federal Republic that went beyond the mere political and diplomatic acceptance met with much resistance in the Foreign Ministry after its re-founding in 1949. While toning down the cultural flag waving the ministry spurned the rethinking of cultural diplomacy with regard to its abuse under National Socialism. After Brandt’s kneeling down at the Warsaw Ghetto memorial in 1970 such re-conceptualization, initially more in the hands of cultural organizations, meant dropping claims of cultural power in favor of confessions of national guilt. This exercise, however, remained incomplete due to the assertions of power against the claims of East German cultural diplomacy on the world stage.
Once the German narrative in other countries ceased to be the narrative of two Germanys, the Foreign Ministry engaged fully in the internationally (and strongly European) based thinking of a cultural outreach that gains its dynamic from working within the transcultural networks of global communication. Within these networks, cultural power is being pursued competitively as Soft Power.
Bernhard Rieger, London:
Volkswagen as a Source of Admiration and Conflict: International Perspectives on German Export Success
This paper analyzes Volkswagen as an exemplary German enterprise whose success generated both admiration and conflict and thus casts light on the Federal Republic’s global position. The company’s history grants opportunities to examine role models and power discourses that help identify the layers that have composed the Federal Republic’s international presence as an export nation with limited power political ambitions.
After 1945, VW quickly became a global enterprise, whose international operations attracted international and domestic attention. During the Fifties and Sixties, the company gained a lasting and exceptionally positive reputation in the USA due to admiration for the Beetle as a cute and honest quality product. This economic success possessed political and cultural significance, since the American public regarded VW and its star product as indicators of West Germany’s transformation into a Western country and hence trustworthy Cold-War ally. Back home in West Germany, American admiration was read as a marker of the Federal Republic’s gradual acceptance as a peaceful export nation with limited ambitions to political power. VW’s presence in Mexico, meanwhile, was characterized more strongly by tensions. While the Beetle functioned as a source of admiration due to its affordability and its quality, the Mexican public regarded the company itself ambivalently. In the Nineties, VW lost much of its previous reputation as a generous employer when the management fired all line workers during a strike to impose a less advantageous labour contract. Since the German press barely covered heavy-handed conduct of this kind, VW’s Mexican presence also provides insights into the mechanism that allowed the Federal Republic to retain an identity as an export nation with limited power ambitions despite its steadily expanding global presence.
Bettina Fettich-Biernath, Nürnberg:
Spreading Peace and Development: Self-Perceptions of the Federal Republic of Germany during the Second United Nations Development Decade
He was modest, open-minded and apolitical, according to a photography showing Erhard Eppler, Minister for Economic Cooperation of the Federal Republic of Germany (FRG), in a curious situation: In that picture, the Minister was riding one of the 100 bicycles that he had brought along to Tanzania on the occasion of his visit to the country in March 1970. The FRG’s ambassador delightedly reported that the incident had hit the headlines. In contrast to the Foreign Minister of the German Democratic Republic, who arrived shortly afterwards, Erhard Eppler had renounced any “pomp due to protocol” or showing off symbols of state sovereignty.
To characterise a state as a peace and development power might appear as a contradiction in terms. This first impression highlights the necessity of historicizing the concept of power. In terms of Germany’s role models in international relations, the analysis of the FRG’s Official Development Aid allows particular insights into the country’s self-perceptions, as discourse was continuously focusing on how development and foreign politics intertwined. By definition, development politics were considered detached from any foreign politics assumptions and thereby freed from the donor country’s national interests.
Which outcomes did the first social-liberal coalition in Bonn aim at by emphasising a link between development and peace politics? The presentation will ask how claims for a New International Economic Order or acts of international terrorism were perceived – challenges that nowadays stand for the emergence of an expanded concept of security since the 1970s. In this regard, did the export of armaments and the support in favour of foreign police units, e.g. by the Federal Armed Forces, fit into the picture? The presentation will explain that debates on international responsibilities and non-interference in internal affairs prove to have been crucial to create the FRG’s image.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Norbert Frei, Jena) Kim Christian Priemel,
Überblick
(Norbert Frei, Jena)
Kim Christian Priemel, Berlin:
Der internationalistische Augenblick. Die Nürnberger Prozesse zwischen legalistischen Hoffnungen und „realistischer“ Praxis
Annette Weinke, Jena:
Genf, Nürnberg, Lake Success: Völkerrechtskonzeptionen europäischer émigré lawyers im Umfeld der alliierten Prozesse und der Vereinten Nationen
Jan Gerber, Leipzig:
Der Funktionswandel des Gesetzes: Franz Neumann in Nürnberg
Daniel Stahl, Jena:
A Useful Biography?. Der Nürnberger Ankläger Benjamin Ferencz und die internationalen Kampagnen für einen Weltstrafgerichtshof
Christoph Safferling, Erlangen-Nürnberg, Raphael Gross, Leipzig:
Abstracts (scroll down for English version):
70 Jahre nach dem Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs hat die Nürnberg-Forschung nicht nur eine kaum noch zu überblickende Vielfalt, sondern auch ein gewisses Maß an historischer Tiefenschärfe erreicht. Vielfach werden die alliierten Strafprozesse als transnationaler Kommunikationsraum begriffen, wo es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer ähnlichen Verdichtung von ordnungspolitischen Debatten und Entwürfen kam wie es bereits 1918/19 der Fall gewesen war. Diese Sektion will den historischen Ort „Nürnberg“ in die längere Perspektive einer globalen bzw. transnationalen Bewusstseinsgeschichte stellen. Aus einem Blickwinkel, der neuere Ansätze der Biographie-, Erfahrungs- und Ideengeschichte miteinander verbindet, sollen die Ideen, das Selbstverständnis und die oftmals autobiographisch gerahmten Narrative des Nürnberger Personals in den Mittelpunkt der Einzelbeiträge gerückt werden. Mit diesem Zugriff wird zum einen das Ziel verfolgt, sich weitere Einblicke in die Entwicklung unterschiedlicher globaler Bewusstseinslagen und Internationalismus-Konzeptionen im 20. und frühen 21. Jahrhundert zu verschaffen und deren erfahrungsgeschichtliche Tiefenschichten freizulegen. Zum anderen geht es um die kritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen historiographischen Strömungen, die sich im Zeitalter eines „neuen“ liberalen Internationalismus und Idealismus stark an den kanonisierenden Erzählungen der ehemaligen Nürnberger Protagonisten zu orientieren scheinen.
Kim Christian Priemel, Oslo:
Der internationalistische Augenblick. Die Nürnberger Prozesse zwischen legalistischen Hoffnungen und „realistischer“ Praxis
„Nürnberg“, jene Chiffre für das alliierte Programm der strafgerichtlichen Verfolgung deutscher Kriegs- und anderer Verbrechen nach 1945, ist oft als Höhepunkt eines liberalen, legalistisch denkenden Internationalismus gedeutet worden, der mit der Etablierung der Vereinten Nationen 1945 seinen Scheitelpunkt erreichte. In diesen Lesarten markiert Nürnberg indes auch den Anfang vom Ende. Schon in den 1950er Jahren, vor dem Hintergrund des „Kalten Krieges“, löste die Schule der so genannte Realists ihre akademischen Lehrer und deren, auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Juridifizierungsideen ab zugunsten politikwissenschaftlicher Konzeptionen der International Relations, die auf nationalstaatliche Interessenpolitik statt auf suprastaatliche Abstimmung, auf Macht statt auf Recht setzten. So plausibel und in mancher Hinsicht zutreffend diese Lesarten auch sind, so stoßen sie doch auf erhebliche Schwierigkeiten, ob bei der in die Irre führenden Opposition von Recht und Macht (wie sie nicht zuletzt vom ersten amerikanischen Hauptankläger in Nürnberg wortgewaltig formuliert wurde) oder mit Blick auf eine „realistische Schule“, von der nur mit erheblichen Abstrichen gesprochen werden kann. Vor allem aber gilt es, zunächst die Frage zu beantworten, ob ein idealtypisch verstandener liberal-legalistischer Internationalismus das (alliierte) Nürnberger Personal tatsächlich antrieb oder nicht vielmehr bereits vor Ort qualifiziert, vielleicht gar kompromittiert wurde. Unter diesen Vorzeichen erhielte auch die allzu oft bemühte Traditionslinie „von Nürnberg nach Den Haag“ eine andere Qualität.
Annette Weinke, Jena:
Genf, Nürnberg, Lake Success: Völkerrechtskonzeptionen europäischer émigré lawyers im Umfeld der alliierten Prozesse und der Vereinten Nationen
Man kann das moderne Völkerrecht auch als das Projekt von Rechtswissenschaftlern und -praktikern betrachten, die als Proponenten, Protagonisten und Historiographen einer weltumspannenden Rechtsordnung auftraten. Vor dem Hintergrund der biographischen und erfahrungsgeschichtlichen „Wende“ in der Völkerrechtsgeschichtsschreibung hat die Gruppe europäischer Emigranten-Juristen seit einiger Zeit verstärkte Beachtung erfahren. Deren Beschäftigung mit dem Internationalen Recht war nicht nur das Aufkommen und Scheitern des liberalen Rechtsregimes der Zwischenkriegszeit geprägt, sondern entwickelte sich auch in offensiver Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Faschismus. Nach der erzwungenen Flucht in die Vereinigten Staaten beteiligten sich viele émigré lawyers im Auftrag der Washingtoner Regierungsbürokratie an der konzeptionellen und praktischen Vorbereitung der Nürnberger Prozesse. Die dort gesammelten Erfahrungen bestärkten einige in dem Entschluss, sich vom Völkerrecht abzuwenden, während sie für andere zum Ausgangspunkt ihrer späteren Tätigkeit bei den Vereinten Nationen wurden. Der Vortrag fragt danach, welche Erwartungen und Hoffnungen diese Gruppe mit Nürnberg verband und wie das soziale Großexperiment „Nürnberg“ ihre Vorstellungen vom Völkerrecht langfristig beeinflusste.
Jan Gerber, Leipzig:
Der Funktionswandel des Gesetzes: Franz Neumann in Nürnberg
Es gehört zu den Paradoxien der Geschichte, dass die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nicht zuletzt von Intellektuellen konzipiert wurden, die dem Völkerrecht bis weit in die dreißiger Jahre hinein skeptisch gegenübergestanden hatten. Deren Tätigkeit für das OSS und das State Department war gleich in mehrfacher Hinsicht Resultat jener Entwicklung, die sich mit Franz Neumann als „Funktionswandel des Gesetzes“ bezeichnen lässt. Zwar hatte der Jurist vor allem die rechtshistorischen und -soziologischen Dimensionen der Übergänge vom Liberalismus zur Massendemokratie und schließlich zum Nationalsozialismus vor Augen, als er diese Formel 1937 in seinem ersten Aufsatz für die von Max Horkheimer herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung prägte. Der Prozess der Transformation und letztlichen Zerstörung der formalen Rationalität des Rechts veränderte indes auch Neumanns eigenen Blick auf das Gesetz. Aufgrund der Nachrichten aus Europa wiesen viele der emigrierten Sozialwissenschaftler und Juristen, die sich in der Weimarer Republik als Marxisten verstanden hatten, dem Recht nun eine neue Funktion zu. Im Rahmen der Präsentation soll der Beitrag Franz Neumanns an der Konzipierung der Nürnberger Prozesse erörtert werden.
Daniel Stahl, Jena:
„A Useful Biography“. Der Nürnberger Ankläger Benjamin Ferencz und die internationalen Kampagnen für einen Weltstrafgerichtshof
Schon als 27jähriger war Benjamin Ferencz Chefankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess. Doch erst im Zuge der Verhandlungen über einen internationalen Strafgerichtshof in den neunziger Jahren wurde er eine öffentliche Figur. Sowohl Ferencz selbst als auch die Befürworter eines starken, unabhängigen Strafgerichtshofs machten sich seine Biographie zunutze, um ihr Anliegen in die Tradition Nürnbergs zu stellen. Der Vortrag analysiert diese Funktionalisierung einer Biographie, um zu zeigen, welche Rolle das Gedenken an Nürnberg in der internationalen Politik und im Völkerrecht um die Jahrtausendwende spielte.
Abstract (English version):
Seventy years after the judgment of the International Military Tribunal (IMT), the scholarship on “Nuremberg” and its legacy is remarkably diverse and has achieved a respectable degree of historical depth and acuity. Currently the Allied proceedings are conceived as one among several transnational spaces emerging in the aftermath of World War II. Similar to developments after 1918, it became a focal point of various debates and conceptions that evolved around the vision of a new world order. This section aims to examine the role of “Nuremberg” as a turning point in the formation of twentieth century transnational and global consciousness. By taking a perspective that brings together recent approaches in biographical and intellectual research with the history of experience and mentalities, it puts the emphasis on the “Nuremberg” staff, their ideas and their often autobiographical self-representations. The aim of this section is two-fold: First, to expand the scope of inquiry by fleshing out some of the experiential underpinnings of “Nuremberg” and the various internationalisms debated in this particular context; second, to foster a critical appraisal of historiographical tendencies that tend to reproduce the canonized narratives of former Nuremberg protagonists.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam) Frank Bösch, Potsdam: Motor
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam)
Frank Bösch, Potsdam:
Motor von Reformen? Digitale Daten und sozioökonomischer Wandel
Larry Frohman, New York:
Population Registration and the Discourse on Privacy Protection in West Germany
Rüdiger Bergien, Potsdam:
Computerisierung als Organisationswandel. Polizei und Nachrichtendienste in der DDR und BRD, 1960-1989
Julia Erdogan, Potsdam:
Gegenkontrolle: Bundesdeutsche Hacker in internationaler Perspektive
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
HWF-121
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
(Ulrich Herbert, Freiburg, Andreas Wirsching,
Überblick
(Ulrich Herbert, Freiburg, Andreas Wirsching, München)
Podiumsdiskussion
– Ulrich Herbert, Freiburg
– Konrad Jarausch, Chapel Hill
– Jürgen Kaube, Frankfurt/M
– Birthe Kundrus, Hamburg
– Andreas Wirsching, München
Abstract
Ausgangspunkt der hiermit vorgeschlagenen Podiumsdiskussion ist die gegenwärtig zu beobachtende neue „Hitler-Welle“ in Wissenschaft und Öffentlichkeit. In jüngster Zeit sind mehrere neue wissenschaftliche Hitler-Biographien erschienen, weitere sind angekündigt. Zugleich erzeugen die Diskussion um die im Januar 2016 erscheinende kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“, aber auch entsprechende massenkulturelle Tendenzen („Er ist wieder da“, Rimini- Projekt) einige mediale Aufmerksamkeit. Aus mehreren Gründen ist es unabdingbar, diesen Trend kritisch zu diskutieren. Erstens besteht die Gefahr, dass in der interessierten Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Quellen des Nationalsozialismus und seiner Verbrech en lägen primär oder sogar ausschließlich bei Hitler und seiner engsten Entourage. Dies wäre ein fataler Rückschritt hinter den erreichten Forschungsstand zur Politik- und Täter-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte des NS-Regimes. Einer gegenwärtig zu beobachtenden Verkürzung der öffentlichen Wahrnehmung auf ein Hitler-zentriertes Bild des Nationalsozialsozialismus sollte also entgegengewirkt werden. Zugleich ist eine Dekontextualisierung der Schriften und Reden Hitlers festzustellen, die der Suggestion der Originalität aufsitzt und Hitler aus dem Zusammenhang der dominierenden Denk- und Sprechweisen der deutschen Rechten der 19 20er und 30er Jahre herauslöst. Hitler als politische Figur wie als Projektionsfläche zu historisieren ist daher eine ebenso aktuelle Aufgabe wie die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung Hitlers für die Dynamik, Etablierung und Radikalisierung des NS-Regimes. Insbesondere gilt dies vor dem Hintergrund jüngerer Debatten um das Problem, welche spezifische Struktur von „Staatlichkeit“ die NS-Diktatur aufwies und welche Selbstermächtigungs- und Selbstmobilisierungsprozesse („Volksgemeinschaft“) ihre Dynamik erzeugten. Schließlich muss angesichts der jüngeren Forschungen erneut nach der Bedeutung Hitlers bei der Ingangsetzung des Judenmords gefragt werden. Einerseits hat die Forschung die Initiativen und autonomen Vorgehensweisen regionaler und lokaler Akteure zum Teil sehr detailliert herausgearbeitet. Andererseits aber zeigt die systematische Arbeit an den Quellen auch in aller Klarheit den entscheidenden Einfluss der Zentrale: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erscheinen als ein im Kern gleichgerichtetes europäisches Geschehen, das den Rhythmen des Zweiten Weltkrieges und dem deutschen Vormarsch folgte. Welches Gewicht hier der Bezug auf den „Führer“ besaß und in welchem Maß exakte oder symbolische Initiativen von Hitler ausgingen, bedarf einer erneuten, sorgfältigen Austarierung. Ausgehend von diesen Leitfragen bietet die wissenschaftliche Problematisierung der gegenwärtigen „Hitler-Welle“ einen aktuellen Beitrag zu dem historiographischen Grundproblem von Persönlichkeit und Geschichte. Als solche liegt die vorgeschlagene Podiumsdiskussion am Schnittpunkt von Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. Es geht dabei sowohl um die Bewertung neuer Forschungsergebnisse als auch um die Dis kussion der geschichtskulturell dominierenden Bilder und ihrer Auswirkungen auf unser Gegenwartsbewusstsein. Um eine lebhafte Diskussion zu erzielen, wird das Format einer freien Diskussion gewählt. Von längeren Einführungsstatements der Podiumsteilnehmer wird abgesehen, allerdings soll die moderierte Diskussion entlang von Leitfragen strukturiert werden, die den oben genannten Ausführungen folgen.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Jens Gieseke, Potsdam) Gerhard Sälter, Marburg: Der
Überblick
(Jens Gieseke, Potsdam)
Gerhard Sälter, Marburg:
Der Widerstand gegen Hitler als Bedrohung der Nachkriegsdemokratie: Die Organisation Gehlen und ihre Wahrnehmung der Roten Kapelle
Bodo Hechelhammer, Berlin: Vorstellungswelten und Selbstbild von Doppelagenten: Wahrnehmungs- und Persönlichkeitsmuster von KGB-Spionen im BND
Jens Gieseke, Potsdam:
Die westdeutschen Grünen als potentielle Bedrohung der SED-Diktatur
Klaus Weinhauer, Bielefeld:
Terrorismus von links und rechts: Bedrohungsvorstellungen bundesdeutscher Behörden der Inneren Sicherheit in den 1970/80er Jahren
Beatrice de Graaf, Utrecht:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Die Sektion nimmt die beginnende Diskussion um die Arbeitsweise von Geheimdiensten auf und schließt an die bereits seit längerem vorangetriebenen Forschungen zu Behörden der Inneren Sicherheit an. Beide haben einen auf Prävention gerichteten Auftrag und damit eine unauflösliche Spannung zu bewältigen: Sie sollen Gefahrenpotentiale entdecken, bevor eine Gefahr real geworden ist. Damit müssen sie Wissen über eine Vielfalt möglicher Gegner generieren, die theoretisch auf eine Totalität gesellschaftlichen Wissens zielt, was angesichts von gesellschaftlicher und politischer Komplexität auf eine systematische Überforderung herausläuft und eine paralytische Wirkung haben kann.
Auf der anderen Seite sind die eingehenden Informationen häufig unsicher und stammen aus nicht bewertbaren Quellen. Sie mussten bewertet werden aufgrund von bereits aggregierten Informationen, die häufig auf ähnlich zweifelhaften Wege zusammengestellt worden sind. Die Germanistin Eva Horn hat diese Wechselbeziehung zwischen Vorwissen und Ergebnissen treffend ein „epistemic delirium“ genannt. Es entsteht, wenn aus mehrfach gefiltertem und unüberprüfbarem Wissen Vorhersagen darüber getroffen werden sollen, wer ein potentieller Feind ist, welche Intentionen er hat und was er in Zukunft vorhaben könnte.
Vor diesem Hintergrund fragen die Beiträge der Sektion nach der Konstruktion von gesellschaftlicher Realität in Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden. Diskutiert werden Realitätskonstruktionen und die Wahrnehmung von Gefahrenpotentialen in Geheimdiensten und in der Polizei im geteilten Deutschland. Drei Fragen stehen im Mittelpunkt: Erstens soll untersucht werden, ob bzw. inwieweit es zeit-, system- und organisationsspezifische Feindbilder, Bedrohungsanalysen und Bekämpfungsstrategien gab. Zweitens gilt es zu überprüfen, ob bzw. inwieweit die dichotomischen Muster des Kalten Kriegs organisations- und zeitübergreifend fortgewirkt haben. Schließlich wird explizit nach Wandlungen im Zeitverlauf gefragt.
Gerhard Sälter (Berlin) beschreibt die von der Organisation Gehlen in den 1950er Jahren intensiv betriebene Suche nach der Roten Kapelle. Hierbei wurden Wahrnehmungen handlungsrelevant, die aus der personellen Kontinuität des Personals zum Nationalsozialismus resultierten. Frühere Gestapo-Beamte identifizierten die Gefährdung des neuen Staates dort, wo sie sie schon vor 1945 lokalisiert hatten: bei den Gegnern des Nationalsozialismus. Der Beitrag fragt nach den Bedingungen, unter denen solche Wahrnehmungen Geltungskraft erlangen konnten und inwieweit sie die Gefährdungsanalyse der Bonner Eliten beeinflusste.
Bodo Hechelhammer (Berlin/ Pullach) untersucht Selbstbild und Rollenidentitäten von Doppelagenten im BND. 1961 verhaftete KGB-Spione dienen als Fallbeispiele für die Frage nach dem „Selbstkonzept“ eines Spions und die daraus resultierenden Handlungsmechanismen. Rollendefinitionen und die damit einhergehende Konstruktion sozialer Realität beeinflusste ihr Handlungsfeld und bestimmte die Selbstlegitimation.
Jens Gieseke (Potsdam) analysiert die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit bei der Informationssammlung und Formulierung außenpolitischer Konzepte in Bezug auf die westdeutschen „Grünen“. Die junge Partei galt dem SED-Regime einerseits als möglicher Bündnispartner, jedoch unterminierten Kontakte von Grünen zur Opposition in der DDR diese Bemühungen. Das MfS bemühte sich intensiv, die Politik der SED gegenüber den Grünen zu mitzugestalten, wobei ihm seine Rolle als Informationslieferant mitzuwirken – eine Strategie, die jedoch mit dem fortschreitenden Verfall der Spielräume der DDR in der internationalen Arena immer weniger handlungsmächtig wurde.
Klaus Weinhauer (Bielefeld) untersucht die Entstehung von Bedrohungsvorstellungen am Beispiel des linken und rechten Terrorismus in der Bundesrepublik der 1970/80er Jahre. Sowohl überkommene Bilder vom Unterklassenstraftäter als auch der organisationskulturell tief verankerte Antikommunismus prägten lange die Wahrnehmungsmuster. Der rechte Terrorismus wurde nicht nur deshalb unterschätzt, weil das Feindbild der Polizei sich an alten Nationalsozialisten orientierte, auch Männlichkeitsmodelle in Führungskreisen der Polizei ließ sie das Bedrohungspotential unterbewerten.
Abstract (English version)
The section brings together the recent debates about work patterns of intelligence agencies with the established research on the institutions of domestic security (Innere Sicherheit). Both institutions have a preventative task and are thus confronted by the indissoluble tension to detect potential dangers before they become real. Thus they have to generate a totality of social knowledge about a plurality of enemies. This amounts to a social and political complexity, to a systematic and potentially paralyzing excessive demand. Moreover, the information collected often is uncertain and of problematic origin. This information has to be evaluated often in reference to an aggregated set of information which in itself has been assembled in similarly dubious way. The literary scientist Eva Horn has labeled this interrelationship between previous knowledge and results as „epistemic delirium“. It emerges when non-verifiable knowledge is used for predictions about potential enemies, their intentions and future plans.
Against this background the presentations of this section discuss the constructions of social reality of German intelligence and security institutions. Discussed are construction of realties and perceptions of danger potentials of intelligence agencies and of the police in the divided Germany. Three questions are put center stage: First, are there any concepts of the enemy, threat assessments, and control strategies which are time specific, transcend borders of institutions and political systems? Second, how far did dichotomous cold war patterns survive in security institutions? Third, in all cases we explicitly study changes over time.
Gerhard Sälter (Berlin) describes how „Organisation Gehlen“ intensively searched for members of the communist „Rote Kapelle“. In this case patterns of action became relevant which rooted in personified continuities from national socialism. Former members of the Gestapo identified threats to the new state there, where they had located them before 1945: In the ranks of the enemies of national socialism. The paper studies the conditions under which such perceptions became valid. It is also asked to what extend these patterns of thinking affected the analyses of threat of the political elites in Bonn. Bodo Hechelhammer (Berlin/ Pullach) analyzes self-images and role identities of BND double agents. Using the example of KGB spies who were arrested in 1961 concepts of subjectivity and related patterns of action are studied. Role definitions and related constructions of social reality influenced their field of action and also defined their self-legitimation. Jens Gieseke (Potsdam) discusses the role the Ministry of State Security played in collecting information and in the formulation of foreign political concepts related to the West German Greens (Grünen). On the one hand the SED regime considered the party as a potential ally. On the other hand the contacts the party had established to the oppositional groups inside the GDR undermined these efforts. The MfS tried intensively to influence the SED politics towards the Greens. Its chances for doing so, however, narrowed with the growing international decline of the GDR. Focusing on left and right terrorism of the 1970s and 1980s, Klaus Weinhauer (Bielefeld), analyzes the origins of related imaginaries of threat. In these years the perceptions of police organizations were shaped by outdated stereotypes about the underclass and by culturally deeply rooted patterns of anticommunism. On the one hand the threats of right-wing terrorism were underestimated by concepts of the enemy which targeted old national socialists. On the other hand it were also patterns of masculinity which among leading police elites led to an underestimation of the threats posed by right-wing terrorists.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Detlef Henning, Lüneburg) Detlef Henning, Lüneburg:
Überblick
(Detlef Henning, Lüneburg)
Detlef Henning, Lüneburg: Moderation
Riho Altnurme, Tartu: Lutheraner in der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland
Ulrike Huhn, Bremen:
Die Wiedergeburt der Ethnologie aus dem Geist des Atheismus.
Zur Erforschung des »zeitgenössischen Sektierertums« im Rahmen von Chruščevs antireligiöser Kampagne Victor Dönninghaus, Lüneburg: Religiöser Dissens unter Russland- deutschen während der Brežnev-Ära
Frank Grüner, Bremen:
Zwischen Repression und Emigration: Jüdisches Leben und religiöse
Praxis in der Sowjetunion, 1945–1991
Sebastian Rimestad, Erfurt: Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Der Marxismus-Leninismus als offizielle Leitideologie des sowjetischen Herrschaftssystems in Osteuropa zwischen 1917 und 1991 verstand sich in einem wissenschaftsoptimistischen Sinne als logisch und empirisch letzte Wahrheit sowie als Überwinder spekulativer geglaubter Systeme wie der Religion. Politisch und gesellschaftlich wies er dieser eine rückwärtsgewandte, antiemanzipatorische und repressive Rolle zu.
Das Verhältnis der politisch Herrschenden in Russland, der Sowjetunion und ab 1945 den Staaten des „Ostblocks“ zu Kirchen, Konfessionen und Religionsgemeinschaften war ambivalent. Einerseits galten sie als Relikte einer überwundenen Epoche, als Störenfriede im Sozialismus und im äußersten Fall als zu liquidierende Gegner des siegreichen Kommunismus. Glaubende Menschen und Gemeinschaften sahen sich über Jahrzehnte einer staatlichen atheistischen Propaganda ausgesetzt, die der allmählichen Erosion der Religion dienen sollten. Zur Widerständigkeit dieser Menschen gegenüber dem politischen Systems trugen neben einer religionssoziologisch und kulturgeschichtlich begründeten Resilienz ihrer theologischen und narrativen Systeme auch ‒ wie im Falle der größeren Religionsgemeinschaften und Kirchen der Katholiken, Lutheraner, Juden oder Mennoniten ‒ internationale Verbindungen bei.
Andererseits können zwischen zentralistischer Bürokratie des Sowjetsystems und dezentral angelegten Strukturen verschiedener Religionsgemeinschaften neben konfrontativen auch Räume des Aushandelns von Kompromissen und gegenseitigen Lernens bis hin zu personellen Teilidentitäen ausgemacht werden, die religiöses Leben in der Sowjetunion differenzierter erscheinen lassen, als dies ein dichotomes Bild religiöser Unterdrückung auf der einen und religiös motivierten Widerstandes auf der anderen Seite lange Zeit vermittelte. Man spricht daher anstelle des Begriffs religiösen „Widerstandes“ inzwischen von einem religiösen „Eigen-Sinn“ (Alf Lüdke), der anstelle klarer Konfliktlinien auch gemeinsame Räume und kommunikative Schnittmengen zulässt.
An vier Beispielen sollen die Reichweite von Überzeugungssystemen, Handlungsräumen und Einflussmöglichkeiten religiöser konnektiver Subsysteme im sowjetischen Herrschaftsraum herausgearbeitet werden.
Riho Altnurme, Tartu:
Lutheraner in der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland
Die Lutherische Kirche in Estland (und auch in den anderen Baltischen Staaten) geriet nach der sowjetischen Besetzung ihres Landes 1944 in eine Position, in der sie nicht nur keinen Einfluss mehr auf die Gesellschaft hatte, sondern auch kaum noch in der Öffentlichkeit sichtbar wurde. In den folgenden Jahrzehnte veränderten sich jedoch die Möglichkeiten. Das Paper untersucht die Veränderungen in den Beziehungen zwischen lutherischer Kirche und Gesellschaft in der Sowjetrepublik Estland während der Jahre des Sowjetregimes und die Spielräume, die die Kirche hatte, um das Weltbild der Menschen zu prägen und christliche Vorstellungen einzubringen.
Ulrike Huhn, Bremen:
Die Wiedergeburt der Ethnologie aus dem Geist des Atheismus. Zur Erforschung des „zeitgenössischen Sektierertums“ im Rahmen von Chruščevs antireligiöser Kampagne
Im Sommer 1959 begannen Moskauer Wissenschaftler mit Feldforschungen zu einem aus vielen Gründen äußerst sensiblen Gegenstand – dem „religiösen Sektierertum“. Diese sollten im Kontext der antireligiösen Kampagne einerseits der wissenschaftlich fundierten Verbesserung der Propaganda dienen. Andererseits mussten die Ethnographen mit dem Problem umgehen, wie sie als Atheisten im staatlichen Auftrag verlässliche Informationen von ihren Interviewpartnern erhalten konnten, die als Angehörige von „Sekten“ potentiell als „staatsfeindlich“ galten und verfolgt wurden. So entwickelten die sowjetischen Forscher im Feld Formen der teilnehmenden Beobachtung, deren Resultate zwar als äußerst ergiebig bewertet, aber zugleich als unwürdig für die Ehre von Parteimitgliedern und Komsomolzen kritisiert wurden. Untersucht wird das Zusammenspiel der verschiedenen Institutionen von Staat, Partei und Wissenschaft in einem Umbruchsmoment der methodischen Selbstverständigung in der sowjetischen Ethnographie der Tauwetter-Phase.
Victor Dönninghaus, Lüneburg:
Religiöser Dissens unter Russlanddeutschen während der Breschnew-Ära
Die Politik der Sowjetunion unter Leonid Brešnev gegenüber religiösen Organisationen unterlag ab Anfang der 1960er Jahre wesentlichen Veränderungen. Die politische Führung verzichtete auf den Anspruch eines raschen Aufbaus einer kommunistischen Gesellschaft und der Anpassungsdruck auf die Mehrheit der religiösen Organisationen, besonders die Russische Orthodoxe Kirche, wurde abgeschwächt. Kirchen, die sich parteikonform verhielten, erhielten größere Entfaltungsmöglichkeiten.
Nicht alle religiösen Organisationen waren mit der zugewiesenen gesellschaftlichen Nische zufrieden. Der Sowjetführung gelang es bis zum Ende der UdSSR nicht, religiöse Dissidenten protestantischer Gruppen und die Mehrheit der religiösen Russlanddeutschen, die weiter für Religionsfreiheit einstanden, gesellschaftlich zu „neutralisieren“ und sie zu Loyalität zu zwingen. Bis Ende 1989 verzichteten auf dem Gebiet der Russischen Föderation etwa 900 Gemeinden, etwa die Hälfte aller protestantischen Gruppierungen, auf die staatliche Registrierung. Nach den Aufzeichnungen des Rates für Religionsangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR bestanden die „extremistischen religiösen Vereinigungen“ zu 90 Prozent aus „Personen deutscher Nationalität“.
Das Paper untersucht einerseits Praktiken, Wertesytem, Mentalität, Schlüsselstrategien ihres religiösen Dissenses, zum anderen sollen Zielsetzungen der Brešnevs’schen Konfessionspolitik herausgearbeitet werden.
Frank Grüner, Heidelberg
Zwischen Repression und Emigration: Jüdisches Leben und religiöse Praxis in der Sowjetunion, 1945-1991
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zeigten sich in der Sowjetunion unter Stalin jüdische Religion und traditionelle Lebensweise in Auflösung begriffen. Der Zweite Weltkrieg und das ungeheure Ausmaß von Tod, Leiden und Zerstörung während der deutschen Besatzung führten jedoch zu neuer religiöser Aktivität aller Konfessionen, darunter auch der jüdischen Religion, die nach 1945 in gewissem Umfang erneut einen Raum jüdischer Identität und Kommunikation entwickelte. Das sowjetische Regime unterdrückte die Wiederbelebung jüdischen Lebens und Bekenntnisses, sei es religiöser oder nationaler Art. Dabei wiesen die verschiedenen Repressionswellen gegenüber der jüdischen Minderheit unter Stalin, Chruščev und Brežnev zwar eine dezidiert antisemitische oder „antizionistische“ Stoßrichtung auf, richteten sich jedoch immer auch gegen das jüdisch-religiöse Bekenntniss.
Das Paper untersucht die verschiedenen Entwürfe und Phasen sowjetischer Herrschaftspraxis gegenüber den Juden und der jüdischen Religion zwischen 1945 und 1991 und hinterfragt den Stellenwert religiösen Bekenntnisses und religiöser Praxis für die sowjetischen Juden zwischen Repression durch und Emigration aus dem Sowjetstaat.
Abstracts (English version):
The selfunderstanding of marxism-leninism as the official ideology of the soviet regime in Russia and Eastern Europe between 1917 and 1991 was to be the logical, empirical and last truth in the sense of an optimistic understanding of science, at the same time overcoming speculative systems of thinking like religion.
The relationship between political power in Russia, the Soviet Union and after 1945 in the states of the Eastern bloc on the one side and churches, confessions and religious groups on the other side was quite ambivalent. On the one hand religious groups seemed to be the remnants of the past, troublemakers or opponents of communism which had to be liquidated; over decades believers and their communities were the object of state propaganda of atheism, which aimed at the destroying of any kind of religion. It was a mixture of specific theological and narrative systems as well as international contacts of f.e. Catholics, Lutherans, Jews or Mennonites which helped religious groups to stay in opposition.
On the other hand one can also find spaces of compromises and mutual learning up to partial identities between the different actors of religion and state, which makes religious live in Soviet Union much more interesting than a dichotomous imagination of only oppression on the one hand and opposition on the other hand may evoke.
The section proposes an analysis of range of ideological systems, spaces of behaviour and zones of influences of religious subsystems under soviet power by four examples.
Riho Altnurme, Tartu:
Lutherans in the Soviet Republic of Estonia
After soviet reoccupation of Estonia in 1944 the Lutheran Church in Estonia (but also in the other Baltic States) got in a position of lacking any influence and becoming more and more invisible in afterwar estonian society. But in the decades which followed situation slowly changed. The paper deals with changing relationship between Lutheran Church and Soviet Estonia’s society under conditions of soviet regime and with growing possibilities to take some influence on peoples world view and to push Christian ideas.
Ulrike Huhn, Bremen:
The Rebirth of Ethnology under the Sign of Atheism. About „Present Sectarianism“ Research in the Framework of Khrushchev’s Antireligoious Campaign
The paper is about Moscow’s scientists field research, beginning in 1959, on „religious sectarianism“. On the one hand this research had to strengthen antireligious propaganda by scientific means. On the other hand researchers met the problem how to get authentic information from members of „sects“ and potential state enemies. They resolved the problem by developing forms of accompanying observation. By scientific measures the results were rich, but were criticized by politicians. The paper analizes the interaction between state, communist party and science in the time of changing paradigmas in soviet ethnology.
Victor Dönninghaus, Lüneburg:
Russia’s Germans Religious Dissens under Brezhnev Period
At the beginning of the 1960s soviet state policy under Brezhnev changed. The regime gave up to reach the aim of communism in near future, and oppression of religious groups decreased. Some churches got greater possibilities to develop themselves.
Not all of the religious groups were satisfied with the new situation. Up to the end of Soviet Union the regime didn’t manage to neutralize those groups, which continued to ask for religious freedom. Up to 1989 about 900 church communities, about half of all protestant groups, dispensed with official state registration. According to the Council for Religious Affairs at the Council of Ministers 90 percent of those people were „persons of german nationality“.
The paper deals with practices, value systems and strategies of religious dissens as well as with confession policy by the Brezhnev regime.
Frank Grüner, Heidelberg
Between Repression and Emigration: Jewish Life and Religious Practices in Soviet Union, 1945-1991
Until the beginning of World War II jewish traditional life in the Soviet Union almost perished. But World War II, german occupation and destruction caused some kind of new religious activties by all confessions, also jewish, after the end of the war. The soviet regime tried to oppress those new religious activities, as well as national aspirations. Several waves of oppression under Stalin, Khrushchev and Brezhnev were not only antisemitic or „antizionist“, but also antireligious.
The paper deals with several periods and options of state religion policy concerning jews and jewish faith between 1945 and 1991 and asks about the status of religious conviction for the decision of many jews to leave the Soviet Union by emigration.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Philosophenturm
PHIL-F
Überblick
(Elke Seefried, Augsburg, Matthias Heymann,
Überblick
(Elke Seefried, Augsburg, Matthias Heymann, Aarhus)
Elke Seefried, Augsburg:
Einführung
Matthias Heymann, Aarhus:
Klimaprognostik: Wissenschaftliche Expertise und Glaubenskämpfe in einer Voraussagekultur
Isabell Schrickel, Lüneburg:
Offene Horizonte? Surprise Science am IIASA
Christina Brandt, Bochum:
»Zeitschichten« und Erwartungshorizont:
Zum Wandel von Zukunftskonzepten in der Auseinandersetzung mit den Life Sciences
Fernando Esposito, Tübingen:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Die historische Forschung hat verschiedentlich gezeigt, dass Zukunft in den 1960er Jahren zu einer wichtigen wissenschaftlichen und politischen Kategorie avancierte, und dies gilt sowohl für die westlichen als auch sozialistischen Staaten. Auf der Basis neuer methodisch-theoretischer Zugänge wie der Kybernetik schienen konkrete Aussagen über die Entwicklung des Zu¬künftigen möglich zu werden. Ebenso wurde eine politische Planungsaffinität fassbar, die in einem starken Vertrauen in Zukunftsexpertise gründete. Wissenschaftler betonten die Rationalität als Basis jedes Modellierungs-, Prognose- und Planungsprozesses – eine Rationalität, die beanspruchte, nicht auf Fortschrittsglauben zu gründen, sondern auf einem quasi-objektiven Zugang zur Er¬for¬schung des Zukünftigen. Es deutet sich an, dass in den 1970er Jahren das wissenschaftliche und politische Vertrauen in die Prognose in einigen Feldern (etwa der Wirtschaftsprognostik) bröckelte und die Grenzen von Zukunftswissen stärker reflektiert wurden. Hingegen gewann in anderen Feldern (Klimaforschung oder Life Sciences) Zukunftswissen wachsende Bedeutung, sah sich aber einer wissenschaftlichen und öffentlichen Hinterfragung ausgesetzt. Das Panel beleuchtet das Verhältnis von Zukunftswissen und Zukunftsglauben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und fragt nach Generierung von Zukunftswissen, Interaktionen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit und politischer Verwendung von Zukunftsexpertise. Welche Überzeugungen, Glaubenssätze und Rationalitätsverständnisse prägten die Prognostik? Wie sollte Glaubwürdigkeit hergestellt werden, inwiefern gewann der Glaube an imaginierte Zukünfte quasi-religiöse Kraft und verband sich Zukunftsexpertise mit religiös oder ideologisch unterlegten Glaubenssätzen? Lässt sich ein Eigenweg bestimmter Phasen – etwa der 1970er Jahre – benennen, in der apokalyptische Szenarien dominierten, wohingegen andere Phasen mehr im Zeichen eines „rationalen“ Zukunftsentwurfs standen?
Matthias Heymann, Aarhus:
Klimaprognostik: Wissenschaftliche Expertise und Glaubenskämpfe in einer Voraussagekultur
Seit den frühen 1950er Jahren fand die Computersimulation Eingang in die Atmosphärenwissenschaften. Erfolge in der Wetter- und Klimasimulation vergrößerten die Attraktivität und Autorität dieses Forschungsansatzes. Während die Wettersimulation von Beginn an auf die Wettervorhersage gerichtet war, beschränkte sich die erste Generation von Klimamodellierern auf die Erforschung von atmosphärischen Prozessen und Klimaphänomenen durch sogenannte General Circulation Models (GCMs). Die Computersimulation bot „eine einzigartige Gelegenheit zur Untersuchung der großräumigen Meteorologie als experimentale Wissenschaft“, wie es der britische Meteorologe Eric Eady 1956 ausdrückte. Es bedurfte neuer Anstöße und einer neuen Generation von Modellierern, um den Zweck von Klimamodellen neu zu interpretieren und diese im Kontext wachsenden Umweltbewusstseins zu prognostischen Instrumenten zu machen, um die Gefahren einer Klimaerwärmung durch steigende Kohlendioxidkonzentrationen zu erkunden. Die mit der Computersimulation auf Basis drastisch vereinfachter Modelle verknüpften Unsicherheiten warfen kontroverse Fragen nach der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Simulationsergebnissen auf – und Konflikte zwischen ihren Befürwortern und Kritikern. Kritiker sahen Simulationsergebnisse als weitaus weniger belastbar an, als empirische Beobachtungen. Langfristige Simulationen von Klimamodellen schienen überdies viel zu stabil zu sein und den chaotischen Charakter der Atmosphäre nicht Rechnung zu tragen. Die mit diesen Fragen verknüpften Glaubenskämpfe wurden allerdings rasch durch die Praxis entschieden. Modelle und Simulationen erwiesen sich als wissenschaftlich und politisch zweckmäβig. Fragen nach ihrer Zuverlässigkeit lieβen sich nicht abschlieβend klären und wurden pragmatisch ignoriert. Die Entwicklung modellbasierter Vorhersagen von Wetter und Klima und die Glaubenskämpfe, die diese Entwicklung begleitete, werden an Beispielen aus Groβbritannien und den USA untersucht.
Isabell Schrickel, Lüneburg:
Offene Horizonte – Surprise Science am IIASA
Der Beitrag widmet sich dem „International Institute for Applied Systems Analysis“ (IIASA), das in der Détente-Phase des Kalten Krieges als Ost-West-Think Tank 1972 in Wien gegründet wurde. Wissenschaftler aus zwölf Nationen arbeiteten interdisziplinär zusammen, um globale und universelle Probleme aller fortschrittlichen Gesellschaften zu erforschen. Am IIASA sind bis heute relevante Methoden der Modellierung von Zukünften und des Umgangs mit dem Problem der Falsifikation entstanden. Der Beitrag untersucht Projekte der 1970er und 1980er Jahre, in denen das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt erforscht wurde, und interpretiert deren inhärente Zukunftskonzeptionen und mit welchen Verfahren Glaubwürdigkeit und internationale Übereinkunft über Zukunftsfragen hergestellt wurde. Ein Fokus liegt auf dem Umgang mit Unvorhersagbarkeit und Überraschungen, worauf Konzepte wie Resilienz, adaptive management und sustainable development Antworten versprechen.
Christina Brandt, Bochum:
‚Zeitschichten‘ und Erwartungshorizont: Zum Wandel von Zukunftskonzepten in der Auseinandersetzung mit den Life Sciences in den 1960er bis 1980er Jahren
Der Vortrag geht den öffentlichen und politischen Debatten zu den modernen Lebenswissenschaften in den 1960er bis 1980er Jahren in der Bundesrepublik und den USA nach. Entwicklungen in der Gen-, Klon- und Reproduktionsforschung haben in diesen Jahrzehnten nicht nur grundlegend die biowissenschaftliche Forschungslandschaft verändert und einen neuen Begriff von Biotechnologie hervorgebracht, sondern sie wurden vor allem zum kontroversen Kristallisationspunkt einer weiträumigen Debatte, in der allgemeiner die gesellschaftliche Rolle von Naturwissenschaft und Technik in modernen Gesellschaften verhandelt wurde. Während die Entwicklungen des molekularbiologischen Wissens in den 1960er Jahren oft von technikoptimistischen Zukunftsvisionen begleitet wurden, dominierten in den 1970er und 1980er Jahren dystopische Szenarien. Dabei spielten auch religiöse Werthaltungen eine Rolle. Der Vortrag analysiert die verschiedenen Zukunftsentwürfe und Erwartungshorizonte, die im Feld der Wissenschaften, der medialen und politischen Auseinandersetzung mit den Life Sciences formuliert wurden, und untersucht darüber hinaus, welche imaginierten Zukünfte in der Populärkultur durch die neuen Biotechnologien befördert wurden. Es wird die These diskutiert, dass die kritische Auseinandersetzung mit den Lebenswissenschaften und die seit den 1970er Jahren verstärkt eingeforderte Risikoabschätzung der neuen Biotechnologien zu einer veränderten politischen und sozialen Wahrnehmung von Zukunft beitrug und zugleich die Wissenschaft selbst veränderte: Die Wende zu apokalyptischen Visionen im öffentlichen Raum der 1970er Jahre wurde von politischen Ideen von Prävention und Antizipation zukünftiger Wissens- und Technikbestände flankiert. In letzteren kommt eine Vorstellung von Zukunft zum Ausdruck, die diese nicht als offenen, unvorhersagbaren oder zeitlich entfernten Horizont, sondern als antizipierbare Verlängerung der Gegenwart konzipiert.
Abstracts (English version):
Elke Seefried, Augsburg/Matthias Heymann, Aarhus
Knowledge, Faith and Futures. The History of Forecasting and Future Expertise in Late 20th Century
Current historical research has shown that the future became a central scientific and political category in the 1960s, both in the West and the Socialist States. Based on new theories and methods of forecasting the future such as cybernetics, many scientists were confident that they would be able to plan and steer the future by using ‘modern’ and rational methods. Moreover, political orientations towards planning prospered during the 1960s due to growing political trust in future expertise. Scientists emphasized that rationality laid at the centre of all processes modelling, forecasting and planning the future by referring to a notion of rationality far from simply believing in progress but doing research into the future objectively. There were indications that confidence in forecasting the future began to crumble in specific fields during the 1970s (such as economic forecasting), and the limits of generating future knowledge were increasingly reflected. At the same time, public and political interest in future expertise intensified in specific fields (such as climate research and life sciences). However, this very expertise was also questioned by science and the public. The panel explores the relationships between knowledge, faith, and futures in late 20th century. It examines generating knowledge on the future, interactions between science and the public as well as future expertise utilized in government and administration. Assessing opinions, beliefs, and notions of rationality, the panel discusses the role of faith, ideology and generating credibility in forecasting and producing future expertise. It sheds light on continuities and breaks and inquires if there were times when future expertise had a specific apocalyptic notion (such as the 1970s) whereas other decades seemed to be characterized by some sort of a ‘rational’ approach to thinking about the future.
Matthias Heymann, Aarhus:
Climate Prognostics: Scientific Expertise and Clashs of Opinion in a Culture of Prediction
Computer simulation was adopted quickly in the atmospheric sciences since the early 1950s. Successes in weather and climate simulation quickly increased the attraction and authority of this research approach. While weather simulation focused from the outset on weather prediction, the first generation of climate modellers focused on exploring atmospheric processes and improving their physical understanding with so-called General Circulation Models (GCMs). Computer simulation offered “a unique opportunity to study large-scale meteorology as an experimental science,” as British meteorologist Eric Eady put it in 1956. It took new incentives and a new generation of modellers to re-interpret the purpose of GCMs in the context of rising environmental concern and make them prognostic tools to investigate the danger of climate change due to rising carbon dioxide concentrations in the atmosphere. Computer simulation based on drastically simplified models raised controversial questions about the credibility and reliability of simulation results – and conflicts between proponents and critics. Critics considered this research strategy as much less reliable compared to empirical observation. In addition, long-term simulations of climate models appeared much too stable and ignorant of the character of the atmosphere as a chaotic system. A clash of beliefs was soon decided in practice: models and simulations proved useful for science and politics. Objections related to their reliability could not definitely be resolved and were pragmatically ignored. The development of model-based prediction of weather and climate and the clash of beliefs it evoked, will be investigated for examples from the UK and the USA.
Isabell Schrickel, Lüneburg:
Open Horizons – Surprise Science at IIASA
This panel contribution focuses on the „International Institute for Applied Systems Analysis“ (IIASA), an east-west think tank founded during the Détente phase of the Cold War in 1972 in Vienna. Scientists from twelve nations worked collaboratively in an interdisciplinary manner to explore the global and universal problems that all advanced societies have in common. In this context an array of still important methods of modelling futures and the handling of the problem of falsification emerged. In the talk I present IIASA projects from the 1970s and 1980s that negotiated the interactions between society and environment and interpret the inherent conceptions of the future. I will look at how credibility and international commitment on questions about the future were produced in these projects and how epistemic limitations such as unpredictability and surprise were dealt with, for instance through concepts such as resilience, adaptive management and sustainable development.
Christina Brandt, Bochum:
‘Layers of Time’ and ‘Horizon of Expectation’: Shifting Concepts of the “Future” in the Public Debates about Life Sciences from the 1960s to the 1980s
This paper analyzes the public and political debates about life sciences in West-Germany and the US from the 1960s to the 1980s. In this period, research on genetic engineering, cloning and reproduction changed the life sciences fundamentally. These fields not only supported the development of a new concept of “biotechnology”, they also became core areas of a widespread public debate in which the social consequences of science and technology were discussed in general. Whereas in the 1960s optimistic visions of the future went along with the developments in molecular biology, the debates of the 1970s and 1980s were often dominated by dystopian scenarios in which religious values also played a role. The paper explores the different ‘horizons of expectations’ and visions of future consequences for society that were discussed by scientists, in the media and in the political field as a response to the scientific developments. Furthermore, it analyzes what kind of imagined futures were developed in the popular culture with respect to the new biotechnologies. The main thesis of the paper concerns a shift in temporal concepts of the future: It will be argued that the critical debates about life sciences as well as approaches of risk estimation of the new biotechnologies that were increasingly demanded in the 1970s contributed to a changing social and political perception of the ‘future’ in this decade – which also had effects on the sciences. The shift to apocalyptic visions in the popular field was accompanied by political ideas of anticipation and prevention with respect to future knowledge and future technologies. In these debates, the boundaries of the present state and future scenarios became blurred and a concept of future took shape that conceived the future not any more as an open, unpredictable or distant horizon of time but simply as an extension of the present.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Hauptgebäude Westflügel
HWF-221
Überblick
(Yvonne Robel, Hamburg, Malte Thießen,
Überblick
(Yvonne Robel, Hamburg, Malte Thießen, Oldenburg)
Jens Gründler, Stuttgart:
Pathologisierungskonflikte. Britische Experten und Verwaltungspraktiker in der Auseinandersetzung um »mentally defective« und ihre Behandlung
Britta Marie Schenk, Kiel:
Unheilbar wohnungslos? Gesundheitsnormen in europäischen Obdachlosenasylen im späten 19. Jahrhundert
Yvonne Robel, Hamburg:
Pathologisches Nichtstun? Die öffentliche Aufmerksamkeit für »Faule« und »Müßiggänger« zwischen 1900 und 1930
Christoph Lorke, Münster:
Sozialer Deutungsglaube in Demokratie und Diktatur. Armut und Pathologisierungsdispositive nach 1945
Malte Thießen, Oldenburg:
Einführung/Moderation
Abstract (scroll down for English version):
Gesundheitskonzepte sind Gesellschaftskonzepte – und umgekehrt. Seit Beginn der Moderne geht es bei der Ordnung der Gesellschaft um medizinische Fragen. „Gesundes Verhalten“, „gesundes Leben“ oder die „gesunde Gesellschaft“ avancierten zu Leitbegriffen, mit denen soziale Normen und Hierarchien „geordnet“ werden sollten. Ob in der Armuts- und Obdachlosenhilfe, der Mütter- und Jugendfürsorge, der Strafverfolgung oder beim Altern – stets wurde Sozialverhalten mit Gesundheitsnarrativen diagnostiziert, prognostiziert und pathologisiert. Die „gesunde Gesellschaft“ avancierte zur Glaubensfrage, mit der um die Grundsätze sozialer Entwicklungen gestritten wurde.
Diesen Entwicklungen spürt das Panel als „Pathologisierung des Sozialen“ nach. Im Fokus steht die Frage, mit welchen Konzepten und Praktiken „gesundes Verhalten“ im 19. und 20. Jahrhundert popularisiert werden sollte. Diese Spurensuche setzt folglich drei Schwerpunkte: Erstens untersuchen die ReferentInnen, welche Rolle Konzepte der Psychiatrie, Hygiene oder Bakteriologie in der Deutung und Diagnose von „Armut“, „Nichtstun“, „Obdachlosigkeit“ oder „Sittlichkeit“ spielten. Medizinische, psychiatrische und biologische Deutungen machten soziale Entwicklungen sichtbar und behandelbar. Diese Pathologisierungen schlugen sich zweitens in konkreten Praktiken nieder, an denen die Vortragenden Kooperationen und Konflikte zwischen unterschiedlichen Akteuren analysieren. Schließlich etablierten sich seit dem 19. Jahrhundert nicht nur Wissenschaftler, sondern ebenso Ärzte, Beamte, Lehrer oder die Kirchen als „Sozialingenieure“. Diese Konzepte und Praktiken entsprachen verbreiteten Bedürfnissen nach einer „gesunden Gesellschaft“, so dass die Vorträge drittens Popularisierungen und alltägliche Aneignungen der Konzepte und Praktiken untersuchen. Dank dieser drei Schwerpunkte gehen die Vorträge über bisherige „top-down-Modelle“ hinaus und ordnen das Pathologisieren des Sozialen in gesellschaftliche Kontexte ein. Eingebettet werden diese Befunde zudem im europäischen und transnationalen Kontext, um Antworten auf die Frage zu finden, warum die „gesunde Gesellschaft“ in der Moderne zu einer übergreifenden Glaubensfrage geriet.
Jens Gründler, Stuttgart:
Pathologisierungskonflikte. Britische Experten und Verwaltungspraktiker in der Auseinandersetzung um „mentally defective“ und ihre Behandlung
Im Januar 1913 trat der „Mental Deficiency Act“ in England und Wales in Kraft, mit zwei Jahren Verzögerung in leicht veränderter Form in Schottland. Diese Gesetze waren das Ergebnis langjähriger wissenschaftlicher und politischer Debatten darüber, ob der sozialpolitischen Vor-stellung einer „gesunden“ Gesellschaft gegenüber den Rechten von Individuen, z. B. ihrer Unversehrtheit, Vorrang zu gewähren wäre. Der Vortrag spürt der Pathologisierung von Armen und Verbrechern, als „moralisch und geistig verkommenen Subjekten“, die ihre Minderwertigkeit vererbten, nach, die seit den 1850er Jahren rezipiert und durch Wissenschaftler wie Francis Gal-ton popularisiert wurde. Psychiater, Mediziner und Verwaltungsexperten nahmen das eugenische Programm an und knüpften daran konkrete Forderungen, wie mit den Betroffenen umzugehen sei.
Im Fokus des Vortrags steht die „Royal Commission on the Care and Control of the Feeble-Minded“ die auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen eingerichtet wurde. Die Mitglieder befragten an 68 Tagen insgesamt 248 Wissenschaftler, Pädagogen, Mediziner, Praktiker der Armenverwaltung sowie Mitarbeiter zivilgesellschaftlicher Vereinigungen. Das Ziel war eine Bestandsaufnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse und administrativer Praktiken in Bezug auf Personen, die als „psychisch krank“ oder „geistig behindert“ und damit als Gefahr für den Erhalt einer „gesunden“ Gesellschaft galten. Gleichzeitig sollten Vorschläge für Neuerungen oder „Verbesserungen“ gemacht werden. Im Vortrag nehme ich die verschiedenen Positionen der Befragten in den Blick. Die Mehrheit der Experten forderte zwar eine Ausweitung der Pathologisierungen und argumentierten, dass große Teile der Armen und Kriminellen „psychisch und geistig minderwertig“ und entsprechend zu behandeln wären. Allerdings blieben diese Einschätzungen nicht unwidersprochen. Einige Experten, insbesondere Praktiker aus Armenverwaltung und Anstaltsleitung, wiesen das Argument „Degeneriertheit und Minderwertigkeit“ zurück. Letztendlich setzten sich deren Ansichten über den Einfluss von Erziehung und sozialem Umfeld auf Armut und Verbrechen in den politischen Aushandlungsprozessen durch und bestimmten maßgeblich die Gesetzgebung. Im Gegensatz zum Kontinent, so meine These, blieben Pathologisierungen von Armen und Kriminellen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in der britischen Praxis von Armenverwaltung und Psychiatrie weitgehend folgenlos. Im Vortrag wird da-her auch nach unterschiedlichen nationalen Kontexten zu fragen sein, in denen Pathologisierungen auf Resonanz oder Ablehnung stießen.
Britta Marie Schenk, Kiel:
Unheilbar wohnungslos? Gesundheitsnormen in europäischen Obdachlosenasylen des späten 19. Jahrhunderts
In den 1860er Jahren fand im Deutschen Kaiserreich ein Umbruch in der Obdachlosenfürsorge statt. Obdachlosenasyle wurden in Großstädten gegründet, bürgerliche Sozialreformer fungierten als Experten und Praktiker zugleich und begannen mit staatlichen Stellen zu kooperieren. Konfliktreich gestaltete sich fortan das Verhältnis zwischen diesen neuen und den etablierten konfessionellen Wohltätigkeitsakteuren. Ein Bindeglied stellten hingegen Pathologisierungen dar, die auf beiden Seiten en vogue waren und von Hygienestereotypen bis zu eugenischen Deutungen von Obdachlosigkeit reichten. Pathologisierungen, so die These meines Vortrags, fungierten als eine Art Brücke zwischen unterschiedlichen Akteuren. Die Voraussetzungen und Formen dieser Pathologisierungen werden für die verschiedenen Akteure auf drei Ebenen herausgearbeitet: erstens auf der Ebene der konfessionellen und staatlichen Konzeptionen der Obdachlosenfürsorge. Zweitens wird auf der Ebene der Praktiken zum einen analysiert, wie Hygienemaßnahmen den Alltag in Obdachlosenasylen gestalteten. Zum anderen gehe ich der Frage nach, inwiefern die Zuweisung einer Unterkunft von eugenischen Kriterien abhing. Auf der dritten Ebene wer-den diese Pathologisierungen international vergleichend analysiert, um die europäische Dimension des Glaubens an eine gesunde Gesellschaft zu vermessen. In dieser Perspektive auf Pathologisierungen als konsensuale Praktik werden Obdachlose als Objekt der Konzeption einer gesunden Gesellschaft sichtbar, so dass sich das Zusammenwirken von Gesundheitsvorstellungen und sozialer Ungleichheit untersuchen lässt.
Yvonne Robel, Hamburg:
Pathologisches Nichtstun? Die öffentliche Aufmerksamkeit für „Faule“ und „Müßiggänger“ zwischen 1900 und 1930
Als „gesunde Gesellschaft“ galt insbesondere in der europäischen Moderne immer auch eine arbeitsame. „Müßiggang“, „Faulheit“ oder „Arbeitsscheu“ wurden als innere Bedrohung wahr-genommen. Wissenschaftler und Praktiker stellten sie vermehrt als Folgen eines ungesunden Verhaltens oder einer krankhaften Disposition Einzelner dar. Hierbei korrelierten Gesundheits- und Sozialdiskurse auf spezifische Art und Weise. Zwar bedienten sich Pädagogen, Sozialexperten, Politiker oder Journalisten psychologischer und medizinischer Erklärungsmuster, als sie zwischen 1900 und 1930 verstärkt über „selbstverschuldete“ Nichtstuer stritten. Darüber hinaus wurde abweichendes unproduktives Verhalten auch mit Gesundheitsnarrativen problematisiert. Gleichwohl konkurrierten solche Deutungen stets mit anderen und waren bei weitem nicht so konsistent, wie sich zunächst vermuten lässt.
Der Beitrag geht diesen Widersprüchen nach, indem er erstens danach fragt, mit welchen Gesundheitskonzepten einzelne Akteure operierten, die sich für Phänomene der „unproduktiven Faulheit“, des „gemeinschädigenden Müßigganges“ bzw. der „Arbeitsscheu“ interessierten. Die „geistige Gesundheit“ jener Nichtstuer anzuzweifeln war insofern etwas anderes als auf ihre fehlende „moralische Gesundheit“ abzuheben. Daraus leiteten sich zweitens verschiedene An-sichten über die Heilbarkeit abweichenden Verhaltens ab. Besonders in Anbindung an die Pathologisierung des Nichtstuns kursierten verschiedene Ideen über die praktische Behandlung von „Faulheit“ oder „Müßiggang“. Befördert wurden solche Entwürfe durch die seit den 1910er Jahren populäre Charakterologie. Jene pathologisierte Suche nach Ursachen und Therapien, so lässt sich im dritten Schritt zeigen, konkurrierte zwar einerseits mit dem Bild der „unverbesserlichen“, weil „willentlichen“ Nichtstuer, bestärkte es jedoch andererseits auch. Somit trugen die widersprüchlichen Suchbewegungen wesentlich zu einer langlebigen Konstruktion individueller und kollektiver Verantwortlichkeiten für die arbeitssame gesunde Gesellschaft bei.
Christoph Lorke, Münster:
Sozialer Deutungsglaube in Demokratie und Diktatur. Armut und Pathologisierungsdispositive nach 1945
Der Beitrag diskutiert die gesellschaftliche Kommentierung des sozialen „Unten“ im geteilten Deutschland und plädiert dafür, die Vorstellungswelten des Sozialen stärker als bislang auch blockübergreifend zu betrachten. Denn sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR war die Bewertung sozial „abgehängter“ Teile der Bevölkerung wesentlicher Bestandteil sozialer Selbstbeschreibungen. Dazu werden die Regeln und Rituale der Etablierung und Vermittlung sozial-symbolischer Sinndeutungen gegenübergestellt und erörtert, und zwar am Beispiel kinder-reicher Familien. Beim Sprechen über den „unteren gesellschaftlichen Rand“, so meine Ausgangsthese, wurden hier wie dort mit öffentlich-medial zirkulierende Zuschreibungsformen, Wertungen und Charakterisierungen das Label „arm“ geprägt und definiert. Das Sprechen über „Armut“ bewegte sich dabei innerhalb bestimmter Sicherheitsdispositive (Michel Foucault), die wiederum auf Pathologisierungsdispositive verweisen. Diese knüpften in beiden deutschen Staaten (in zu differenzierender Intensität und zu diskutierender Periodisierung) an überkommene soziale Vorstellungswelten an.
Der häufig auszumachende Rückgriff auf normative Beschreibungskonstanten – etwa auf ein „gestörtes“ Verhältnis zur Arbeit, Familie und Gesellschaft, aber auch auf Bildungs-, Kultur- und Moraldefizite – und damit verbundene Popularisierungen des (abweichenden) Sozialen im öffentlichen Raum des jeweiligen „sozialen Glaubensregimes“ beförderte in West- wie Ost-deutschland nicht nur eine auf pathologischen Definitionen beruhende Individualisierung sozialer Randständigkeit. Zudem grenzte sie „unwürdige“ Arme auch in symbolischer Hinsicht zwei-fach ab: von den „verschämten“ Armen einerseits und der „Normalgesellschaft“ andererseits. Die Erwartungen und Annahmen, die in der Bundesrepublik und der DDR mit pathologisch gedeuteten „armen“ Lebensformen verbunden waren, erlauben damit Rückschlüsse auf die Funktion derartiger Sozialdeutungen in modernen Industriegesellschaften.
Abstract (English version):
Concepts of health are concepts of society and vice versa. In modernity, debates on social order are framed by medical knowledge and medical metaphors. Experts tried to promote “healthy behavior”, “healthy life” or the “healthy society” to influence social norms and hierarchies. Health concepts diagnosed, predicted, and pathologised social behavior, for example in institutions of public and youth welfare, in poor relief, in homeless shelters and mental institutions. In short, the “healthy society” advanced general questions on the principles of society.
The papers of the panel analyze these developments as an act of „pathologization of the social“. They study concepts and practices of “healthy behavior” in 19th and 20th century Europe and the way it was popularized. The speakers focus on three aspects: Firstly, they shed light on the influence of medical concepts on diagnoses of poverty, faineance, homelessness, and immorality. Interpretations of misbehavior and misconduct as “genetic defects”, “diseases”, and “illnesses” served as evidence for scientific knowledge and promised to make unwanted social developments visible and treatable. Secondly, the papers take a closer look at the “pathologization of the social” in social and everyday practices that fueled cooperation and conflicts between scientists, doctors, public officers, teachers, or priests. Thirdly, the papers investigate the promotion of “healthy behavior” and the responses of the public. In this perspective, the panel embeds scientific concepts in a deeper social context and questions established “top-down-approaches”. The “Pathologization of the social” is interpreted not just as a discourse of experts, but as a popular and widespread view on society in modern Europe.
Jens Gründler, Stuttgart:
Disputes about Pathologization. British Experts and Administrative Officers in Debate over the “Mentally Defective” and their Proper Handling
The “Mental Deficiency Act” came into effect in January 1913 in England and Wales, two years later a slightly different version in Scotland. These acts were the result of long lasting scientific and political debates on whether there was a supremacy of socio-political visions of a “healthy” society over individual rights or not. This paper traces the ways and methods of pathologising paupers, criminals and other persons labeled socially deviant, as “morally and mentally degenerate individuals”. Those concepts and practices were discussed since the 1850s and scientist as Francis Galton popularized these in the later 19th century. Within the medical, psychiatrical and administrative establishment eugenic interpretations of social evil were welcomed and linked up with demands on how to handle the concerned. The “Royal Commission on the Care and Control of the Feeble-Minded” was installed in 1904 at the height of the debates and discussion over proper care and handling the “degenerate” members of society. The members interviewed 248 scientists, pedagogues, medical men, officers of the poor and prisons as well as members of civic societies. The central aim was to establish actual scientific knowledge and contemporary administrative practice in regard to persons who were either regarded as “mentally ill” or “men-tally defective” and as being a danger for society, especially for a “healthy” society. At the same time the Commission had to gather proposals for the “betterment” of rules and measures.
The paper looks at different positions voiced by the witnesses before the Commission to trace the processes of negotiation. Indeed, the majority of experts demanded to expand concepts of illness on large parts of the poor and criminals. In their view, these groups were mostly “mentally defective” and had to be handled properly, draconic if necessary. These interpretations of social ills, however, were objected. Some experts, especially those working in the administration, repudiated the notion that most of their “clients” were degenerated or defective. They stressed that not nature decided about who became poor or criminal but education, familial security and stability, circumstances in which one was born etc. In the end the latter experts influenced the legislature significantly. In reality, the attempts to pathologise paupers and criminals from the late 19th to the first quarter of the 20th century remained mostly fruitless and without consequences in practice. In stark contrast to developments on the continent, notions of degeneration were rejected in the political arena in Great Britain.
Britta Marie Schenk, Kiel:
Homelessness as Illness. Concepts of „Health“ in European Homeless Shelters During the Late 19th Century
In the 1860’s the provision for the homeless was completely reorganised in Germany. Nightasylums and shelters were established, social reformers served as experts and were committed in institutions and societies caring for the homeless at the same time. These social reformers and public authorities began to work hand in hand. The older, often denominational, agencies and societies caring for the homeless came quickly into conflict with the new, scientifically oriented reformers. In this context pathologising the homeless was one way of bridging the conceptual gaps and pacifying the conflicts between the different parties. The preconditions and implementations for those mutual “Pathologisierungen” will be analysed for several “players” on three levels. On a first level, the paper looks at different concepts of caring for the homeless within denominational and public protagonists. Subsequently it analyses the measures of hygiene that were implemented within night asylums, shelters and hostels, framing everyday life. On a third level the presentation examines forms of pathologising the homeless in other nation states to outline the European dimensions of the “faith in healthy society”. In this respect, understanding “Pathologisierungen” as consensual practices allows us to uncover the homeless as one object of concepts of “healthy societies”. Taking this perspective the collusion of “notions of health” and social inequality can be examined.
Yvonne Robel, Hamburg:
„Doing Nothing” – a Pathological Problem? The Public Interest to “Laziness” and “Idleness” between 1900 and 1930
The praise of a hard-working mankind became a central idea in modern Europe. Working hard meant to stay healthy, both for individuals and for the society. “Laziness”, “idleness” or “work-shy people” were said to be internal threats and diseases. Increasingly, scientists and practitioners interpreted them as a result of an unhealthy behavior or of a fundamental pathological problem. Therefore, discourses on the social and the medical were deeply intertwined. When educationalists, social experts, politicians and journalists discussed “self-inflicted slackers“, between 1900 and 1930, they referred to medical and psychological concepts as well. Again and again they explained deviant behavior of non-working by speaking about a lack of healthiness. How-ever, these explanations came in conflict with others and weren’t as consistent as one would expect.
The paper discusses these discrepancies by investigating the concepts of “health“ different actors used when they were interested in “unproductive laziness“, “socially destructive idleness“ or “work-shy slackers”. Some of these actors doubted the “mental health” of slackers, others discussed their “moral health”. These different positions were accompanied with changing ideas of recovering. Especially the interpretation of “laziness” and “idleness” as pathological problem meant to invent specific methods of treatment. Particularly theories about the human character, which became popular in German sciences around 1910, played an important role for this invention. The search for reasons and medical treatments to deal with “laziness” and “idleness” got in conflict to ideas of the “self-inflicted” or “incorrigible” slacker on the one hand and con-firmed them on the other hand at the same time. Thus, this inconsistent search significantly contributed to a persistent construction of individual and collective responsibility for a hard-working and healthy society.
Christoph Lorke, Münster:
Social Faith in Democracy and Dictatorship: Poverty and Dispositifs of Pathologization after 1945
The paper focusses on processes of societal commenting of the social “bottom” in divided Germany and pleads for an intensified consideration of social conceptualizations “across the blocs”. The valuation of socially “suspended“ sections have been an essential element of the social self-descriptions in both West and East Germany. Putting families with many children (“Kinderreiche”) in the focus, the presentation seeks to illustrate the rules and rituals of establishing and mediating social-symbolical interpretations. In Western and Eastern Germany, talking about the society’s lower margins and defining the label “poor” were results of publicly and medially circulating attributions, valuations, and characterizations within certain dispositifs of security (“dispositif de sécurité”, Michel Foucault), which in turn refer to dispositifs of pathologization. They followed – in differing intensity and periodization – the traditional social conceptualizations.
Certain normative modes of describing the social – e.g. a “disturbed” attitude towards labour, family and society, and supposed educational, cultural, and moral deficiencies – and given popularizations of (deviant) social behaviour can be observed in the Federal Republic as well as in the GDR. An individualization of social marginalisation, based on pathological definitions and conceptions, supported the symbolical demarcation of the “undeserving poor” in two aspects: on the one hand in contrast to the “deserving poor”, and on the other hand to the “normal society”. While illuminating the social expectations and assumptions, which were associated with pathological “poor” forms of life in divided Germany, one may draw further conclusions regarding the meaning and function of societal interpretations within modern industrial societies.
Überblick
(Maria Framke, Rostock, Andreas Weiß,
Überblick
(Maria Framke, Rostock, Andreas Weiß, Braunschweig)
Benjamin Ziemann, Sheffield:
Moderation
Maria Framke, Rostock:
»Fine work done?«: Humanitäre Hilfe nicht- staatlicher religiöser Akteure während der Partition, 1947–49
Andreas Weiß, Braunschweig:
Christen als Flüchtlinge in den Dekolonisierungskriegen Südostasiens
Patrick Merziger, Leipzig:
Die Entdeckung des „fernen Nächsten“. Kirche und Katastrophenhilfe in der frühen Bundesrepublik Deutschland
Lasse Heerten, Berlin:
Humanitäre Empathie mit »dem Anderen«? Christliche und jüdische Identifikation mit Biafra während des Nigerianischen Bürgerkrieges, 1967–1970
Martin H. Geyer, München:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Maria Framke, Rostock:
‚Fine work done?‘: Humanitäre Hilfe nicht-staatlicher religiöser Akteure während der Partition, 1947-49
Indiens Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft endete 1947 mit der Unabhängigkeit des Subkontinentes, gleichzeitig aber auch mit dessen Teilung. Die Gründung der beiden neuen Nationalstaaten, Pakistan und Indien, ging einher mit massiver kommunaler Gewalt und der Vertreibung von Millionen von Menschen. Obgleich die Mehrheit der indischen humanitären Bemühungen in bewaffneten Konflikten vor 1947 auf internationale Krisen gerichtet war, hatten international ausgerichtete sowie nationale und lokale Organisationen seit den 1920er Jahren ebenfalls den Opfern kommunaler Gewalt in Indien geholfen. Zeitgenössische Quellen legen nahe, dass gemeinschaftsbasierte Hilfsorganisationen Unterstützung vor allem für die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft organisierten. Diese Form selektiver Hilfe, welche man schon in der Zwischenkriegszeit beobachtet hatte, trat nun verstärkt im Zusammenhang mit der Massengewalt der Teilung auf.
Vor diesem Hintergrund analysiert die Präsentation die Reliefarbeit zweier religiös-kultureller Organisationen, die des international agierenden christlichen YMCAs und der hindunationalistische Hindu Mahasabha. Der Beitrag untersucht dabei die Absichten, Ziele und Strategien der beiden Organisationen während der Teilung und nimmt insbesondere ihr Befolgen humanitärer Prinzipien, wie Neutralität, sowie die Auswahl der Hilfsempfänger in den Blick.
Andreas Weiß, Braunschweig:
Christen als Flüchtlinge in den Dekolonisierungskriegen Südostasiens
Die Dekolonisierung in Südostasien war, unter anderem, geprägt von religiösen Auseinandersetzungen. Im Zentrum der Konflikte standen dabei oft christliche Minderheiten, denen vorgeworfen wurde, Handlanger der Imperialmächte gewesen zu sein. Vor den neuen sozialistischen Regimen in ihren Herkunftsländern flohen christlicher Vietnamesen und Burmesen (Karen) vor allem nach Thailand. Ihre besondere Position als Christen und Flüchtlinge wurde hier gelegentlich zum Risiko, denn in Thailand überschnitten sich Proteste der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung gegen ihre eigene Regierung mit gewaltsamen Übergriffen auf die Flüchtlinge. Diese Vermischung von politischen Protesten mit religiösen Ressentiments stellten sowohl für die thailändische Regierung wie buddhistische (nationale wie internationale) Organisationen vor neue Herausforderungen.
Im Mittelpunkt des Vortrages stehen daher buddhistische Organisationen, die sich parallel zu, aber auch in Zusammenarbeit mit den staatlichen Organisationen Thailands und der ASEAN, um christliche Flüchtlinge kümmerten. Der Vortrag geht dabei der Frage nach wie diese Organisationen ihren Glauben, aber auch die Religionszugehörigkeit der Flüchtlinge thematisierten. Auch soll untersucht werden, welche Rolle dies für die humanitäre Unterstützung spielte.
Patrick Merziger, Leipzig:
Die Entdeckung des „fernen Nächsten“. Kirche und Katastrophenhilfe in der frühen Bundesrepublik Deutschland
In Darstellungen kirchlicher humanitärer Hilfe wird gerne betont, dass Kirche schon immer in aller Welt geholfen habe. Die Kirchen Deutschlands engagierten sich aber erst nach 1949 in einer Hilfe für den „fernen Nächsten“, die nicht mehr nach dem Glauben der Empfänger fragte. Erklärungen für dieses neue Engagement wiederholen zwei Motive: Der Glauben habe in den Nachkriegsjahren vielen Menschen einen Halt gegeben und damit auch die Nächstenliebe als Wert verankert. Ebenso wichtig sei gewesen, dass die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von der Hilfsbereitschaft der ehemaligen Feinde tief gerührt waren und nun Hilfe indirekt zurückgeben wollten.
In dem Beitrag wird die Kirche nun nicht als Glaubensgemeinschaft begriffen, sondern als eine Organisation, die trotz des Krieges international weiterhin bestens vernetzt war. Am Beispiel des Evangelischen Hilfswerkes, das eng mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen kooperierte, soll die Frage beantwortet werden, welche Motive und Prozesse zum Aufbau einer Abteilung für Katastrophenhilfe führten. Dabei werden lebensgeschichtliche Kontinuitäten der ersten Helfer über 1945 hinaus in den Blick kommen, es wird dem politischen Antrieb des Hilfswerks nachgegangen, der Einfluss des internationalen Netzwerks untersucht, die organisationale Eigenlogik offen gelegt, die Hilfe gleichsam „nötig“ machte, und schließlich der Anreiz beschrieben, der Hilfe für den Helfer hat.
Lasse Heerten, Berlin:
Humanitäre Empathie mit ‚dem Anderen‘? Christliche und jüdische Identifikation mit Biafra während des Nigerianischen Bürgerkrieges, 1967-1970
In diesem Beitrag werden religiöse Motive in der humanitären Kampagne zugunsten der biafranischen Sezessionisten während des Nigerianischen Bürgerkrieges analysiert. Trotz intensiver Bemühungen Biafras, den Konflikt mithilfe von PR-Agenturen zu internationalisieren, zog der Konflikt während des ersten Kriegsjahres nur wenig internationales Interesse auf sich. Dies änderte sich schlagartig im Sommer 1968, als Journalisten von der Hungersnot berichteten, die in der Sezessionsrepublik ausbrach: ‚Biafra‘ wurde global zum Chiffre für humanitäre Krise, symbolisiert durch die Ikone hungernder Kinder. Eine Schlüsselrolle in der Kampagne kam in Biafra stationierten Missionaren zu, die das Bild eines genozidalen Religionskriegs zwischen einem muslimischen Nordnigeria und einem christlichen Biafra zeichneten. Viele ihrer internationalen Unterstützer sahen in den Biafranern Repräsentanten des Christentums und der westlichen Moderne in Afrika. Zudem wurden die Biafraner, zurückgehend auf Genealogien, die koloniale Ethnologen entworfen hatten, als „Juden Afrikas“ bezeichnet, die zum Opfer eines Genozids, eines afrikanischen ‚Auschwitz‘ zu werden drohten. Um dieses Schreckensszenario zu verhindern beteiligten sich neben christlichen Hilfsorganisationen auch zahlreiche jüdische Organisationen an der humanitären Operation. Die Biafraner wurden so zum gemeinsamen Objekt der selektiven Empathie christlicher und jüdischer Europäer und Amerikaner.
Abstracts (English version):
Maria Framke, Rostock:
‘Fine work done’?: Humanitarian Relief by Non-State Actors and Organizations During the Partition of the Indian Subcontinent, 1947-1949
In 1947, India’s fight against colonial rule came to an end with the independence of British India, but also simultaneously witnessed the partition of the subcontinent. The two independent nation-states, Pakistan and India came into being albeit not without large-scale violence and displacement of millions of people. Before 1947, Indian humanitarian efforts in armed conflicts were mainly directed towards international wars. The internationally linked, and national and local organizations, however, were also involved in comprehensive relief work during communal violence between Hindus and Muslims especially in the 1920s and afterwards. Contemporary historical sources suggest that community based relief organizations became very active in organizing help to their members. This tradition of selective aid, discernible in the interwar period, later became an important way of distributing relief during the Partition days.
Against this background the presentation examines the relief work of two religious-cultural organizations, the South Asian branch of Christian YMCA and the Hindu nationalist organization Hindu Mahasabha. By looking at the two organizations and their relief work during partition, the paper explores their complex aims, objectives and strategies by focusing particularly on the question of neutrality and the nature of the beneficiary.
Andreas Weiß, Braunschweig:
Christians as Refugees During the Decolonisation in Southeast Asia
The decolonisation in Southeast Asia was, among other things, tainted by religious confrontations. In the centre of the conflicts were often were Christian minorities, who were suspected of being collaborators of the imperial powers. Christian Vietnamese and Burmese (Karen) fled from the new socialist regimes in their homelands especially to Thailand. Their special position as Christians and refugees there became a risk when the protests of the Buddhist majority against their own government mixed with violent attacks on the refugees. This blending of political protests with religious resentments raised a new challenge both for the Thai government as well as for Buddhist (national and international) organisations.
Therefore the presentation will focus on Buddhist organisations that cared for Christian refugees independently, but also in cooperation with national Thai organisations and the ASEAN. The presentation asks how these organisations address their own religious beliefs, but also the religious denomination of the refugees. Furthermore it analyses which role these issues played with regard to humanitarian relief?
Patrick Merziger, Leipzig:
Discovering the „Distant Other“. Church and Disaster Relief in the Early Federal Republic of Germany
Accounts of Christian humanitarian aid often stress that churches have always helped people all over the world. For their part, German churches provided aid for the „distant other“ who was not of its faith only after 1949. Explanations for this new commitment cite two related motives: a society deeply unsettled by the experience of National Socialism now leaned on faith; charity thereby gained new importance as a value. At the same time, Germans were grateful for the surprising willingness to help them that emerged after the war, especially on the part of its former enemies; now people wanted to pass back the aid they had experienced.
In this contribution, I conceptualize the church not as a religious community but as an organization that was still well-connected internationally despite the war. Using the example of the Protestant relief organization Evangelisches Hilfswerk, which cooperated closely with the World Council of Churches, I will address the question as to which impulses and processes led to the establishment of a distinguished agency for disaster relief. The biographical trajectories of aid workers beyond 1945 will come into view; the political motives that drove the agency and the impact of the international network will be investigated. I will also scrutinize the intrinsic organizational logic that turned aid into a “necessity” as well as the incentive to offer aid among those who devoted themselves to the “distant other”.
Lasse Heerten, Berlin:
Humanitarian Empathy with the ‚Other‘? Christian and Jewish Identification with Biafra during the Nigerian Civil War, 1967-1970
The paper analyzes religious motives in the humanitarian campaign on behalf of the Biafran secessionists during the Nigerian Civil War. The conflict attracted little interest internationally during its first year, despite Biafra’s intensive efforts to internationalize the conflict with the support of PR agencies. This changed dramatically in the summer of 1968 when journalists started covering the famine that hit the secessionist Republic: ‘Biafra’ became the global synonym for humanitarian crisis, symbolized through the icon of starving children. A key role in the campaign was played by missionaries stationed in Biafra, who sketched the conflict as a genocidal religious war between Muslim Northern Nigeria and Christian Biafra. In effect, many of their international supporters perceived the Biafrans as representatives of Christianity and Western modernity in Africa. Going back to genealogies constructed by colonial ethnologist, they were also labeled as the “Jews of Africa”, threatening to become the victims of an ‘African Auschwitz’. To prevent this horrific scenario, many Jewish organizations participated in the aid operation alongside Christian relief organizations. The Biafrans thus became the object of the joint selective empathy of Christian and Jewish Europeans and Americans.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Helge Heidemeyer, Berlin, Douglas Selvage,
Überblick
(Helge Heidemeyer, Berlin, Douglas Selvage, Berlin)
Helge Heidemeyer, Berlin:
Moderation
Ute Caumans, Düsseldorf:
Die Grauzone zwischen Taktik und Glaube: Verschwörungstheorien am Beispiel osteuropäischer Schauprozesse
Douglas Selvage, Berlin:
Die HIV-als-US-Biowaffe Verschwörungstheorie zwischen Glaube und Instrumentalisierung
Adrian Hänni, Zürich:
Verschwörungstheorien und Terrorismus: Der Masterplan des KGB zur Weltherrschaft Christoph Herzog, Bamberg: Verschwörungstheorie als Teil des Mainstream. Der Fall Türkei
Andrew McKenzie-McHarg, Cambridge:
Kommentar
Abstracts (scroll down for Englisch version):
Während Historiker (zumindest nach ihrer Selbstdarstellung) versuchen, auf Grundlage empirischer Beweise Entwicklungen der Vergangenheit zu erklären bzw. aufzuklären, gibt es sehr oft konkurrierende, populäre Narrative in Form von Verschwörungstheorien. Obwohl es natürlich auch echte, belegbare Verschwörungen in Vergangenheit und Gegenwart gab bzw. gibt, ist der Glaube an Verschwörungsthesen, ohne hinreichende glaubwürdige, belastbare Beweise zu haben, weit verbreitet – d. h. an Verschwörungstheorien. Auf der einen Seite werden solche Thesen häufig von sozial ausgegrenzten Personen einer Gesellschaft entwickelt und verbreitet, die bereits häufig staatlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung und echten Verschwörungen zum Opfer gefallen sind. Auf der anderen Seite werden Verschwörungstheorien häufig von verschiedenen Akteuren instrumentalisiert, um Individuen für ihre politischen und gesellschaftlichen Ziele zu gewinnen oder sich selbst gegen Attacken und Vorwürfe zu verteidigen, indem die Schuld einem Sündenbock zugeschoben wird.
Unsere Sektion wird sich mit der folgenden Frage beschäftigen: Wenn es um Verschwörungstheorien geht, inwieweit gibt es eine Grenze zwischen Treugläubigen an dieselben und Akteure, die sie zum eigenen Zweck instrumentalisieren? Ute Caumanns und Mathias Niendorf schreiben sogar von einem „Spektrum“ von Verschwörungstheoretikern: „Im Spektrum zwischen naiven Komplottphantasten und gemeinen Zynikern finden sich die ihrem eigenen Konstrukt zum Opfer gefallenen Verschwörungstheoretiker. Manipulatives Handeln kann, wie die Geschichte zeigt, vom Zweckrationalen leicht zum Wertrationalen umschlagen.“ (Caumanns, Ute; Niendorf, Mathias: Raum und Zeit, Mensch und Methode: Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie. In: Caumans, Ute; Niendorf, Mathias: Verschwörungstheorien. Antropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück, 2001, S. 203.)
Ute Caumans, Düsseldorf:
Die Grauzone zwischen Taktik und Glaube: Verschwörungstheorien am Beispiel osteuropäischer Schauprozesse
Auch wenn Verschwörungstheorien heute in hohem Maße mit dem World-Wide-Web in Verbindung gebracht werden: Sie reduzieren sich keineswegs auf ein vor allem subkulturelles Phänomen. Insbesondere in der Krise des Kalten Krieges nutzten politische Führungen das narrative Potential von Verschwörungstheorien. Handelten solche Politiker als berechnende Taktiker oder glaubten sie an die von ihnen sanktionierten Meistererzählungen?
Für Ostmitteleuropa bietet sich auf den ersten Blick ein taktisch-strategischer Einsatz – initiiert durch die politischen Führungen (und Moskau) – als der zu erwartende Normalfall an. Doch selbst in diesem vermeintlich eindeutigen Kontext finden sich graduelle Übergänge: Es gibt nicht nur taktierende Zyniker und naive Verschwörungsgläubige.
Diese Grauzone, in der Fakten mit Fiktionen verwoben werden, will der Präsentationsvorschlag im Kontext stalinistischer Schauprozesse untersuchen. Schauprozesse stellen den historischen Ort zur Verfügung, an dem eine von Drehbuchautoren verfasste und politisch sanktionierte Verschwörungsgeschichte auf die Bühne gebracht werden konnte – eine facettenreich erzählte Geschichte, zugleich eine Weltsicht, die auf der Umdeutung von Geschichte basiert. Auf der Grundlage zeitgenössischer und retrospektiver Äußerungen insbesondere politisch Verantwortlicher soll der Versuch unternommen werden, die Grauzone zwischen Glauben und Wissen, Fakten und Fiktionen, näher zu beleuchten.
Douglas Selvage, Berlin:
Die HIV-als-US-Biowaffe Verschwörungstheorie zwischen Glaube und Instrumentalisierung
Douglas Selvage stellt am Beispiel der HIV-als-US-Biowaffe Verschwörungstheorie fest, dass die Theorie nicht nur von Treugläubigen unter Afro-Amerikanern und Homosexuellen ab 1983 verbreitet wurde, sondern auch von den östlichen Geheimdiensten KGB und Stasi, die nicht an die These glaubten. Nach dem Endes des Kalten Krieges gab es mehrere Multiplikatoren der Verschwörungstheorie, die nicht nur an sie glaubten, sondern sie auch für die eigenen Zwecke instrumentalisierten – z. B. für den Vertrieb von alternativen Therapien für HIV/AIDS. In diesem Falle schien das Zweckrationale dem Wertrationalen gefolgt zu sein.
Adrian Hänni, Zürich:
„Verschwörungstheorien und Terrorismus: Der Masterplan des KGB zur Weltherrschaft“
Das scheinbar unerklärbare und irrationale Phänomen „Terrorismus“ hat immer wieder Verschwörungstheorien beflügelt – nicht erst seit dem 11. September 2001. Andererseits waren Verschwörungstheorien selbst oft Auslöser terroristischer Gewalt. Adrian Hänni untersucht das unheilvolle Verhältnis zwischen Terrorismus und Verschwörungstheorien anhand eines Beispiels aus dem Kalten Krieg: Auf der Basis von Schwarzer Propaganda westlicher Geheimdienste verbreiteten Journalisten in den späten 1970er Jahren die Theorie, dass der internationale Terrorismus eine sowjetische Verschwörung gegen die westlichen Demokratien zur Erlangung kommunistischer Weltherrschaft sei. In den 1980er Jahren wurde diese Vorstellung von Politikern der Reagan-Administration und Terrorismusexperten aufgegriffen und für ihre Ziele instrumentalisiert. Das Zusammenfallen von Wertrationalität und Zweckrationalität ermöglichte die Expansion der Verschwörungstheorie von der sozialen Peripherie in den gesellschaftlichen Mainstream, wo sie sich als populäres Narrativ und Gegenstand mehrerer Hollywoodfilme und Spionageromane manifestierte.
Abstracts (English version):
While historians, at least in their own self-representation, try to clarify and explain developments in the past based on empirical evidence, there often exist conflicting, popular narratives in the form of conspiracy theories. Although real, provable conspiracies have existed both in past and present, the public – or at least parts of it – very often believe in conspiracies without having any sufficiently trustworthy, reliable evidence – i.e., in conspiracy theories. On the one hand, such theses are often developed and spread by socially-marginalized individuals in a given society, who have fallen victim to legal and social discrimination and real conspiracies. On the other hand, conspiracy theories have often been instrumentalized by various actors in order to win others over to their social and political goals or to defend themselves against accusations and attacks by scapegoating third parties.
Our section will examine the following question: With regard to conspiracy theories, to what extent is there a border between true believers in them and various actors who seek to instrumentalize them to their own ends? Ute Caumans and Matthias Niendorf write of a “spectrum” of conspiracy theorists: “In the spectrum between naïve plot fantasists and base cynics, there lie conspiracy theorists that have fallen victim to their own constructions. Manipulative conduct can, as history has shown, very easily shift from the goal-instrumental to the value-rational.” (Caumanns, Ute; Niendorf, Mathias: Raum und Zeit, Mensch und Methode: Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie. In: Caumans, Ute; Niendorf, Mathias: Verschwörungstheorien. Antropologische Konstanten – historische Varianten. Osnabrück, 2001, S. 203.)
Ute Caumans, Düsseldorf:
The Gray Area between Tactics and Belief: Conspiracy Theories as Exemplified by East European Show Trials
Although conspiracy theories today are often associated with the internet, they can by no means be reduced to a subcultural phenomenon. Especially during the crises of the Cold War, political leaders exploited the narrative potential of conspiracy theories. Did such politicians act as calculating tacticians, or did they believe in the master narratives that they sanctioned? In the case of East Central Europe, a tactical-strategic use – initiated by the political leaders (and Moscow) – seems to offer itself at first glance as the normal, expected case. However, even in this allegedly unambiguous context, gradual transitions exist; there were not only plotting cynics and naïve believers in conspiracy.
The presentation will analyze this gray area, in which fact and fiction were interwoven, within the context of the Stalinist show trials. Show trials provide a historical location at which a politically-sanctioned tale of conspiracy, composed by a scriptwriter, could be brought to the stage – a story told with many facets, but at the same time a worldview based upon a reinterpretation of history. On the basis of contemporary and retrospective remarks, especially from politically responsible individuals, the attempt will be made to further elucidate the gray area between belief and knowledge, fact and fiction.
Douglas Selvage, Berlin
The HIV-as-U.S.-Bioweapon Conspiracy Theory between Belief and Instrumentalization
The presentation argues that the HIV-as-U.S.-bioweapon conspiracy theory was spread not only by true believers in the African-American and gay communities in the U.S. beginning in 1983, but also by East European secret services – viz., the KGB and Stasi – which did not believe in the thesis.
After the end of the Cold War, many new multipliers of the conspiracy theory arose, who not only believed in it, but also instrumentalized it to their own ends – for example, to sell alternative therapies for HIV/AIDS. In this case, the goal-instrumental seems to have followed the value-rational.
Adrian Hänni, Zürich
Conspiracy Theories and Terrorism: The KGB’s Master-Plan for World Domination
The seemingly unexplainable and irrational phenomenon of “terrorism” has been accompanied again and again by conspiracy theories – not least of all since September 11, 2001. At the same time, conspiracy theories themselves have often been the trigger for terrorist violence.
Adrian Hänni analyzes the baleful relationship between terrorism and conspiracy theories on the basis of an example out of the Cold War: In the late 1970s, on the basis of “black” propaganda from Western intelligence agencies, journalists spread the thesis that international terrorism represented a Soviet conspiracy against the Western democracies aimed at attaining worldwide communist rule. In the 1980s, politicians in the Reagan Administration and terrorism experts picked up this notion and instrumentalized it to their own ends. This convergence of the value-rational with the goal-instrumental enabled the expansion of the conspiracy theory from the periphery of society to the social mainstream, where it manifested itself as a popular narrative and as a theme for a number of Hollywood films and spy novels.
Christoph Herzog, Bamberg:
Conspiracy Theories as Part of the Mainstream. The Case of Turkey
It is a matter of definition with by no means trifling consequences, where one seeks to locate the center and the periphery of conspiracy theories. Are the conspiracy theories that can be relatively easily recognized as absurd – such as those that harken back to the Protocols of the Elders of Zion— the “representative” normal case for conspiracy theories, while other theories of a less absurd caliber are “atypical,” marginal cases – or is it completely the other way around?
On the basis of examples, the presentation will seek to document the thesis that in the recent history of Turkey, not only conspiracies but also conspiracy theories of both calibers have become an integral part of the established Turkish media landscape and political culture. Building upon this, it will be argued that plausibility – an important, distinguishing characteristic for classifying conspiracy theories – hardly applies as a criterion for decisions under such circumstances. This demonstrates the necessity of a more thorough and fundamental theorization of the conspiracy-theory phenomenon.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam) Podiumsdiskussion -Frank Bösch, Potsdam -Constantin
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam)
Podiumsdiskussion
-Frank Bösch, Potsdam
-Constantin Goschler, Bochum
-Norbert Frei, Jena
-Axel Schildt, Hamburg
Moderation: Klaus Wiegrefe, Hamburg
Abstract:
Seit den letzten Jahren erforschen zahlreiche Kommissionen die Geschichte der Bundesministerien und anderer Bundesbehörden. Auf die Pionierstudie zum Auswärtigen Amt folgten etwa Kommissionen zum Justiz-, Wirtschafts-, Finanz-, Arbeits- und Innenministerium, ebenso zum BKA, BND und Bundesverfassungsschutz. Sie alle untersuchen, in welcher Beziehung diese Behörden zum Nationalsozialismus standen, sei es während der NS-Zeit, sei es nach 1945. Ebenso entstehen zunehmend Studien zu Landesministerien, Parlamenten oder nachgeordneten Behörden. Andere Bereiche sind dagegen bislang ausgespart; wie das Kanzleramt, der Bundestag oder weitestgehend auch die Behörden der DDR.
Zweifelsohne spricht einiges für derartige Studien: Durch sie werden bisher unzugängliche Archivquellen erschlossen, das Interesse an der NS-Geschichte gestärkt, und auch die Bedeutung der Bürokratie und Techniken politischer Herrschaft geraten so wieder in den Blick. Von staatlicher Seite wird hier Grundlagenforschung finanziert, die die Geschichtswissenschaft bisher nicht eigenständig vornahm. Allerdings sind zugleich die damit verbundenen Probleme unverkennbar: Werden durch die Studien wissenschaftlich relevante Ergebnisse produziert? Oder entstehen eher unverbundene Behördenstudien, die lediglich „Nazis zählen“, methodisch und konzeptionell aber keine neuen Akzente setzen? Bedeutet dies eine Subventionierung von Forschung, die einzelne Wissenschaftler privilegiert? Und wie unabhängig können Historiker arbeiten, die von den jeweiligen Ministerien und Behörden finanziert werden, die sie untersuchen, und auch beim Quellenzugang und der Ergebnissicherung eng mit den Auftraggebern kooperieren?
Die Podiumsdiskussion soll zunächst die bisherigen Ergebnisse und Zugänge dieser Studien und Projekte debattieren und danach fragen, worauf sich der Aufschwung der Aufarbeitungsforschung zurückführen lässt. Zudem dreht sie sich um die Frage, inwieweit sich diese Form der Förderung bewährt hat und wie künftig derartige Forschungen aussehen sollen. Sollen alle Bundesministerien bzw. oberen Bundesbehörden erforscht werden (es sind insgesamt 71) bzw. auf welche Weise ist eine Auswahl zu treffen? Wäre es sinnvoll, künftig nicht mehr einzelne Institutionen zu untersuchen, sondern etwa Querschnittsthemen zu bearbeiten und übergreifende Fragen zu stellen? Wie wäre die Auswahl und die Vergabe für derartige Projekte transparenter zu gestalten? Eine hierzu vorgelegte Bestandsaufnahme, die das Institut für Zeitgeschichte in München-Berlin und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vorgelegt haben, hat dazu Vorschläge gemacht, die ebenfalls zur Diskussion gestellt werden.
Auf dem Podium wird dies aus unterschiedlichen Sichtweisen diskutiert: Leiter von bereits abgeschlossenen größeren Projekten, kleineren Kommissionen und neu gestarteten größeren Forschungsprojekten diskutieren mit der Politik, der Medien und anderen Vertretern der Geschichtswissenschaft.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal M
Hauptgebäude
Veranstalter
H-Hörsaal MHauptgebäude
Überblick
(Rüdiger Graf, Potsdam) Floris Heukelom, Nijmegen: Reassessing
Überblick
(Rüdiger Graf, Potsdam)
Floris Heukelom, Nijmegen:
Reassessing the Kahneman/Tversky Paradigm Shift in the 1970s
Till Grüne-Yanoff, Stockholm:
Boost vs. Nudge – Zur Historisierung zweier Typen der Verhaltensintervention
Rüdiger Graf, Potsdam:
Felder verhaltensökonomischer Forschung und die Praxis ihrer Regulierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Holger Straßheim, Berlin:
»Nudging Ourselves, and Each Other, to Happier Lives«. Der globale Aufstieg von Verhaltensexpertise und -politik
Jakob Tanner, Zürich:
Zunehmende Familienähnlichkeit? Verhaltensökonomie als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft
Abstracts (scroll down for English version)
Floris Heukelom, Nijmegen:
Reassessing the Kahneman/Tversky paradigm shift in the 1970s
Die verhaltenspsychologische Forschung, die unter verschiedenen Namen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, unterschied einen normativen Bereich von einem deskriptiven. In normativer Perspektive lieferten Theorien wie John von Neumanns und Oskar Morgensterns Spieltheorie, Jimmie Savages bayessche Statistik sowie die ökonomische Theorie der Nutzenmaximierung und die mathematische Logik die Regeln, denen jedes rationale Individuum folgen sollte. Zugleich schlossen Psychologen wie Clyde Coombs, Ward Edwards, der junge Amos Tversky und andere aus ihren experimentellen Untersuchungen, dass Individuen sich im Großen und Ganzen rational verhalten.
Dies änderte sich in den 1970er Jahren, als Daniel Kahneman, Amos Tversky und andere zu argumentieren begannen, dass Individuen systematisch und vorhersagbar von diesen Regeln rationalen Verhaltens abweichen. Auf diese Weise beanspruchten Wissenschaftler, an der Spitze der Vernunft zu stehen und wurden zu Beratern, die anderen Menschen erklären konnten, wie sie sich besser verhalten könnten und zwar nicht nur unter den Bedingungen von Stress, sondern in jeder alltäglichen Entscheidungssituation. Warum geschah dies zu diesem Zeitpunkt und in dieser intellektuellen Umgebung? An anderer Stelle (Heukelom 2014) habe ich die Bedeutung von Kahneman und Tverskys Rhetorik und ihrer intuitiv ansprechenden Beispiele herausgearbeitet. In meinem Vortrag werde ich dazu zwei komplementäre Erklärungen anbieten: die stark gestiegene Zahl von Psychologiestudenten und die Absenkung der epistemologischen Standards für die Durchführung von Experimenten.
Laut den Angaben der American Psychological Association stieg die Zahl der Psychologiestudenten in den 1970er Jahren stark an. Oftmals konnten Studenten nun Credits dadurch erwerben, dass sie an Experimenten teilnahmen, die ihre Professoren durchführten. Auf diese Weise wurden die Kosten und der Aufwand für die Durchführung von Experimenten verringert. Darüber hinaus wurden die epistemologischen Standards für Experimente in den 1970er Jahren deutlich gesenkt. In den Experimenten von Savage, Edwards, Luce, Coombs und anderen in den 1950er Jahren mussten die Wahrscheinlichkeiten für die Probanden vollkommen nachvollziehbar sein – zum Beispiel durch tatsächliches Würfeln – und die Belohnungen – wie Geld, Zigaretten oder Süßigkeiten – waren stets real. Seit den 1970er Jahren bildeten Fragebögen, die zwischen Konferenzsektionen ausgefüllt wurden, und hypothetische Belohnungen die empirische Basis für Publikationen in Science oder dem Psychological Review. Beide Elemente, weniger Kontrolle und weniger motivierte Probanden, trugen zur Bestimmung von systematischen und vorhersagbaren Biases durch Kahneman, Tversky und andere bei.
Till Grüne-Yanoff, Stockholm:
Boost vs. Nudge – Zur Historisierung zweier Typen der Verhaltensintervention
Wissenschaftlich fundierte Verhaltensinterventionen nehmen in neuester Zeit einen wichtigen Platz im Regulationsinstrumentarium verschiedener Staaten ein. Allerdings ist weitgehend ungeklärt, ob es sich dabei um einen oder um mehrere verschiedene Typen von Interventionen handelt, was wiederum Implikationen sowohl für die Effektivität als auch für die normative Akzeptabilität ebendieser Interventionen hat. In einem früheren Aufsatz (Grüne-Yanoff & Hertwig 2015) unterscheiden wir zwischen Boosts und Nudges als zwei solcher Typen, und verteidigen diese Unterscheidung gegen die Replik, dass Boosts eine Art von Nudges seien (Sunstein 2015, Bar-Gill & Sunstein 2015). Kurz gefasst, liegt der Unterschied darin, dass Nudges direkt auf Verhaltensoptimierung abzielen, Boosts dagegen längerfristige Verbesserungen von Entscheidungskompetenzen anstreben.
In diesem Beitrag untersuche ich diese Unterscheidung im Kontext der historischen Entwicklung der Verhaltenswissenschaften. Es ist weithin bekannt, dass diese Entwicklung nicht kontinuierlich verlief, sondern wichtige theoretische und begriffliche Brüche aufweist (vergl. z.B. Sent 2005). Insbesondere interessiert mich hierbei der Begriff der Heuristik, welcher, von Simon aus der Informatik in die Psychologie eingeführt, dafür benutzt wurde, zu erklären, wie Menschen in Situationen mit hoher Komplexität oder geringer Informationsdichte Entscheidungen fällen. Meine Hypothese ist, dass die Unterschiede im Begriff der Heuristik z.B. zwischen Simon & Newell und Kahneman & Tversky (hierzu z.B. Chow 2014), einen direkten Einfluss darauf haben, welche Interventionstypen auf menschliches Verhalten (enger gesprochen: Nudges oder Boosts) die jeweiligen Autoren als möglich oder notwendig erachteten. Ich belege diese These zum einen mit Äußerungen dieser Autoren zu den kausalen Mechanismen dieser Heuristiken, welche implizieren, dass nur ein Typ von Intervention erfolgreich seien kann; und zum anderen mit direkten Äußerungen dieser Autoren zu möglichen Interventionstypen. Folglich findet sich der Unterschied von Boosts und Nudges schon in früheren Phasen der Verhaltenswissenschaften – er wurde nur durch die jüngste Prominenz der Nudges überdeckt.
Bar-Gill, Oren and Cass R. Sunstein. 2015. Regulation as Delegation. Journal of Legal Analysis 7(1). DOI: 10.1093/jla/lav005 .
Chow, Sheldon J. (2014): Many Meanings of ‘Heuristic’. The British Journal for the Philosophy of Science: 1-40.
Grüne-Yanoff, Till & Hertwig, R. Nudge versus boost: How coherent are policy and theory? Minds and Machines. Published online 2015; DOI 10.1007/s11023-015-9367-9.
Sent, E.M., 2005. Behavioral economics: how psychology made its (limited) way back into economics. History of Political Economy, 36(4), pp.735-760.
Sunstein, Cass R. (2015). The Ethical State. Cambridge University Press. In press.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Felder verhaltensökonomischer Forschung und die Praxis ihrer Regulierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Der Vortrag untersucht die Ursachen für den Aufschwung der Verhaltensökonomik als akademische Subdisziplin seit den 1980er Jahren, indem er vor allem nach dem Verhältnis von verhaltensökonomischer Theoriebildung und verhaltensregulierender Praxis fragt. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass gerade die Prozesse der Deregulierung und Vermarktlichung einen neuen Regulierungsbedarf erzeugten. Denn anders als Thesen einer „neoliberalen Gouvernementalität“ postulieren, verhielten sich Individuen auf Märkten nicht dem Modell des Homo oeconomicus gemäß. Durch die Beschreibung der Heuristics and Biases, aufgrund derer sich Menschen eben nur begrenzt rational verhielten, versprachen Verhaltensökonomen, dieses Verhalten wieder steuerbar zu machen. Verhaltensökonomik bildete also keine Alternative zu den hypertrophen Kontroll- und Steuerungsfantasien der „Cold War Rationality“, sondern schrieb diese eher unter anderen Vorzeichen fort. Nachdem dies ausgehend von den Anwendungsfeldern, auf denen Verhaltensökonnomen ihre Theorien entwickelten, gezeigt wurde, soll im zweiten Teil des Vortrags gefragt werden, wie neu verhaltensökonomische Regulierungsvorschläge waren. Dabei wird im Gegensatz zu den Ansprüchen von deren Protagonisten auf Neuartigkeit und Innovation argumentiert, dass die Verhaltensökonomik Teil eines wesentlich breiteren Trends war, Regulierungstechniken auf der Basis verhaltenswissenschaftlichen Wissens zu entwickeln.
Holger Straßheim, Berlin:
„Nudging Ourselves, and Each Other, to Happier Lives“. Der globale Aufstieg von Verhaltensexpertise und -politik
In den vergangenen zehn Jahren haben die seit langem bekannten Erkenntnisse der Verhaltensökonomie und -psychologie vermehrt Eingang in politische Entscheidungs- und Steuerungsprozesse gefunden. Regierungen in Großbritannien, den USA, Australien oder Singapur befassen Expertenteams mit der Entwicklung von Verhaltensinterventionen und deren experimenteller Überprüfung. Auf transnationaler Ebene kommt es zur Vernetzung öffentlicher, privater und zivilgesellschaftlicher Organisationen mit dem Ziel, verhaltensökonomisches Wissen zu produzieren und anzuwenden. Durch den weltweiten Einsatz von Experimenten und randomisierten Vergleichsstudien gewinnt die Bewegung zugleich politische und wissenschaftliche Autorität. Während sich die bisherige Forschung intensiv und teilweise kritisch mit ihren normativen Prämissen auseinandergesetzt hat, bleibt die zentrale Frage nach den Gründen und Bedingungen für den globalen Aufstieg der Verhaltensökonomie unbeantwortet. Es fehlen systematisch vergleichende Studien zur inter- und transnationalen Verbreitung und Vernetzung von Verhaltensexpertise und ihrer Übersetzung in politische Regulierungen. Im Vortrag sollen daher die Mechanismen dieses späten Aufstiegs der Verhaltensökonomie als Regulierungslogik untersucht werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei die These, dass die Autorität der Verhaltensökonomie auf einer wechselseitig sich verstärkenden Kombination von Reputationsnetzwerken, experimentellen Praktiken und Semantiken der Rechtfertigung beruht. Der Diskurs des „libertären Paternalismus“ ermöglicht dabei eine Reorganisation zeitlicher Horizonte: Mit seiner Hilfe werden im Rückblick vergangene Krisenerscheinungen als Ergebnis begrenzter Rationalität erklärbar; zugleich liefert er für die Zukunft eine Neubeschreibung des Verhältnisses zwischen Bürgern und Staat. An die Stelle früherer Fortschrittsformeln (Wohlstand, Wachstum) tritt der Begriff des Glücks. Insofern geht es in dem Beitrag sowohl um die soziale wie auch zeitliche Dimension des Wechselverhältnisses zwischen ökonomischen Diskursen und politischen Regulierungslogiken.
Jakob Tanner, Zürich:
Zunehmende Familienähnlichkeit? Verhaltensökonomie als Herausforderung für die Geschichtswissenschaft
Seit den ausgehenden 1970er Jahren sah sich die moderne Sozialgeschichte durch neue Ansätze herausgefordert. Alltagsgeschichte und Mikrohistorie verschoben den Forschungsfokus von der Analyse großer Strukturen und Prozesse in langen Zeiträumen hin zur Beschreibung von Praktiken, Ritualen und Bedeutungen in begrenzten Untersuchungskontexten. Das Erkenntnisinteresse richtete sich auf Akteure und deren Agency. Die Kategorie des „Eigensinns“ diente dazu, die „Kunst des Widerstandes“ gegen eine wirkungsmächtige Regierungsrationalität zu beschreiben. Die Darstellung von Märkten und Vermarktlichungsprozessen wurde durch das Konzept der „moralische Ökonomie“ erweitert. Im selben Zeitraum wurden die Wirtschaftswissenschaften von einer „stillen Revolution“ im Paradigma des Verhaltens nachhaltig verändert. Mit dem Abrücken vom Einheitsmodell des Homo oeconomicus wurden die bislang dominierenden Entscheidungstheorien und Optimierungsmaximen ausgehebelt. Die Annahme einer „begrenzte Rationalität“ ermöglichte es, kulturelle Prägungen von Handeln und Verhalten zu berücksichtigen. Anomalien, Verhaltensheuristiken sowie kognitive Irrtümer rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Der primär wissenschaftshistorisch argumentierende Vortrag untersucht, ob und wieweit sich eine kognitive Familienähnlichkeit zwischen Verhaltensökonomie und Geschichtswissenschaft feststellen lässt. Gibt es analytische Synergiepotenziale zwischen einem historisch sensitiven Praxisbegriff (bzw. einer Vorstellung von „Gewohnheiten“, wie sie die historische Anthropologie stark macht) und dem Verhaltensbegriff in den Wirtschaftswissenschaften? Gibt es analoge Annahmen über Rationalitäten und Restriktionen menschlicher Agency? Und, falls ja, wie sind diese zu erklären, wenn gleichzeitig weder von intensiver Inter- oder Transdisziplinarität noch von ähnlichen Empiriekonzepten und Erzählstrategien in den beiden Forschungsfeldern ausgegangen werden kann?
Abstracts (English version)
Floris Heukelom, Nijmegen:
Reassessing the Kahneman/Tversky Paradigm Shift in the 1970s
The behavioral psychological research that emerged under various names in the postwar United States distinguished a normative from a descriptive realm in a straightforward manner. Under the normative banner, theories such as John von Neumann’s and Oskar Morgenstern’s game theory, Jimmie Savage’s Bayesian statistics, economists’ utility maximization and mathematicians’ logic provided the rules that every rational individual should follow. In addition, however, psychologists such as Clyde Coombs, Ward Edwards, the young Amos Tversky, and many others, inferred from their experimental investigation in the descriptive domain that individuals indeed are rational, by and large.
This changed in the 1970s, when Daniel Kahneman and Tversky, and others, began to infer that individuals systematically and predictably deviate from these rules of rational behavior. As a consequence, scientists were left to rule supreme at the pinnacle of reason, and effectively became coaches that could teach individuals how to behave more optimally, not just in those rare moments of stress or information overload, but in virtually every decision made throughout the day. The question is: why then and there? Elsewhere, I have pointed to the smart rhetoric of Kahneman and Tversky, and their innovative use of intuitive examples (Heukelom, 2014). In this talk I want to point to two other explanations: the strong rise in the number of psychology students and the lower epistemological standards for conducting experiments.
As indicated by data from the American Psychological Association, the number of psychology students rose sharply during the 1970s. More often than not, psychology students could obtain study credits by participating in experiments set up by their professors. As a result, a huge pool of potential experimental subjects became available, thus reducing the effort and costs of conducting an experiment. Second, for reasons not yet entirely clear at the time of writing, the epistemological standards for conducting experiments in behavioral psychology were substantially lowered during the 1970s. In the 1950s experiments of Savage, Edwards, Luce, Coombs, and others probabilities had to be unambiguously clear to the subject, for instance by actually throwing a dice in front of the subject. Pay-offs had to be real, be it money, cigarettes or candy. Experiments had to be conducted in a room devoid of distractions. From the 1970s onwards, however, questionnaires with hypothetical pay-offs filled out by conference participants in between sessions, were proof enough for such outlets as Science and Psychological Review. Both elements contributed to the finding of systematic and predictable biases by Kahneman, Tversky and others. Less control and using – in all likelihood – less-motivated subjects, more easily led to the conclusion of systematic and predictable biases.
Till Grüne-Yanoff, Stockholm:
Boost vs. Nudge – a Historical Perspective on Two Types of Behavioral Interventions
Evidence-based behavioral interventions have recently become an important policy tool of many governments. However, it remains largely unexplained whether these interventions belong to one or many types – despite that fact that this categorization has important consequences both for the effectiveness as well as the normative acceptability of these interventions. In an earlier article (Grüne-Yanoff & Hertwig 2015), we distinguish between boosts and nudges as two such types, and defend this distinction against the claim that boosts are a kind of nudges (Sunstein 2016, Bar-Gill & Sunstein 2015). In short, the difference is that nudges aim directly at behavior optimization, while boosts seek longer-term improvements of decision-making competences.
In this paper I examine this distinction in the context of the historical development of the behavioral sciences. It is widely acknowledged that this development did not proceed continuously, but went through various theoretical and conceptual ruptures (see, for example, Sent 2005). In particularly, I will focus on the development of the concept of heuristics. Introduced by Herbert Simon from computer science into psychology, it was to explain how people make decisions in situations of high complexity or low informational density. My hypothesis is that the conceptual differences – for example the different notion of heuristics found in Simon & Newell on the one hand and Kahneman & Tversky on the other (cf. Chow 2014) – have a direct influence on what types of intervention on human behavior (especially: nudges or boosts) the authors deemed possible or necessary. I will argue for this thesis firstly with statements these authors made about the causal mechanisms of these heuristics, which imply that only one type of intervention may be effective. Secondly, I will also investigate direct expressions of these authors on possible intervention types. I will conclude that the distinction between boosts and nudges can be detected already in this earlier phase of the behavioral sciences – it has just been concealed by the recent prominence of the nudge approach.
Bar-Gill, Oren and Cass R. Sunstein. 2015. Regulation as delegation. Journal of Legal Analysis 7 (1). DOI: 10.1093 / jla / lav005
Chow, Sheldon J. (2014): Many Meanings of ‚Heuristic‘. The British Journal for the Philosophy of Science: 1-40.
Grüne-Yanoff, Till & Hertwig, R. Nudge versus boost: how coherent are policy and theory? Minds and Machines. Published online 2015; DOI 10.1007 / s11023-015-9367-9.
Sent, E. M., 2005. Behavioral economics: how psychology made its (limited) way back into economics. History of Political Economy, 36 (4), pp.735-760.
Sunstein, Cass R. (2016). The Ethical State. Cambridge University Press. In press.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Fields of Behavioral Economics and the Practice of Their Regulation in the Last Third of the 20th Century
The paper scrutinizes the causes of the rise of behavioral economics as an academic sub-discipline since the 1980s, concentrating mainly on the relationship between the development of behavioral economic theories and the practices of regulating behavior. It starts with the hypothesis that the processes of deregulation and marketization caused a new demand for the regulation of behavior. Contrary to the conceptions of a “neoliberal governmentality”, on markets individuals did not act according to the standards set by the model of the homo economicus. Describing the heuristics and biases because of which people behaved only as boundedly rational actors, behavioral economists promised to make this behavior governable. Behavioral economics, thus, was no alternative to the control fantasies of a “Cold War rationality”, but rather their advancement under new circumstances. Having established this, drawing on the empirical fields in which behavioral economists developed their theories, the second part of the paper will try to assess how innovative the suggestions for regulation were that behavioral economists out forward. In contrast to the protagonists’ claims to novelty and innovation, I will argue that behavioral economics was part of a broader trend to base techniques of regulation on knowledge that the behavioral sciences offered.
Holger Straßheim, Berlin:
„Nudging Ourselves, and Each Other, to Happier Lives“. The Global Rise of Behavioural Expertise and Politics
Over the past decade, we can observe the global spread of behavioural change approaches in public policy. Behavioural teams and ‘nudging’ networks such as the Behavioural Insights Team in the UK or the “iNudgeyou” network in Denmark have been established in order to facilitate the application and dissemination of findings from behavioural economics, behavioural science, neurosciences and psychology across different areas of public policy. Behavioural instruments have been applied to diverse policy areas such as consumer protection, food safety, climate change, employment, health, pensions, charitable giving or crime prevention. So far, only few studies focus on the inter- and transnational spread of behavioural governance. Covering diverse policy areas, the paper presents first assumptions about the global rise and the regulatory influence of behavioural expertise. It is being argued that behavioural experts are able to combine both political as well as epistemic authority. Behavioural expertise gains regulatory power by (1) spreading and institutionalizing networks of behavioural expertise, (2) by combining experimental evidence and political practicability in randomized control trials and (3) by mobilizing a discourse on ‘libertarian paternalism’. Earlier indicators of progress in terms of growth or welfare are at least partly replaced by measurements of ‘happiness’. This discourse realigns the temporal horizons of policy making by providing an explanation for failures in the past and by reimagining the relationship between citizens and the state for the future. The paper thus analyzes both the social and temporal dimension of the global rise of behavioural expertise and politics.
Jakob Tanner, Zürich:
Increasing Family Resemblance? Behavioral Economics as a Challenge for History
Since the late 1970s, modern social history was challenged by new approaches. The history of everyday life and micro-history moved the research focus away from the analysis of big structures and processes in a longue durée towards the description of practices, rituals, and meanings in narrower contexts. The focus riveted on actors and their agency. The category of Eigensinn (strong-mindedness or self-will) was used to describe the forms of resistance against governmental rationality. The concept of a moral economy changed the perception of markets and economic competition. In about the same period, the economic sciences were seized by a silent revolution under the paradigm of behavior. The rollback of the standard model of the homo economicus was accompanied by the decline of formerly dominating choice-theories and maximization theorems. The assumption that human behavior was shaped by a bounded rationality urged to take into account different cultural conditions of human action. Anomalies, heuristics, and biases moved into the centre of the analytical attention.
The paper, which will argue primarily from a history of science perspective, raises the question of whether there is a family resemblance between behavioral economics and the historical sciences or not. Are there cognitive synergies between a historically sensitive concept of practices (or habits, as used in historical anthropology) and the notion of behavior in economics? Are there analogies in the assumptions that practices (or behavior) are both boundedly rational and restricted? And, if so, how can this be explained, if we take into consideration that there was nearly no interdisciplinarity and the concepts of empirical research and narrative strategies diverged widely in the two fields of research?
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Martin Sabrow, Potsdam) Achim Saupe, Martin
Überblick
(Martin Sabrow, Potsdam)
Achim Saupe, Martin Sabrow, Potsdam:
Einführung: Das Relikt als Reliquie. Zur Frage nach dem transzendentalen Moment der gegenwärtigen Geschichtskultur
Achim Saupe, Potsdam:
Die geschichtsreligiöse Aufladung des Authentischen im historischen Museum
Stefanie Samida, Heidelberg:
Geschichtserleben als Erweckungserlebnis
Stefan Küblböck, Salzgitter:
Geschichtstourismus als Pilgerreise
Heidemarie Uhl, Wien:
Die Steine sprechen nicht. Die Aura des „Authentischen“ und die Gedenkstätte als „Heiliger Ort“
Abstract (scroll down for English version):
Das Selbstbild der Geschichtswissenschaft als auch ihr Bild in der Öffentlichkeit wird dadurch bestimmt, dass Geschichte im Kern Aufklärung sei, dass sie die kritische Auseinandersetzung mit einer allzu oft verklärten und verfälschten Vergangenheit betreibe. Die These der Sektion lautet dagegen, dass die öffentliche Geschichtskultur unserer Zeit zunehmend religionsförmige Züge angenommen hat, gleichsam Aufklärung in Sakralisierung verwandelt hat. Aufbauend auf einer funktionalistischen Religionsdefinition, die mit Clifford Geertz Religion als ein Symbolsystem definiert, das machtvolle Gefühle im Menschen wachruft, in dem sie Vorstellungen einer umfassenden und von einer unwiderstehlichen „aura of factuality“ umgebenen Seinsordnung erzeugt, sucht die Sektion die religiöse Kraft der gegenwärtigen Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur exemplarisch zu vermessen.
Nach einer Einführung von Martin Sabrow (Potsdam) widmet sich Achim Saupe (Potsdam) der geschichtsreligiösen Aura des Authentischen im historischen Museum. Ohne den Reiz des Authentischen, die Einzigartigkeit des Echten und die Aura des Originals scheint die Bedeutung und Wirkung von Kulturgütern heute kaum erklärbar. Stefanie Samida (Heidelberg) geht der Frage nach, ob und inwieweit die Aneignung von Vergangenheit in populären Reenactments ein Erweckungserlebnis für die beteiligten Akteure markieren kann. Stefan Küblböck (Salzgitter) befasst sich mit dem Phänomen der touristischen Geschichts- und Zeitreise. Zwar versprechen historische Reiseziele keine Wunderheilung mehr, wohl aber die vermeintlich unmittelbare Annäherung an eine Vergangenheit, deren Nacherleben von der identifikatorischen Verzückung bis zur reinigenden Konfrontation reichen kann.
Abstract (English Version):
Historians’ own image of their discipline, as well as the public image of history, is determined by the idea that it fundamentally aims to bring educational enlightenment by critically examining a past that is all too often glorified and distorted. By contrast, this section will argue that contemporary public historical culture has increasingly adopted religious forms of expression and that enlightenment has given way to sacralization. Drawing on a functionalist concept of religion, defined by Clifford Geertz as a system of symbols which awakens powerful feelings by producing the idea of a comprehensive order of existence surrounded by an irresistible “aura of factuality”, the section will give concrete examples of the religious power inherent in conceptions of contemporary commemorative culture and ways of coming to terms with the past.
After an introduction by Martin Sabrow (Potsdam) Achim Saupe (Potsdam) will analyse the religious aura of authentic historical objects in museums. The significance and impact of cultural artefacts today are difficult to explain without reference to the attraction of the authentic, the uniqueness of the real and the aura of originality. Stefanie Samida (Heidelberg) asks whether, or to what extent, the appropriation of the past in popular reenactments represents an experience of religious-style awakening for participants. Stefan Küblböck (Salzgitter) is concerned with the heritage industry and the idea of travelling through time. Although historical destinations no longer market miracle cures, they do suggest the possibility of an immediate encounter with the past, the reliving of which can bring about anything from identificatory rapture to cathartic confrontation.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
Auditorium Maximum I
Universität Hamburg
Überblick
(Linde Apel, Knud Andresen, Hamburg) Linde
Überblick
(Linde Apel, Knud Andresen, Hamburg)
Linde Apel, Knud Andresen, Hamburg:
Einführung und Moderation
Anke te Heesen, Berlin:
To Climb Into Other People’s Heads. Thomas Kuhn, die Wissenschaftsgeschichte und das Interview.
Franka Maubach, Jena:
Das Vetorecht der Quellen. Überlegungen zur sekundären Analyse von Oral-History- Interviews
Andrea Althaus, Hamburg: Migrationserzählungen. Zum Zusammenhang von Lebensgeschichte und Geschichte.
Julia Obertreis, Erlangen:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Die Oral History war in der Bundesrepublik lange eine Glaubensfrage, um die zeitweilig erbittert gestritten wurde. Interviews galten anfangs in Teilen der historischen Zunft als unglaubwürdig und subjektiv, wurden aber bald zu beliebten Quellen, da sie Antworten versprachen auf die in der Kulturgeschichte aufgeworfenen Fragen nach Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungsmustern historischer Akteurinnen und Akteure. Die seither geleistete theoretische und empirische Auseinandersetzung mit mündlichen Quellen hat gezeigt, dass es sich um eine anspruchsvolle Quellengattung handelt, von der kein direkter Zugriff auf subjektive Erfahrungen zu erwarten ist. Gleichwohl blieb eine weiterführende methodologische Diskussion über ihren langfristigen Quellenwert weitgehend aus. Gegenwärtig scheint die Oral History gleichermaßen etabliert zu sein, wie sie aufgrund ihrer methodischen und theoretischen Komplexität mancherorts ignoriert wird. Dies ist ein guter Moment für die Selbstreflexion über die Methoden, Fragestellungen und impliziten wie expliziten Ansprüche. Die Sektion befasst sich mit der selten beachteten Vorgeschichte der deutschsprachigen Oral History im Rahmen der frühen Zeitgeschichte, ihrer multidisziplinären und transnationalen Prägung, dem Erkenntnispotenzial mündlicher Erzählungen, mit Fragen der Sekundäranalyse sowie der Bedeutung der historischen und gesamtbiografischen Kontextualisierung von Interviews. Damit soll das methodische Instrumentarium stärker profiliert und zugleich die Oral History historisiert werden. Denn es sind mündliche Quellen entstanden, die über die Epoche der Mitlebenden und damit der Zeitgeschichte hinausweisen. Der Aura der Authentizität und der subjektiven Verführungskraft, die sich in der Überhöhung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in medialer Geschichtsvermittlung oft zeigt, kann durch methodische und wissenschaftsgeschichtliche Reflexionen begegnet werden. Unterstrichen werden soll aber auch die Stärke der Oral History, Lebensgeschichten als historische Quellen zu generieren und neue Akzente in der Zeitgeschichte zu setzen. Was ist das Erkenntnispotenzial mündlicher Quellen für die historische Forschung? Können wir tatsächlich glauben, was wir hören, oder hören wir nicht doch nur, was wir ohnehin schon (zu wissen) glauben?
Anke te Heesen, Berlin:
„to climb into other people’s heads“. Oral History und die Wissenschaftsgeschichte der 1960er Jahre
Welcher Stellenwert mündlichen Quellen eingeräumt werden soll, war in den 1950er und 1960er Jahren in der Oral History der USA nicht unumstritten. Dabei wurde nicht nur die Aussagekraft der mündlichen Zeugnisse der ‚einfachen Leute’ thematisiert, sondern auch die sogenannten „expert interviews“. Saul Benison, einer der Protagonisten der Oral History an der Columbia University in New York, hatte dazu eine Anleitung verfasst, die auch in der wissenschaftshistorischen Community Anwendung fand. Im Vordergrund standen die minutiöse Vorbereitung des Interviewers und die geeigneten Techniken des Fragens. Im Vortrag wird das von der National Science Foundation (USA) geförderte Projekt Sources for History of Quantum Physics beschrieben, dem Benison beratend zur Seite stand. In dreijähriger Laufzeit (1961-1964) sollte die Vielfalt der noch existierenden schriftlichen Dokumente und verbalen Erinnerungen zur Quantenphysik gesammelt und gesichert werden. Mit der Leitung des Projekts wurde der Wissenschaftsphilosoph und -historiker Thomas S. Kuhn beauftragt, der mit den Assistenten John Heilbronn und Paul Forman die erste Oral History-Quellensammlung der Wissenschaftsgeschichte anlegte. Diese Sammlung wie die archivierten Akten des Projekts selbst können als ein entscheidendes Kapitel der Geschichte des Forschungsinterviews verstanden werden.
Franka Maubach, Jena:
Das Vetorecht der Quellen. Überlegungen zur sekundären Analyse von Oral History-Interviews
Der Titel des geplanten Panels adressiert ein grundlegendes Problem der Quellenkritik und Epistemologie. Die Gefahr, den Aussagen der Quelle – hier: den Worten des Interviewpartners – umstandslos Glauben zu schenken, ihnen also ‚auf den Leim zu gehen‘, erscheint beim lebensgeschichtlichen Interview ausgeprägter als bei anderen Quellen (nicht zuletzt wegen der Überzeugungskraft des erzählenden Menschen, mit dem der Interviewer ja immer in eine intensive, ja intime Beziehung tritt). Zwar ist eine solche „Parteilichkeit“ keine Spezifik der Oral History. Bei ihr jedoch handelt es sich um eine besondere und besonders ausgeprägte Form von „Parteilichkeit“, die es quellenkritisch zu beschreiben gilt.
Gerade in der Anfangszeit der europäischen Oral History Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war die Tendenz ausgeprägt, das mündliche Zeugnis unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen, denen man „eine Stimme geben“ wollte, nicht nur anzuerkennen, sondern auch mit einer Aura der Authentizität (gegenüber entfremdenden Schriftquellen) zu umgeben. Aber sagten die Interviewpartner wirklich, was die Interviewer glaubten? Bestätigten sie die Vorannahmen der Interviewer über ihr Leben? Oder sagten sie grundlegend anderes? Und konnten die Interviewer das hören – und verstehen? Die sekundäre Quellenkritik früher Oral History-Zeugnisse, denen ich mich im Vortrag widmen möchte, könnte Aufschluss über einen Erkenntnisprozess geben, der beispielsweise im LUSIR-Projekt am Ende über die Vorannahmen hinaus- und zu der Erkenntnis führte, dass breite Bevölkerungsgruppen sich von den volksgemeinschaftlichen Verheißungen des Nationalsozialismus hatten einnehmen lassen; eine ganz besondere Version der „Vetokraft“ der Quellen.
Andrea Althaus, Hamburg:
Migrationserzählungen. Zum Zusammenhang von Lebensgeschichte und Geschichte
Wenn Historikerinnen und Historiker lebensgeschichtliche Interviews zur Erforschung eines historischen Phänomens heranziehen, beschreiben sie die Kontextualisierung der Erzählungen als zentralen Analyseschritt. Unter Kontextualisierung wird dabei meist die Verortung der Interviews in ihrem historischen Kontext verstanden, auf den sie verweisen und vor dessen Hintergrund sie ihre Bedeutung entfalten. Sinnvoll ist es, neben dem historischen auch den biografischen Kontext zu rekonstruieren und in die Analyse mit einzubeziehen. Am Beispiel von Migrationserzählungen deutscher und österreichischer Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Haus- oder Gastgewerbsangestellte in die Schweiz gingen, wird im Vortrag gezeigt, dass erzählte Migrationserfahrungen eine geschichtliche und eine lebensgeschichtliche Dimension haben. Migrationserfahrungen finden in einer historisch-konkreten Situation statt, werden von ökonomisch-politischen Bedingungen reguliert und gesellschaftlichen Diskursen geprägt. Wie Migration erfahren und erzählt wird, hängt jedoch auch von biografischen Erfahrungen vor und nach der Migration ab. Die historische Kontextualisierung ermöglicht es, zu untersuchen, welche diskursiven Linien und historischen Ereignisse Eingang finden in die Erzählung und dadurch historiografisch bedeutsam werden. Die Berücksichtigung der biografisch-narrativen Strukturen bietet die Möglichkeit zu analysieren, wie Interviewpartnerinnen und –partner zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben und in einer spezifischen Erzählsituation ihren (Migrations-)Erfahrungen Bedeutung zuschreiben. In einer solchen doppelten Kontextualisierung kann die Subjektivität individueller Sinngebungen analytisch differenziert(er) erfasst werden.
Abstracts (English version):
Oral histories were long a point of contention in the Federal Republic of Germany, occasionally becoming the subject of bitter dispute. Interviews were initially considered by some historians as too unreliable and subjective, but they soon became favourite research sources because they promised answers to cultural history questions concerning the experiences, perceptions and interpretive frameworks of historical actors. The theoretical and empirical treatments of oral sources since then have shown this to be a highly complex genre, one where unfiltered access to subjective experiences cannot be expected. Nonetheless, there has been little in-depth discussion on the methodological level about its ultimate value as a research source. While oral histories now seem well established in some spheres, they remain ignored in other ones, due to their methodological and theoretical complications. Now is a good point in time for us to reflect on our research methods, corresponding issues and implicit/explicit aspirations. This section looks at the seldom considered roots of German-language oral history in regards to early contemporary history and its multidisciplinary and transnational interactions; examines the research potential of oral narratives; investigates questions of secondary analysis; and ponders the importance of contextualizing an interview not only within history, but also within a broader biography. This should help us to better define the methodological arsenal, while also historicizing oral history. After all, there are also oral histories that point beyond the era of the still living, and thus beyond contemporary history. Here, the aura of authenticity and seductiveness of subjectivity, as often seen in the disproportionate elevation of eyewitness testimony in media presentations of history, can be counterbalanced by reflecting on methodology and the history of science. However, one should also highlight the strengths of oral history, in generating additional historical sources from life stories and providing new catalysts to the study of contemporary history. What potentials for new insights do oral sources hold for historical research? Can we really believe what we hear, or are we only hearing what we already believe?
Anke te Heesen, Berlin:
“To climb into other people’s heads”. Oral History and the History of Science in the 1960s
In the USA of the 1950s and 60s, there was much debate about how much weight should be given to oral histories. It was not only the validity of oral testimonies by “ordinary people” that was open to debate, but also of so-called “expert interviews.” Saul Benison, one of the proponents of oral history at Columbia University in New York, wrote instructions for the subject that also became used by science historians. It focused on meticulous preparations by the interviewer and on the appropriate ways to pose questions. This lecture will look at the project called Sources for History of Quantum Physics, which was funded by the National Science Foundation (USA), and for which Benison acted as an advisor. Running from 1961 to 1964, it aimed to gather and secure the wide range of written documents and verbal reminiscences that still existed concerning quantum physics. The project was led by historian and philosopher of science Thomas S. Kuhn, who was assisted by John Heilbronn and Paul Forman in building the first archival collection of oral histories concerning the history of science. This collection, along with the project’s archived documents, can be seen as a decisive chapter in the history of the research interview.
Franka Maubach, Jena:
The Veto Power of Source Materials. Thoughts on the Secondary Analysis of Oral History Interviews
The title of the scheduled panel calls attention to a fundamental problem in source material criticism and epistemology. The danger of giving unquestioning credence to the assertions found in source materials (here, the words of the interviewee), and thus to be “led by the nose”, seems greater with life-story interviews than with other source materials (also because of the persuasive charisma of the narrating person, with whom the interviewer always enters into an intense, even intimate relationship). While such “partisanship” is not restricted to the field of oral history, it is nonetheless a very particular and particularly pronounced form of “partisanship”, one that needs to be examined in terms of source material criticism.
Especially in the early days of European oral history research during the late 70s and early 80s, there was a strong tendency to not only acknowledge the oral testimonies of oppressed social groups, to whom one wanted to “give a voice”, but also to surround them with an aura of authenticity (to a greater extent than with more detached written sources). But did the interviewees really say what the interviewers believed? Did they confirm the interviewers’ presuppositions about their lives? Or did they say something fundamentally different? Were the interviewers able to hear this – and understand? My presentation will focus on the secondary source-material criticism of early oral history testimonies, potentially offering insights for a more nuanced interpretive process, one that ultimately takes us past our presuppositions and, using the example of the LUSIR Project, towards the recognition that large swathes of the German populace had let themselves be swept up into the community-bonding promises of National Socialism; a very particular version of the “veto power” of source materials.
Andrea Althaus, Hamburg:
Migration Narratives. The Relationship between Biography and History
When historians utilize life history interviews in researching a historical phenomenon, one major step in their analysis is to contextualize the narrative. This is usually understood as placing the interview within the historical context to which it refers and from which it derives its significance. However, besides this historical context, it is also helpful to reconstruct the biographical one, and to incorporate it into the analysis. This lecture will show how narrations of migration experiences have both a historical dimension and a biographical one by looking at the migration narratives of German and Austrian women who went to work in Switzerland after World War II as domestics and hospitality staff. Migration experiences take place within concrete historical situations, are governed by economic/political conditions and are shaped by social discourses. On the other hand, how migration is experienced and recounted also depends on the biographical experiences that happened before and since the migration. Historical contextualization allows us to analyse which discursive lines and historical events find their way into the narrative, thereby becoming historiographically significant. Meanwhile, the consideration of a narrative’s biographical framework helps us to analyse how the interviewee assigns meaning to their (migration) experiences at a particular time in their lifetime and within a specific situation of recounting. This twofold contextualization enables a more analytically nuanced understanding of the subjectivity of individual interpretation.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Marc Buggeln, Berlin) Gabriele Metzler, Berlin: Moderation Marc
Überblick
(Marc Buggeln, Berlin)
Gabriele Metzler, Berlin:
Moderation
Marc Buggeln, Berlin:
Steuerpolitik zwischen Gerechtigkeit und Effizienz: Umverteilungssemantiken und
-auswirkungen in der Bundesrepublik Deutschland
Winfried Süß, Potsdam:
Der generöse Leviathan. Staatsausgaben zwischen Boom und Krise
Hans-Peter Ullmann, Köln:
Die »Erweiterung des Staatskorridors«. Öffentliche Schulden zwischen Expansion und Konsolidierung
Ralf Ahrens, Potsdam:
Vom Lenkungsinstrument zum »Opium für die Wirtschaft«: Subventionen als haushalts- und strukturpolitisches Problem
Laura Rischbieter, Berlin:
Kommentar: Staat, Wirtschaft und Umverteilung in globaler Perspektive
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
PHIL-G
Philosophenturm