September
Überblick
(Mareike König, Paris, Torsten Hiltmann,
Überblick
(Mareike König, Paris, Torsten Hiltmann, Münster)
Mareike König, Torsten Hiltmann:
Einleitung: Digitale Methoden für die Geschichtswissenschaft
Semantic web/Linked Data
Karsten Tolle, David Wigg-Wolf, Frankfurt/M.:
Nomisma: Linked Open Data in der Numismatik am Beispiel von AFE, Nomisma.org und OCRE/CRRO
Anna Aschauer, Mainz:
Das Potenzial der digitalen Werkzeuge. Cosmotool: Grenzüberschreitende Lebensläufe in den europäischen Nationalbiographien des 19. Jahrhunderts
Digitale Editionen
Friedrich Meins, Oliver Bräckel, Leipzig:
Edieren – Annotieren – Publizieren: eComparatio und CTS
Godfried Croenen, Liverpool:
The Online Froissart. A Digital Edition of the Chronicles of Jean Froissart
Georg Vogeler, Graz, Susanna Burghartz, Basel:
Mehrwert für die Forschung: Digitales Edieren am Beispiel der Basler Jahrrechnungen im 16. Jahrhundert
Text-mining
Jaap Verheul, Pim Huijnen, Utrecht:
Texcavator as a Tool for Cultural Text Mining in Historical Newspaper Repositories
Thomas Werneke, Potsdam:
Das DDR-Pressekorpus und DiaCollo
Netzwerkanalyse und biographische Datenbanken
Marten Düring, Luxembourg:
Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus. Die Entstehung und Arbeitsweise von Berliner Hilfsnetzwerken für verfolgte Juden
Dagmar Mrozik, Wuppertal:
The Jesuit Science Network. Einsatz von digitalen Methoden in der Wissenschaftsgeschichte
Historische GIS – Visualisierung
Yvonne Rommelfänger, Trier, Niklas Alt, Trier:
Vom gedruckten Werk zum Digitalen Atlas – Möglichkeiten und Herausforderungen des Digitalen
Piotr Kuroczynski, Marburg:
Digitale 3D Rekonstruktionen in virtuellen Forschungsumgebungen
Abstracts
“Digital Humanities” sind als Modeschlagwort in aller Munde. Doch ist vielen nicht klar, was sich für die Geschichtswissenschaften konkret hinter diesem Schlagwort verbirgt. Allgemein wird darunter die Anwendung digitaler Methoden für die Beantwortung geisteswissenschaftlicher Fragestellungen sowie die Reflexion darüber verstanden. Doch welche Methoden, Tools und Überlegungen kommen hier konkret zur Anwendung? Wie sieht digitale Geschichte, sehen digitale Projekte im Bereich der Geschichtswissenschaft konkret aus? Welchen Mehrwert bieten sie gegenüber bisherigen Methoden? Welche Fragestellungen lassen sich damit neu oder anders beantworten, welche lassen sich ganz neu stellen? Schließlich, wie wird sich unser historisches Arbeiten durch digitale Arbeitsweisen verändern?
Ziel der Sektion ist es, einen Überblick über die vielfältigen digitalen Methoden in der Geschichtswissenschaft zu geben und an konkreten Praxisbeispielen deren möglichen Nutzen für unser Fach aufzuzeigen.
Weitere Praxisbeispiele aus der digitalen Geschichtswissenschaft werden auf dem Historikertag im Rahmen einer Postersession im Raum HWF-121 präsentiert. Am Mittwoch, 21. September, 15-16:30 Uhr gibt es zudem Gelegenheit, mit den Autoren der Poster zu diskutieren.
Semantic web/Linked Data
Karsten Tolle, David Wigg-Wolf, Frankfurt/M.:
Nomisma: Linked Open Data in der Numismatik am Beispiel von AFE, Nomisma.org und OCRE/CRRO
Das Linked Open Data-Projekt Nomisma.org stellt verschiedenen Konzepte der Numismatik basierend auf den Methoden des Semantic Webs bzw. Linked Open Data (LOD) öffentlich bereit. Damit schafft Nomisma.org die Grundlage für einen maschinen-verstehbaren Datenaustausch.
Nomisma.org und auch die darauf hervorgegangenen Services Coinage of the Roman Republic Online (CRRO) und Online Coins of the Roman Empire (OCRE) können sowohl von Münzkabinetten und Museen als auch von Münzfundcorpora genutzt werden, um die Daten untereinander auszutauschen bzw. bereitzustellen. In unserem Projekt Antike Fundmünzen in Europa (AFE) nutzen wir diese Ressourcen, um verschiedene Münzfund-Datenbanken einheitlich über ein Metaportal abzufragen. Weiterhin erlaubt der LOD-Ansatz, dass durch Bereitstellung unserer Daten zu Münzfunden, diese ebenfalls über OCRE als Belege für einzelne Münztypen zusammen mit den entsprechenden Münzen anderer Einrichtungen angezeigt werden.
In der Präsentation werden wir dies praktisch vorführen, um zu zeigen, WAS aktuell möglich ist. Aber natürlich soll auch das WIE angesprochen werden.
Anna Aschauer, Mainz:
Das Potenzial der digitalen Werkzeuge. Cosmotool: Grenzüberschreitende Lebensläufe in den europäischen Nationalbiographien des 19. Jahrhunderts
Durch die fortschreitende digitale Erfassung von historischen Quellen wächst die Menge der für Geisteswissenschaftler auswertbaren Daten (von „Knappheit“ zu „Überfluss“). Um diese großen Datenmengen auszuwerten, wird ein digitales Werkzeug benötigt, welches dem spezifischen Erkenntnisinteresse von Historikern entspricht. Dabei soll die hermeneutische Methode nicht durch quantitative Analyse ersetzt werden, sondern dadurch präziser angewandt werden, um den Blick für neue Fragen zu schärfen.
Im Vortrag wird das Cosmotool vorgestellt, ein digitales Werkzeug, das qualitative und quantitative Ansätze vereint. Dieses Werkzeug ist speziell für die Forschung mit und zu Biographien entwickelt worden und erlaubt die automatische Entdeckung von Verbindungen zwischen Personen, Orten, Daten und Ereignissen in großen biografischen Korpora. Als nächsten Schritt soll es die Identifikation von Personengruppen unterstützen und die Visualisierung von Netzwerken ermöglichen, was es erlauben würde, weitere Arten von Fragen mit Cosmotool zu bearbeiten.
Digitale Editionen
Friedrich Meins, Oliver Bräckel, Leipzig:
Edieren – Annotieren – Publizieren: eComparatio und CTS
Die Altertumswissenschaften befinden sich in der komfortablen Lage, über weitgehend abgeschlossene digitale Korpora der literarischen Überlieferung zu verfügen. Darauf bauen zwei Projekte am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Leipzig auf: Ziel ist die Schaffung einer Benutzeroberfläche, die es ermöglicht, Texte auf unterschiedlichsten hermeneutischen Hierarchieebenen (Mss., Drucke, andere Edd.) in reiner PLAINTEXT-Eingabe ohne jeglichen Programmieraufwand den bereits Vorhandenen zur Seite zu stellen und verschiedene Formen des Textvergleichs ebenso wie eine Verknüpfung mit verschiedensten Metadaten zu ermöglichen. Dazu wird die Vergleichssoftware eComparatio, in Leipzig und Erfurt von Hannes Kahl entwickelt, mit dem Canonical Text Services-Referenzierungssystem verbunden, so dass ein verbindlicher Standard für das Zitieren antiker Quellen aus Volltextdatenbanken geschaffen wird.
Zur Demonstration und zum beispielhaften Beleg präsentiert das Projekt einen annotierten Fall von CTS/CITE für die Periklesvita von Plutarch (gefördert durch die Andrew W. Mellon Foundation, New York, in Kooperation mit Christopher Blackwell, Furman University, Greenville SC). Das Ergebnis wird die entwickelte Form von CTS mit den Ergebnissen der eAQUA-Textanalyse und den Vergleichsergebnissen des eComparatio-Projekts verbinden.
Godfried Croenen, Liverpool:
The Online Froissart. A Digital Edition of the Chronicles of Jean Froissart
Jean Froissart’s Chronicles are the single most extensive narrative account of the first part of the Hundred Years War (c. 1326-1400). The prose text in Middle French deals with the conflict between the English and French monarchs in the later Middle Ages and a number of other historical developments and conflicts in Western Europe and in the Mediterranean in this same period. The Chronicles were written, added to, and rewritten by the author over a period of several decades, which resulted in a text of more than 1.5 million words. The manuscript transmission, which reflects in part these authorial rewritings, comprises more than 160 volumes and fragments, poses an almost unsurmountable obstacle to any potential editor of the text, who not only needs to deal with the sheer size of the text and the complexity of the different authorial and scribal versions and their relationships amongst each other and with other text, but also has to provide annotation on a wide-ranging historical narrative. The Online Froissart project, which aims to develop a new understanding of the text and of its genesis, has therefore decided to adopt a DH approach to this research problem by developing a hybrid digital online edition. The website provides users with a number of resources that would not be available in the case of a traditional printed edition, including transcriptions of several complete witnesses and sample transcriptions of all manuscripts, full high-resolution reproductions of select manuscripts, and extensive historical and textual annotation. The interface also includes a number of tools that allow the user to exploit for himself the materials, including a word-for-word collation engine, different display modes for parallel display of the materials (transcription-facsimile, transcription-translation, transcription of up to four different witnesses), and various ways of accessing the data, including a powerful search engine, and various entry points into the text via summaries of the text or coordinates of existing printed editions (page and chapter numbers). In my presentation I will present some of the advantages of such a digital approach and also reflect on challenges it poses.
Georg Vogeler, Graz, Susanna Burghartz, Basel:
Mehrwert für die Forschung: Digitales Edieren am Beispiel der Basler Jahrrechnungen im 16. Jahrhundert
Digitale Editionen zur Aufbereitung von Quellen für die Forschung sind ein Vorreiter im Feld der Digitalen Geisteswissenschaften, denn sie schaffen gegenüber klassischen, analogen Editionen einen erheblichen Mehrwert. Dies gilt in besonderem Maße für Quellen, die sowohl qualitativ wie quantitativ ausgewertet werden sollen. Die im Februar 2016 als Kooperationsprojekt der Referenten erstellte digitale Edition der Jahrrechnungen der Stadt Basel für die Jahre 1535/36 bis 1610/11 (http://gams.uni-graz.at/srbas), die gewissermaßen eine Fortsetzung zur gedruckten Edition der Jahrrechnungen der Stadt Basel für die Jahre von 1360/61 bis 1534/35 von Bernhard Harms ist, ist ein praktisches Beispiel für diesen Nutzen. Während Historikerinnen und Historiker bei der Arbeit mit der Edition von Harms sämtliche nummerischen Angaben erst nachträglich in einer (wie auch immer gearteten) Datenbank erfassen mussten, bevor sie mit ihnen rechnen konnten, stellt die digitale Edition bereits standardisierte Umrechnungen der verschiedenen Buchungskonten und deren Visualisierung in Grafiken zur Verfügung und erlaubt es, vom Benutzer ausgewählte Angaben in der Quellen aus der digitalen Edition direkt in Standardsoftware zur Tabellenkalkulation zu exportieren.
Text-mining
Jaap Verheul, Pim Huijnen, Utrecht:
Texcavator as a Tool for Cultural Text Mining in Historical Newspaper Repositories
Die Geschichtswissenschaften werden seit einiger Zeit mit einer stetig wachsenden Verfügbarkeit von digitalisierten historischen Datensätzen konfrontiert. In den Niederlanden hat die Nationalbibliothek (KB) in den letzten Jahren rund 9 Millionen Seiten historischer Zeitungen digitalisiert. Um diesen massiven Korpus mithilfe von quantitativen Analysemethoden für die (kultur)historische Forschung zu erschließen, wurde an der Universität Utrecht im Rahmen des Digital Humanities Projektes „Translantis“ das Textanalyse Tool „Texcavator“ entwickelt. Die bisherigen Erfahrungen im Translantis-Projekt haben gezeigt, dass die Funktionalitäten von Texcavator insbesondere dazu geeignet sind, der Begriffsgeschichte neue Impulse zu verleihen. Dabei ist nicht nur an Frequenz- und Kookkurenzanalysen von Wörtern oder Queries über Zeit zu denken. Wie in der Präsentation gezeigt werden soll, geht es vor allem um die Visualisierung von sich über die Zeit ändernden Clustern semantisch ähnlicher Wörter auf Basis von modernster Wordvektor-Techniken.
Thomas Werneke, Potsdam:
Textmining und NLP: Das DDR-Pressekorpus und das Kollokationsanalysetool DiaCollo als Anwendungsbeispiele digitaler Ressourcen in der Geschichtswissenschaft
Der Beitrag „Das DDR-Pressekorpus und Diacollo“ stellt erste Ergebnisse einer Auswertung von DDR-Printmedien mit Hilfe von digitalen Analyseverfahren im Rahmen des Forschungsverbundes CLARIN-D vor. Er verhandelt dabei die Frage, wie sich hermeneutische Verfahren mit dem sogenannten „distant reading“ fruchtbar verknüpfen lassen und somit eine historische Semantik methodisch erweitern.
Durch die Aufwertung des Portals als CLARIN-D-Ressource werden der Forschung neue Möglichkeiten geboten, Hypothesen zur Charakteristik des Sprachgebrauchs in der DDR sowie zum Sprachwandel in DDR-Medien empirisch zu stützen. Dazu zählen unter anderem statistische Auswertungs- und Visualisierungsmöglichkeiten. Die Integration des DDR-Presseportals in die Infrastruktur von CLARIN-D bildet zudem die Grundlage, um die Potentiale computerlinguistischer Analysetools in den Geschichtswissenschaften einer breiteren Fachöffentlichkeit vorzustellen.
Vorgestellt wird in diesem Zusammenhang das digitale Analysewerkzeug „DiaCollo“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft, mit dem sich Kollokationen (häufige Begleiter) von Begriffen im historischen Verlauf untersuchen lassen.
Netzwerkanalyse und biographische Datenbanken
Marten Düring, Luxembourg:
Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus. Die Entstehung und Arbeitsweise von Berliner Hilfsnetzwerken für verfolgte Juden
Wie und warum haben Menschen verfolgten Juden in Berlin beim Überleben geholfen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Einbettung in soziale Strukturen und der konkret geleisteten Hilfe? Um diese Frage genauer untersuchen zu können, bietet es sich an, die sozialen Beziehungen der Beteiligten systematisch zu erfassen und die zugrundeliegenden sozialen Netzwerke zu rekonstruieren. Der Vortrag wird anhand publizierter und unpublizierter Quellen zu sechs Berliner Hilfsnetzwerken das methodische Vorgehen bei der Erfassung und Visualisierung von Sozialbeziehungen beschreiben.
Dagmar Mrozik, Wuppertal:
The Jesuit Science Network. Einsatz von digitalen Methoden in der Wissenschaftsgeschichte
In meinem Vortrag möchte ich mit dem Jesuit Science Network mein Dissertationsprojekt vorstellen und den Weg nachzeichnen, den es vom rein theoretischen Forschungsinteresse an Jesuiten in den frühneuzeitlichen Wissenschaften hin zur praktischen Umsetzung in einer biographischen Datenbank und Website genommen hat. Dabei möchte ich darlegen, wie das Wissen, die Ideen und die Anforderungen aus historischer Sicht mit dem tatsächlich Möglichen und Umsetzbaren aus technischer Sicht aufeinandertreffen, sich gegenseitig beeinflussen und das gesamte Projekt entsprechend formen.
Historische GIS – Visualisierung
Yvonne Rommelfänger, Trier, Niklas Alt, Trier:
Vom gedruckten Werk zum Digitalen Atlas – Möglichkeiten und Herausforderungen des Digitalen
Das Projekt Digital Atlas of European Historiography since 1800 hat zum Ziel, ein frei zugängliches, webbasiertes historisch-geographisches Informationssystem zur europäischen Historiographie¬geschichte aufzubauen. Dabei sollen für alle Staaten Europas die institutionellen Rahmenbedingungen für die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert dokumentiert werden.
Der sich im Aufbau befindliche digitale Atlas geht über die Möglichkeiten des gedruckten Werks hinaus und bietet einen neuen, erweiterten Zugang zu den gesammelten Daten zu historischen Lehrstühlen und Professuren, Akademien und Forschungseinrichtungen, Museen, Archiven, Geschichtsvereine und Zeitschriften.
Dafür wurden die Daten in die an der Universität Trier entwickelte virtuelle Forschungsumgebung FuD importiert und aufbereitet. Die Informationsübertragung in das onlinebasierte geographische Informationssystem erfolgt über eine standartisierte Geo(Json)-Schnittstelle. Durch den Einsatz der etablierten virtuellen Forschungsumgebung werden die Möglichkeiten für eine kontinuierliche, kolloborative Bearbeitung der Datengrundlage und deren nachhaltige Langzeitarchivierung geschaffen. Die dafür nötige Verwendung offener Standards und freier Software sind zentrale Aspekte des Projekts.
Piotr Kuroczynski, Marburg:
Digitale 3D Rekonstruktionen in virtuellen Forschungsumgebungen
Die Tendenz der letzten Jahre zeigt uns zum einen den Trend zur Strukturierung, semantischen Anreicherung und Vernetzung der Daten, zu anderen zur dreidimensionalen (Informations-)Visualisierung. Begriffe wie Web 3.0 (Semantic Web) und Web3D markieren den kommenden Entwicklungsschritt im Internet. Welche Rolle können dabei rechnergestützte 3D-Rekonstruktionen für die historische Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt und deren Vermittlung spielen? Wie sieht eine Virtuelle Forschungsumgebung für 3D-Datensätze aus?
Anhand laufender und avisierter Projekte zu zerstörten Barockschlössern in ehem. Ostpreußen und zur Geschichte der Stadt Lodz wird das Potenzial und die Herausforderungen von digitalen 3D-Modellen für die Forschung und Re-Kontextualisierung von authentischen Objekten, zum einen in situ (im Freien), zum anderen in den Museen vorgestellt.
Der Beitrag stellt »eine Sprache der Objekte« vor, welche den Prototypen eines interaktiven webbasierten »Virtuellen Museums« in Verbindung mit »Augmented Reality« ermöglicht, bei dem das digitale 3D-Modell den klassischen Anforderungen von Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln im Zeitalter vom Web 3.0 und Web3D gerecht wird.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 13:15
Ort
HOF-221
Hauptgebäude Ostflügel
Überblick
(Ulrich Herbert, Freiburg, Andreas Wirsching,
Überblick
(Ulrich Herbert, Freiburg, Andreas Wirsching, München)
Podiumsdiskussion
– Ulrich Herbert, Freiburg
– Konrad Jarausch, Chapel Hill
– Jürgen Kaube, Frankfurt/M
– Birthe Kundrus, Hamburg
– Andreas Wirsching, München
Abstract
Ausgangspunkt der hiermit vorgeschlagenen Podiumsdiskussion ist die gegenwärtig zu beobachtende neue „Hitler-Welle“ in Wissenschaft und Öffentlichkeit. In jüngster Zeit sind mehrere neue wissenschaftliche Hitler-Biographien erschienen, weitere sind angekündigt. Zugleich erzeugen die Diskussion um die im Januar 2016 erscheinende kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“, aber auch entsprechende massenkulturelle Tendenzen („Er ist wieder da“, Rimini- Projekt) einige mediale Aufmerksamkeit. Aus mehreren Gründen ist es unabdingbar, diesen Trend kritisch zu diskutieren. Erstens besteht die Gefahr, dass in der interessierten Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Quellen des Nationalsozialismus und seiner Verbrech en lägen primär oder sogar ausschließlich bei Hitler und seiner engsten Entourage. Dies wäre ein fataler Rückschritt hinter den erreichten Forschungsstand zur Politik- und Täter-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte des NS-Regimes. Einer gegenwärtig zu beobachtenden Verkürzung der öffentlichen Wahrnehmung auf ein Hitler-zentriertes Bild des Nationalsozialsozialismus sollte also entgegengewirkt werden. Zugleich ist eine Dekontextualisierung der Schriften und Reden Hitlers festzustellen, die der Suggestion der Originalität aufsitzt und Hitler aus dem Zusammenhang der dominierenden Denk- und Sprechweisen der deutschen Rechten der 19 20er und 30er Jahre herauslöst. Hitler als politische Figur wie als Projektionsfläche zu historisieren ist daher eine ebenso aktuelle Aufgabe wie die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung Hitlers für die Dynamik, Etablierung und Radikalisierung des NS-Regimes. Insbesondere gilt dies vor dem Hintergrund jüngerer Debatten um das Problem, welche spezifische Struktur von „Staatlichkeit“ die NS-Diktatur aufwies und welche Selbstermächtigungs- und Selbstmobilisierungsprozesse („Volksgemeinschaft“) ihre Dynamik erzeugten. Schließlich muss angesichts der jüngeren Forschungen erneut nach der Bedeutung Hitlers bei der Ingangsetzung des Judenmords gefragt werden. Einerseits hat die Forschung die Initiativen und autonomen Vorgehensweisen regionaler und lokaler Akteure zum Teil sehr detailliert herausgearbeitet. Andererseits aber zeigt die systematische Arbeit an den Quellen auch in aller Klarheit den entscheidenden Einfluss der Zentrale: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erscheinen als ein im Kern gleichgerichtetes europäisches Geschehen, das den Rhythmen des Zweiten Weltkrieges und dem deutschen Vormarsch folgte. Welches Gewicht hier der Bezug auf den „Führer“ besaß und in welchem Maß exakte oder symbolische Initiativen von Hitler ausgingen, bedarf einer erneuten, sorgfältigen Austarierung. Ausgehend von diesen Leitfragen bietet die wissenschaftliche Problematisierung der gegenwärtigen „Hitler-Welle“ einen aktuellen Beitrag zu dem historiographischen Grundproblem von Persönlichkeit und Geschichte. Als solche liegt die vorgeschlagene Podiumsdiskussion am Schnittpunkt von Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. Es geht dabei sowohl um die Bewertung neuer Forschungsergebnisse als auch um die Dis kussion der geschichtskulturell dominierenden Bilder und ihrer Auswirkungen auf unser Gegenwartsbewusstsein. Um eine lebhafte Diskussion zu erzielen, wird das Format einer freien Diskussion gewählt. Von längeren Einführungsstatements der Podiumsteilnehmer wird abgesehen, allerdings soll die moderierte Diskussion entlang von Leitfragen strukturiert werden, die den oben genannten Ausführungen folgen.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Werner Rieß, Hamburg) Abstracts (scroll down
Überblick
(Werner Rieß, Hamburg)
Abstracts (scroll down for english version)
Jede Gesellschaft steht in epistemischer Hinsicht im Spannungsfeld von Wissen und bloßen Meinungen. Individuen wie Gesellschaften oszillieren zwischen diesen beiden Polen und nehmen vielerlei Zwischenpositionen ein, um Orientierungs- und Handlungswissen zu gewinnen.
In der direkten Demokratie Athens kam der Aushandlung von Wissen zentrale Bedeutung zu: Die extreme Aufteilung von Kompetenzen erschwerte die Weitergabe von Wissen. Dennoch war diese Regierungsform zwei Jahrhunderte hinweg recht effektiv, was die Frage nach der Organisation von Wissen aufwirft. In den letzten Jahren haben internationale Forschung (etwa J. Ober, Democracy and Knowledge, Princeton 2008), Nachbardisziplinen (etwa M. Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013) sowie der durch die Digitalisierung beschleunigte Wandel unserer Informationsverarbeitung auch die althistorische Forschung auf diesem Gebiet befeuert.
Die Sektion verbindet erstmals in der Alten Geschichte Forschungen zum Wissen mit dem spatial turn: Wo fanden die Aushandlungsprozesse zwischen Meinungen und gesichertem Wissen statt? Für Athen ist eine grundsätzliche Offenheit (physisch wie sozial) von Räumen zu konstatieren, die den freien Meinungsaustausch in einer bis dahin ungekannten Weise beförderte. In diesen Diskursräumen fanden Aushandlungsprozesse statt, denen nachgespürt werden soll, Prozesse, die wir idealtypisch als gesellschaftlich, politisch, juristisch sowie geistig-intellektuell bezeichnen. Selbstverständlich überlappen sich diese Felder der sozialen Praxis. Aus heuristischen Gründen ist die Kategorisierung in verschiedene Praxisfelder jedoch nützlich, erlaubt sie doch die genauere Verortung der in Frage stehenden Aushandlungsprozesse.
Hans Beck, Montréal:
Im Schatten der Pnyx. Die athenische Demokratie und das Wissen der Straße
Die Demokratie Athens zeichnete sich durch ihr hohes Maß an Wissen aus. In der sogenannten open air Kultur der Polis war politische Expertise breit gestreut. Die Beteiligung der Bürger an den Institutionen der Stadt förderte nicht nur den Bildungsstand der Politen, sondern sie zeitigte auch ein beachtliches Erfahrungswissen („nomologisches Wissen“). Neben der Kennerschaft im Inneren wird in jüngster Zeit auch ein breites Wissen der Polisbürger über die griechische Welt insgesamt konstatiert: Je größer die kommunikativen Netzwerke, um so kleiner wurde die Welt der Hellenen. Zu den Charakteristiken dieser Small Greek World (Irad Malkin [2011]) gehörte es, dass die Polisbürger gut über die Lage im übrigen Griechenland Bescheid wussten.
Wieviel wussten die Bürger der Polis aber wirklich über politische Konstellationen andernorts? Forschungen zum Austausch von Nachrichten verweisen durchwegs auf die rudimentäre Infrastruktur, die für den Informationsfluss bestand. Die maßgeblichen Polis-Instrumente waren Proxenien und Gesandtschaften; beide spielten bei der Diskussion um die Ratifizierung von Friedensschlüssen und Verträgen eine wichtige Rolle. Die überlieferten Beispiele solcher Diskussionen legen dennoch nahe, dass die Volksversammlung häufig nur eine begrenzte Kenntnis von den Verhandlungsgegenständen hatte. Die schon von den Zeitgenossen angemahnte Abhängigkeit der Ekklesia von Demagogen und das Gewicht von Gerüchten bei der Entscheidungsfindung sind vor dem Hintergrund einer solchen Uninformiertheit kein Zufall.
Dieser ambivalente Befund von hohem Erfahrungswissen auf der einen Seite und relativer Unkenntnis auf der anderen dient im zweiten Teil meines Vortrages einer genaueren Bestimmung des Wissens, das in der Öffentlichkeit bzw. „auf der Straße“ (Alex Gottesman, Politics and the Street in Democratic Athens [2014]) vorherrschte. Im öffentlichen Raum war der Austausch von Wissen nicht den Bürgern vorbehalten, sondern er bezog alle mit ein (Nicht-Bürger, Fremde, Frauen, Sklaven). Gleichzeitig fand die Formierung von Meinungsbildern in Gruppen und Milieus statt – in Vereinen, Phratrien, Banden –, die einer dezidiert anderen Dynamik folgten als die Institutionen der Stadt. Die Straße war insofern ein Ort, in dem die politischen Hierarchien der Polis zwar nicht aufgehoben, in ihrer Wirkkraft aber eingeschränkt waren. Die Komplexität und auch Komplementarität dieser informellen Wissensräume hatte, wie abschließend gezeigt wird, wiederum Rückwirkungen auf den politischen Prozess in Athen.
Christian Mann, Mannheim:
Der Ruf der Demagogen: Gerüchte als akkumuliertes Wissen und als politische Waffe Politische Meinungsführer, in den zeitgenössischen Quellen zumeist demagogoi genannt, waren ein unverzichtbares Element der athenischen Demokratie – sie machten die Volksversammlung erst handlungsfähig. Ihre Darstellung in den Quellen ist allerdings von negativen Stereotypen geprägt: Demagogen standen unter Generalverdacht, Politik nur zum eigenen Vorteil und nicht zum Wohl der Polis zu betreiben, schön klingende Worte anstelle von sachlichen Argumenten einzusetzen, wider besseres Wissen schlechte aber populäre Vorschläge zu machen und Ämter zur persönlichen Bereicherung zu nutzen. Aufgrund der schwachen Stellung von Amtsträgern, der scharfen Konkurrenz der Demagogen untereinander und fehlender Parteistrukturen schwebten alle Demagogen ständig in der Gefahr, ostrakisiert oder in einem politischen Prozess verurteilt zu werden.
In den Volksversammlungen konnten die anwesenden Bürger sich ein Bild von den Demagogen machen, sie verfügten damit über ein gesichertes Wissen. Doch die entscheidende Frage, ob ein Demagoge Politik zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil der Polis betreibe, konnte auf der Grundlage dieses Wissens nicht beantwortet werden. Große Bedeutung besaßen deshalb die Gerüchte, die man sich in den Häusern und Straßen Athens erzählte: Aischines preist die pheme, die in der Stadt umlief, als akkumuliertes Wissen des Volkes; die pheme zeige den Charakter eines Bürgers an (Gegen Timarchos, 127-129). Die möglichen Ansatzpunkte für Gerüchte sind vielfältig: Sie können auf den ökonomischen Status eines Demagogen bezogen sein, auf seine politischen Vorschläge, aber auch auf sein Erscheinungsbild, d.h. seine Kleidung und Frisur, seine Stimme, seine Bewegungen.
In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen, die genauer zu untersuchen sind: Welche Möglichkeiten boten sich Demagogen, Einfluss auf die Gerüchte über sich selbst und über die politischen Gegner zu nehmen? Und welche Zusammenhänge zwischen dem öffentlichen Auftreten von Demagogen und den über sie kursierenden Gerüchten lassen sich erkennen?
Claudia Tiersch, Berlin:
Selbstbeschreibungen der Demokratie in attischen Reden
Obzwar sich die athenische Demokratie insbesondere seit 403 v. Chr. als erstaunlich funktionale politische Ordnung bewährte, die selbst in militärischen und finanziellen Problemlagen ein hohes Maß an Stabilität und Problemlösungskompetenz aufwies, sind die zeitgenössischen politiktheoretischen Entwürfe weitgehend demokratiekritisch. Allerdings ist in der Forschung zunehmend darauf verwiesen worden, daß zumindest die kritischen Bemerkungen der attischen Redner nicht als Ablehnung der Demokratie zu interpretieren seien, sondern vielmehr als mahnender bzw. ermunternder Diskurs mit den Bürgern, sich stärker für den Erhalt der grundsätzlich akzeptierten Ordnung einzusetzen. Genau hier möchte mein Beitrag einsetzen. Er geht von der Grundannahme aus, daß traditionelle normative Vorstellungen der eunomia eher hierarchische Modelle präferierten, daß der lebendige politische Diskurs der athenischen Demokratie aber im Verlauf mehrerer Jahrzehnte eine Fülle an Kategorien und Überlegungen über Wesen, Ziele und Funktionalität der demokratischen Ordnung entwickelte. Die attischen Reden sollen deshalb unter folgenden Fragestellungen analysiert werden: Welche Selbstbeschreibung der
athenischen Demokratie geben die attischen Redner? Worin sehen sie deren Vorzüge bzw. deren Spezifika und die Bedingungen ihres Funktionierens? Wie charakterisieren sie die Bedeutung von Institutionen, die Rollenverteilung zwischen den Bürgern und deren Handlungserfordernisse? Welche Normen nehmen in den Reden eine zentrale Bedeutung ein? Welche Rolle spielt z.B. die Kategorie der Gerechtigkeit, wie wird diese semantisiert? Welches Wissen über die demokratische Ordnung transportieren und verhandeln sie? Wie wird die neue politische Wirklichkeit kategorial verarbeitet? Welche unterschiedlichen Ansätze werden hier bei den jeweiligen Rednern erkennbar? Anliegen des Beitrags ist die Bestimmung von Grundzügen des Wissens über die athenische Demokratie, welches zwar als Expertenwissen, jedoch in diskursiver Aushandlung, in den attischen Rednern erkennbar wird.
Dorothea Rohde, Bielefeld:
Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen
Unter dem Begriff des politischen Verrates lassen sich in klassischer Zeit verschiedene Tatbestände subsumieren. Obwohl eine Verurteilung die Todesstrafe vorsah, wurden die Prozesse in erster Linie auf der Basis von Überzeugungen entschieden. Der Gerichtssaal als Diskursraum der Aushandlung von Wissen und Meinen umfasste dabei drei Dimensionen: Erstens zeichneten sich die Verfahren durch das weitgehende Fehlen von Beweisen aus. An die Stelle von Fakten trat der Versuch, die eigene Version durch die Narration von Ereignissen und Wahrscheinlichkeiten glaubhaft zu machen. Zeugenaussagen dienten dabei nicht allein der Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes, sondern sie waren ritualisierte Akte der Hilfeleistung. Zweitens zielten die rhetorischen Strategien darauf ab, die eigene Integrität durch den Verweis auf gemeinschaftsrelevante Taten hervorzuheben und den Gegner zu diskreditieren. Die athenischen Richter stimmten daher auch über die vor ihnen stehenden Persönlichkeiten ab. Drittens wurden bei Verratsprozessen die Rechtsnormen situativ durch die „Staatsräson“ ausgefüllt. Was als Verrat galt, beurteilten die Richter aufgrund des diffusen Nützlichkeitskriteriums. Es wurde also vor allem um die Deutungshoheit in politischen Richtungsentscheidungen gestritten.
Gleichwohl wäre es verfehlt, den Primat des Glaubens vor faktenbasiertem Wissen nur als rechtshistorisches Kuriosum abzutun. In Athen dienten Verratsprozesse nicht nur der Auseinandersetzung zwischen Konkurrenten, sondern hier konnten auch Kriterien für ein erwünschtes Verhalten von Politikern formuliert, der Vorrang des Gemeinwohls vor Partikularinteressen eingeimpft, Beschlüsse der Volksversammlung korrigiert und das Verpflichtungsverhältnis der Bürger untereinander durch die Definition von außenpolitischen Feindschaften gestärkt werden. Auf diese Weise fungierte die Verratsanklage in ihren verschiedenen Ausprägungen als ein Mittel der Homogenisierung der politischen Akteure.
Katarina Nebelin, Rostock:
Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen
Nebelin behandelt den geistig-intellektuellen Prozess der Selbstoptimierung. Die Vorstellung, dass man beständig an sich arbeiten müsse, um die eigene Vortrefflichkeit auszubilden und zum Ausdruck zu bringen, war bereits Teil des archaischen Elitenideals gewesen. Intellektuelle Qualitäten hatten dabei aber zunächst keine zentrale Rolle gespielt. Dies änderte sich erst seit dem Auftreten der Sophisten im fünften Jahrhundert v. Chr. In dieser Zeit brachte Athen ein demokratisches und ein philosophisches Grundmodell der geistig-intellektuellen Selbstoptimierung hervor. Letzteres spaltete sich wiederum in eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten auf. Gemeinsam war allen ihre elitäre Ausrichtung: Selbstoptimierung sollte durch individuelles Leistungsstreben erreicht werden. Unterschiede bestanden vor allem in zwei zentralen Punkten: der Reichweite der jeweiligen Konzeption und ihrem Verhältnis zu gängigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen. So erhielt der demokratischen Ideologie zufolge jeder Bürger die Chance, sich zu entfalten, zu bewähren und Ruhm für seine Taten zu ernten – unabhängig von seiner sozialen Herkunft oder seinem Vermögen. Philosophische Selbstoptimierungskonzepte richteten sich dagegen meist an exklusivere, enger begrenzte Personengruppen. Oft beruhten sie zudem auf einer bewussten Abwendung von gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Die für die demokratische Selbstoptimierung zentrale Anerkennung durch Andere spielte dabei häufig nur eine untergeordnete Rolle. Einige Denker vertraten jedoch Vortrefflichkeitskonzeptionen, die mit demokratischen Wertvorstellungen leichter zu vereinbaren waren. So verbanden u.a. die Sophisten die Selbstoptimierung durch rhetorisches Training mit einem Gemeinschaftsbezug. Dies wirft die Frage nach der wissenssoziologischen Konstitution Athens auf: Konnten philosophische Vortrefflichkeitsvorstellungen und die von den Philosophenschulen offerierte Bildung einen positiven Beitrag zur ‚bürgerlichen‘ Selbstoptimierung innerhalb der Demokratie leisten, oder standen sie der politischen Ordnung reserviert gegenüber?
Martin Dreher, Mageburg:
Synopsis
Abstracts (english version)
From an epistemic perspective, every society exists in tension between secure knowledge and personal opinion. Individuals and societies alike oscillate between these two poles. They take on many positions in an effort to gain knowledge for the purpose of orientation and future action.
Under the direct democracy of ancient Athens, the negotiation of knowledge was of primary importance. The radical division of competencies made the transmittance of knowledge a difficult matter. Nevertheless, this form of governance was quite efficient for two hundred years, which raises the question of how knowledge was organized. In recent years, international research (e.g. J. Ober, Democracy and Knowledge, Princeton 2008), also in adjacent disciplines (e.g. M. Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013), and advancements in processing information through digitalization have all inspired research in ancient history.
For the first time in the field of Classics, this panel aligns research on the deliberation and adjudication of knowledge to the physical realm. Where did the processes of negotiation between opinions and secured knowledge take place? In Athens, we can safely assume that the fundamental openness (physical as well as social) of space stimulated a free exchange of ideas and thoughts in an unprecedented way. In these discursive locations, discussions took place, which will be traced back in this panel. These discussions are what we ideally call political, jurisdictional, as well as intellectual. It goes without saying that these fields of social practice overlapped. For heuristic reasons, however, the breakdown into distinct fields proves useful as it allows for a more precise approach toward the negotiation procedures addressed in each context.
Hans Beck, Montréal:
In the Shadow of the Pnyx: Knowlegde and the Street in Democratic Athens
Athenian democracy distinguished itself through a high degree of knowledge. In the open-air culture of the democratic city-state, political expertise was a rich commodity. Participating in the political administration of their city, Athenian citizens not only enjoyed a formidable degree of education, but also a robust repertoire of political experience as such (“nomological knowlegdeˮ). Beyond this competence in domestic affairs, it has been argued that Greek citizens were generally well informed about the world far and beyond: the larger their networks of communication, the smaller the world of the Hellenes. One of the main characterisitics of this Small Greek World (Irad Malkin [2011]) was, by implication, that it allowed citizens to make informed decisions about their polis’ external affairs.
How much did the ordinary Athenian really know about political constellations elsewhere? Recent research on the dissemination of news alerts us of the rudiminetary structure behind the flow of news. City-states drew mostly on the institution of proxeny as well as the dispatch of ambassadors, both of which played a vital role in the negotiation of, for instance, peace treaties and interstate alliances. But the attested debates in the ekklesia where such arrangements were discussed indicate that the people were only poorly informed about the subject matter under revision. It is not by coincidence that contemporary observers had already raised their concerns about the people’s dependence on demagogues and on rumor; in the absence of well-grounded information, slander was even more prominent.
This ambivalent assessement of solid nomological experience on the one hand and relative un-informedness on the other invites a closer examination of the knowlegde that pervailed “in the streetˮ (Alex Gottesman, Politics and the Street in Democratic Athens [2014]). In the public sphere, knowledge-driven conversations were not confined to citizens, but the information flow included everyone (non-citizens, metics, women, slaves). At the same time, the formation of a public opinion occured in circles and milieus (clubs, phratries, gangs) that adhered to a decidely more distinct dynamic of shaping knowlegde than the one that prevailed in political institutions. The street was thus a realm in which the common political and social hierarchies were subject to a different trajectory, if not altogether suspended. As will be concluded in the final section of my paper, the complex and complementary nature of these informal realms of knowlegde exchange left a significant mark on the political grammar of Athenian democracy.
Christian Mann, Mannheim:
The Demagogues‘ Fame: Rumors as Aggregated Knowledge and Political Weapons
Political leaders (demagogoi) were an indispensable element of the Athenian democracy, the assembly could not work without them. But the representation of demagogues in the sources is characterized by negative stereotypes: Demagogues were suspected to consider only their own advantage, not the polis’, to use empty rhetoric instead of clear talk, to make popular but inappropriate suggestions and to use their position for personal enrichment. Because of the weak position of all magistrates, the sharp competition among them and the lack of party structures, the demagogues were always in peril of being ostracized or convicted in the law court.
During the assemblies citizens could see demagogues in action, so there was some kind of “certain knowledge” about them. But the most important question, that is if a demagogue took care of his own advantage or the polis’, could not be answered on that basis. In this situation rumors were very important, rumors that were disseminated in the houses and streets of Athens: Aeschines praises pheme circulating in the town for indicating the real character of each citizen (In Timarchum, 127-129). The contact zone between knowledge and rumors was diverse: Rumors were connected to the economic status of a demagogue, or to his political suggestions, but also to his habitus, for example his clothes and his hair, his voice and his way of moving.
In this context, two questions will be discussed: What were the ways demagogues could gain influence on the rumors concerning themselves and their rivals? And what is the connection between the public appearance of demagogues and the rumors circulating in Athens?
Claudia Tiersch, Berlin:
Democratic Self-Description in Athenian Oratory
While the Athenian democracy proved to be a viable political order, well able to tackle military and financial problems successfully, especially since 403 B.C., normative treatises by Plato or Aristotle demonstrate a critical stance.
However, recent scholarship posits that the criticism expressed in Athenian oratory should not be taken as a rejection of the democracy, but rather as appeal or encouragement to the citizenship to support and strengthen the existing order.
My paper focuses on the self-description of democracy in Athenian oratory. It highlights that Athenian oratory reflects a continuing public discourse, in which a wide range of thoughts and perceptions about the political aims of the Athenian democracy flourished and developed.
A nuanced reading of public speeches should enable us to better grasp what Athenians thought about their political order, beyond the hierarchical attitudes, which shaped normative political treatises.
Accordingly I am analysing the picture of democracy that the Athenian orators convey: How do the orators describe democracy? Which advantages and specific elements of the political order do the orators provide and how do these contribute to its functioning? How do they characterise the importance of institutions, the different roles played by specific citizens and their duties? Which values appear as leitmotivs in political speeches? Did concepts such as justice carry particular importance and if so, how does it appear in oratory? What level of knowledge formed the basis of rhetorical arguments? How do the orators categorise their current political reality? Which differing approaches do we encounter in specific orators? This paper seeks to pinpoint the degree of expertise about Athenian democracy appearing in contemporary oratory as a result of public discourse.
Dorothea Rohde, Bielefeld:
Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen
In classical times, a variety of offences could be subsumed under the term „treason“. Even though a conviction would entail death penalty, lawsuits for the main part were decided on the basis of beliefs. The courtroom as a discursive space for negotiating knowledge and meaning thereby comprised three different dimensions: Firstly, legal actions were to a large extent characterised by an absence of evidence. Facts were superseded by the attempt to demonstrate the own version’s plausibility by means of narration of events and probabilities. In this process, witness reports served not only to sort out facts but rather presented ritualised acts of support. Secondly, rhetorical strategies aimed at emphasising the own integrity by referring to achievements on behalf of the community and at the same time discrediting the opponent. To a considerable extent, the Athenian judges thus voted on the accused’s personality. Thirdly, in trials for treason legal norms situationally were deduced from the raison d’État. Identification of treason was based above all on the vague criterion of utility. Hence, the opponents above all struggled for interpretive predominance in political decisions.
Nevertheless, it would be inappropriate to discount this primacy of meaning over fact-based knowledge as a mere historical curiosity. At Athens, treason trials for treason not only served as arenas for contesting rivals. Rather, they also helped to establish criteria for desirable behaviour of politicians, instill the priority of common welfare over individual interests, correct decisions of the assembly, and strengthen the relationship between the citizens by defining external enmities. This way, the prosecution of treason in its different specifications functioned as an instrument for homogenising the political agents.
Katarina Nebelin, Rostock:
Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen
Nebelin discusses the mental-intellectual process of self-optimization. The idea that one must constantly work on oneself in order to cultivate and express personal excellence was already an ideal of the archaic Greek elite. Intellectual qualities, however, did not initially figure prominently. This changed with the rise of the sophists in the fifth century B.C. During this period, Athens produced a basic democratic and philosophical model of mental-intellectual self-optimization. This model, in turn, branched out into a multitude of different variants. All of them shared an elitist emphasis: self-optimization should be attained with individual effort. Differences revolved primarily around two axes: the reach of the concept and its relationship to contemporary social values. Thus, according to democratic ideology, every citizen received the opportunity to achieve his potential, to prove himself, and to win glory for his deeds – regardless of his social background or wealth. Philosophical concepts of self-optimization, in contrast, normally focused on more exclusive, more narrowly defined groups of people. They also were often based on the deliberate rejection of social values. Recognition by others, which was so central to the democratic concept of self-optimization, frequently played only a subordinate part. Some thinkers, however, proposed conceptions of excellence that were easier to reconcile with democratic values. The sophists, in particular, connected self-optimization to the values of the democratic community through rhetorical training. This raises questions about the intellectual-sociological constitution of Athens: could philosophical conceptions of self-optimization and the education offered by the philosophical schools make a positive contribution to “civil” self-optimization under a democracy, or did they remain critical of the political order?
Martin Dreher, Mageburg:
Synopsis
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Philip Hahn, Anne Mariss, Tübingen) Bridget
Überblick
(Philip Hahn, Anne Mariss, Tübingen)
Bridget Heal, St. Andrews:
Lernen ein Lutheraner zu sein – Bildliche Darstellungen und die Formierung eines konfessionellen Bewusstseins in deutschen Bibeln
Anne Mariss, Tübingen:
»Gott suchen in allen Dingen«. Jesuitische Frömmigkeitspraxis in der Frühen Neuzeit
Philip Hahn, Tübingen:
Alles eine Frage der Wahrnehmung? Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf »Glaubensfragen« in der Frühen Neuzeit
Ruth Slenczka, Berlin:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version)
Ausgehend von drei unterschiedlichen Themengebieten geht es in der zweistündigen Sektion um methodologische Zugriffsmöglichkeiten auf ›Glaubensfragen‹ in der Frühen Neuzeit. Über die Trias Medialität, Materialität und Sinnlichkeit geht das Panel der Frage nach, wie Glauben und religiöses Wissen produziert wurde und somit auch, auf welche Art und Weise Menschen in der Frühen Neuzeit geglaubt haben.
In Anlehnung an neuere Ansätze innerhalb einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Religionsgeschichte begreifen die Vorträge der Sektion Wissen und Religion nicht als Gegensätze. Vielmehr lassen sich mit Hilfe des Konzepts ›religiösen Wissen‹ historiographisch überkommene Dichotomien von Glauben und Wissen in der Vormoderne aufheben. Religiöses Wissen, das heißt solches Wissen, das aus der Auseinandersetzung mit der Offenbarung entstand, wurde von den historischen Akteuren immer wieder angeeignet und in andere Kontexte transferiert. Religiöses Wissen wird somit als Produkt komplexer Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteuren verstanden. Da es sich hierbei längst nicht nur um textbasierte Wissensbestände handelte, sondern auch um Wissen, das durch das Anschauen von Bildern, das sinnliche Wahrnehmen und buchstäbliche Begreifen von Dingen generiert und handlungsleitend gemacht wurden, ist es erforderlich, diese Prozesse aus unterschiedlichen methodischen Blickwinkeln zu betrachten.
Die drei Vorträge nehmen jeweils bewusst Aspekte in den Blick, die quer zu herkömmlichen religionsgeschichtlichen Narrativen gelagert sind. Heal analysiert Illustrationen lutherischer Bibelausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts, die in ihrer exegetischen Bedeutung nicht so recht in das Bild eines wortzentrierten Luthertums zu passen scheinen. Die Bedeutung bildlicher Darstellungen für die jesuitische Frömmigkeitspraxis ist hingegen ein fächerübergreifend etablierter Forschungsgegenstand – deren Einbettung in eine spezifisch jesuitische materielle Kultur, der sich Mariss zuwendet, ist bislang jedoch unterbelichtet geblieben. Den Befund jüngerer Forschungen, dass sich die spätmittelalterliche Frömmigkeit sowie die frühneuzeitlichen Konfessionskulturen hinsichtlich ihrer sinnlichen Profile nicht so leicht voneinander abgrenzen lassen wie traditionell angenommen, nimmt Hahn zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: Wie lässt sich die Bedeutung der Sinne in ›Glaubensfragen‹ in der Frühen Neuzeit aus einer sinnesgeschichtlichen Perspektive neu interpretieren?
Bridget Heal, St. Andrews:
Lernen ein Lutheraner zu sein: Bildliche Darstellungen und die Formierung eines konfessionellen Bewusstseins in deutschen Bibeln
Die volkssprachliche Bibel bildet den Kern der protestantischen Kultur und leistete dem Wandel des religiösen Lebens im 16. Jahrhundert Vorschub; ihre Texte sind vielfach studiert und gerühmt worden. Von Beginn an übernahmen aber nicht nur die Texte, sondern auch die Bilder eine wichtige Funktion, indem sie die Rezeption der Texte durch Gelehrte und Laien beeinflusste. Dies zeigt sich eindrucksvoll in den Illustrationen der Apokalypse in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments vom September und Dezember 1522/23 von Lucas Cranach d. Ä. Die Bilder waren oft mehr als nur bloße Illustrationen: sie fungierten als visuelle Exegese, die ähnlich wie Glossen die Interpretation biblischer Erzählungen mitbestimmten.
Vor diesem Hintergrund untersucht der Vortrag verschiedene Traditionen der lutherischen Bibelillustration im 16. und 17. Jahrhundert. Dabei werden nicht nur sogenannte Vollbibeln herangezogen, sondern auch günstigere und damit besser zugänglichere Formen der visuellen Pädagogik wie etwa Bilderbibeln und Kinderbibeln. Heal wird vor allem der Frage nachgehen, warum eine Konfession, die ihre Bedeutung von der Verbreitung von Gottes Wort ableitete (sola scriptura), Bildern eine so zentrale Rolle in der Vermittlung religiösen Wissens sowie der Herausbildung konfessioneller Identität beimaß.
Anne Mariss, Tübingen:
„Gott suchen in allen Dingen“. Jesuitische Frömmigkeitspraxis in der Frühen Neuzeit
In dem Vortrag von Anne Mariss geht es um die Frage, welche Bedeutung Dingen bei der Vermittlung von ‚Glaubensfragen‘ in der Frühen Neuzeit zukam. Materielle Kultur spielte eine zentrale Rolle in der Formierung und Vermittlung religiösen Wissens und war ein zentraler Bestandteil vormoderner Frömmigkeitspraktiken. Von der Forschung wird daher verstärkt auf die Bedeutung der Kategorie der religiösen Materialität verwiesen. Sinnlichkeit und Ästhetik, das Anschauen und Begreifen von Dingen spielten – entgegen älterer Forschungspositionen – sowohl im Katholizismus als auch im Protestantismus eine signifikante Rolle für die Formierung und Konturierung der eigenen konfessionellen Spiritualität.
Der Vortrag richtet den Blick darauf, welchen Objekten eine zentrale Bedeutung für jesuitische Frömmigkeitspraktiken zukam. Jesuitische Spiritualität basierte schon beim Ordensgründer Ignatius von Loyola in hohem Maße auf der Erfahrung und Auseinandersetzung mit der Welt. Es galt sprichwörtlich, Gott in allen Dingen zu suchen, zu entdecken und zu erfahren. Dies ist von der Forschung bisher vor allem für den Bereich der wissenschaftlichen Aktivitäten der Jesuiten in den außereuropäischen Missionen beachtet worden, nicht so jedoch die Bedeutung dieser Herangehensweise an die Welt der Dinge für die Frömmigkeit und Spiritualität der Jesuiten und ihre daraus resultierende materielle Kultur.
Philip Hahn, Tübingen:
Alles eine Frage der Wahrnehmung? Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf ‚Glaubensfragen‘ in der Frühen Neuzeit
Die jüngere Forschung zur „christlichen Materialität“ und zu den Sinnesregimes und -praktiken der frühneuzeitlichen Konfessionen haben gewohnte Zuordnungen infrage gestellt: Die spätmittelalterliche Frömmigkeit war längst nicht so ‚sinnlich‘ wie traditionell angenommen, das Luthertum nicht allein auf das ‚Hör-Reich‘ zentriert, und die reformierten Kirchen nicht grundsätzlich sinnesfeindlich. Sinnesgeschichtliche Arbeiten haben zudem gezeigt, dass die religiösen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts noch unter dem Einfluss antiker und mittelalterlicher Vorstellungen von der Funktionsweise der Sinne standen, die erst im Lauf des 17. Jahrhunderts allmählich von neuen Theorien verdrängt wurden.
Hahn plädiert in seinem Vortrag dafür, nicht bei diesen revisionistischen Dekonstruktionen der sinnlichen Aspekte der Epochengrenze Mittelalter/Neuzeit sowie des Konfessionalisierungsparadigmas stehenzubleiben, sondern das Potenzial des sinnesgeschichtlichen Ansatzes auszuschöpfen, um das Verhältnis von Wahrnehmung und Glaubensfragen in der Frühen Neuzeit zu interpretieren. Das bedeutet vor allem, die Eigenlogik sinnlicher Wahrnehmung ernst zu nehmen, statt diese wie bislang als ein Symptom religiöser Kultur zu betrachten. Am Beispiel einer frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft skizziert der Vortrag die Wechselwirkungen zwischen religiösen Sinneskulturen und anderen Einflussfaktoren auf die Geschichte der Sinne wie naturphilosophischer, medizinischer, hygienischer und ästhetischer Vorstellungen. Denn einerseits strahlte die Inanspruchnahme der Sinne als ‚Glaubensfrage‘ weit über die religiöse Sphäre hinaus, andererseits blieb die Generierung religiösen Wissens nicht davon unberührt, wie eine Gesellschaft die Frage beantwortete, inwiefern man den Sinnen Glauben schenken konnte.
Abstracts (English version)
This panel explores the potential of different methodological approaches to ‚matters of faith‘ by looking at the media of instruction, the material culture, and the senses that could be employed in the process of producing ‚religious knowledge‘. In this way, we hope to contribute to explaining how people in the early modern period believed.
The concept of ‚religious knowledge‘ transcends traditional – and anachronistic – notions of a dichotomy between faith and knowledge in the premodern period. People produced ‚religious knowledge‘, i.e. knowledge derived ultimately from revelation, by constant re-appropriation, negotiation and transferral to new contexts. It could not only be acquired from texts, but also by looking at images, by the touching of objects, and by means of sensory perception in general. This means that the production of ‚religious knowledge‘ has to be interpreted from various methodological angles.
All three papers focus on aspects that do not fit into traditional narratives of religious history. Bridget Heal will analyse the exegetical role of illustrations in Lutheran editions of the Bible, which seems to disagree with the alleged word-centredness of Lutheranism. The importance of images for Jesuit pious practice, by contrast, is well known, but is generally ignored that they were embedded in a specific Jesuit material culture, as Anne Mariss will argue. Philip Hahn’s paper departs from the observation that late medieval sensory culture exerted a strong influence on early modern confessional cultures, and will ask how the role of the senses in ‚matters of faith‘ can be reinterpreted by employing a sensory historical approach.
Bridget Heal, St. Andrews:
Learning to be Lutheran: Visual Images and the Creation of Confessional Consciousness in German Bibles
Bridget Heal will focus in her Vortrag on the role that Biblical images played in transmitting religious knowledge. The vernacular Bible lay at the heart of Protestant confessional culture. It was the engine that drove the transformations in religious life that occurred during the sixteenth century, and its texts have been much studied and celebrated. Yet from 1522/23 onwards, when Lucas Cranach the Elder illustrated the Apocalypse in Luther’s September and December New Testaments, images played an important role in shaping both the learned and the popular reception of those texts. The images were often much more than mere illustrations: they functioned as visual exegesis, determining, like glosses and other para-textual material, the interpretation of particular stories. Heal’s Vortrag will examine traditions of Lutheran Bible illustration during the sixteenth and seventeenth centuries, looking not only at Vollbibeln but also at cheaper and more accessible experiments in visual pedagogy such as Bilderbibeln and Kinderbibeln. It will ask why a confession that derived its significance from the promulgation of God’s word came to accord images such an important role in the transmission of religious knowledge and creation of confessional consciousness.
Anne Mariss, Tübingen:
„Finding God in All Things“: Jesuit Practices of Piety in the Early Modern Period
Anne Mariss focusses on the question of how things played a role in early modern matters of faith. Material culture was central to the development, the formation and mediation of religious beliefs and pious practices. Therefore, recent research has emphasized the importance of a specific religious materiality: sensuousness, aesthetics and haptics were – contrary to older assumptions – important factors in processes of confession-building and the formation of spirituality in Catholicism as well as in Protestantism.
In her talk, Mariss examines which sorts of objects played a crucial role in Jesuit practices of piety. Since Ignatius of Loyola, the founder of the fraternity, Jesuit piety was based on worldly experiences. To seek and find God in all things lay at the core of Jesuit spirituality and piety. So far, research has primarily paid attention to the scientific activities of the Jesuits in their missions in different parts of the world, but has neglected the meaning of things and material culture within this religious approach.
Philip Hahn, Tübingen:
Sensible Faith. Towards a Sensory History of ‚Matters of Faith‘ in the Early Modern Period
Recent research into the ‚Christian materiality‘ and the sensory regimes and practices of early modern confessional cultures has blurred established stereotypes: Late medieval piety was not as ‚sensual‘ as traditionally assumed, Lutheranism was not only focussed on hearing, and the Reformed churches were not principally anti-sensual. Sensory historical research has, moreover, revealed that the sixteenth-century religious upheavals were influenced by ancient and medieval notions of the functioning of the senses, which were gradually superseded by newer theories in the course of the seventeenth century.
Rather than just confining oneself to a revisionist deconstruction of the sensory side of the transition from medieval to early modern times, though, one could take advantage of the sensory historical approach’s potential to reinterpret the relationship between perception and ‚matters of faith‘ in the early modern period. Above all, this means to acknowledge the inner logic of sensory perception instead of interpreting it as a symptom of religious culture. By means of a case study of an early modern town in the Holy Roman Empire, the paper will demonstrate the interplay between religious sensory cultures and other factors that influence the history of the senses like natural philosophical, medical, hygienic, and aesthetic ideas. For on the one hand, regarding the senses as ‚matters of faith‘ had an impact beyond the religious sphere, but on the other hand, the production of religious knowledge was influenced by the extent to which a society regarded the senses as reliable.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal H
Hauptgebäude
Überblick
(Felix Brahm, London, Bettina Brockmeyer,
Überblick
(Felix Brahm, London, Bettina Brockmeyer, Bielefeld)
Felix Brahm, London:
Die Waffen der Missionare. Zur Bedeutung von Feuerwaffen und ihrem Transfer in der kulturellen Kontaktzone Ostafrikas (1850–1890er Jahre)
Rebekka Habermas, Göttingen:
Wie die Benin-Bronzeköpfe nach Berlin kamen. Kunst und Ethnographicahandel um 1900
Bettina Brockmeyer, Bielefeld:
Europäischer Aberglaube oder Kulturtransfer? Afrikanische menschliche Überreste aus der deutschen Kolonialzeit im Wandel der Bedeutungen
Kristin Weber, Leipzig:
Vom Glauben an die wissenschaftliche Objektivität. Museale Kultur und Praxis im kolonialen/postkolonialen Ostafrika
Holger Stoecker, Berlin:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version)
Felix Brahm, London:
Die Waffen der Missionare. Zur Bedeutung von Feuerwaffen und ihrem Transfer in der kulturellen Kontaktzone Ostafrikas (1850er-1890er Jahre)
Ab den 1850er Jahren stieg die Einfuhr von Feuerwaffen in Ostafrika stetig an und erreichte in den 1870er und 1880er Jahren mit bis zu 100.000 jährlich importierten Gewehren eine immense Größenordnung. Bei diesen Gewehren handelte es sich überwiegend um „Second-Hand“-Waffen aus europäischen, US-amerikanischen und südasiatischen Militärarsenalen. Nach einem Überblick über Handelsrouten und Gebrauchskontexte beleuchtet der Vortrag die verschiedenen Bedeutungen, die Feuerwaffen in Situationen interkulturellen Kontakts in Ostafrika gewannen. Am Beispiel der Beziehung zwischen dem Kabaka von Buganda und protestantischen Missionaren wird gezeigt, dass Feuerwaffen geschätzte, aber zunehmend umstrittene Transferobjekte zum Aufbau von Vertrauen waren, gerade weil sie den Interaktionspartner stärkten. Feuerwaffen waren zugleich Instrumente, mit denen der eigene Wille gewaltsam durchgesetzt werden konnte, und ihre Weitergabe hatte immer auch machtpolitische Bedeutung. In der Frühphase kolonialer Herrschaft in Ostafrika, auf die ausblickend eingegangen wird, wurden Feuerwaffen zu umkämpften Objekten zwischen afrikanischen und europäischen Akteuren.
Rebekka Habermas, Göttingen:
Wie die Benin Bronzeköpfe nach Berlin kamen – Kunst und Ethnographica um 1900
Ende des 19. Jahrhunderts gelangte ein von britischen Kolonialoffizieren erbeuteter westafrikanischer Bronzekopf über Matrosen und Kaufleute nach Europa und landete schließlich in den 1930er Jahren in der Göttinger Ethnologischen Sammlung. Dieser Kopf gehört zweifellos zu den herausragenden Artefakten Afrikas, und doch ist er mehr als ein Objekt höchster ästhetischer Perfektion. Dieser Kopf ist Träger verschiedener Formen impliziten Wissens: Wissen über frühe Benin Kulturen und ihre Techniken der Bronzeverarbeitung, Wissen darüber, wie globale Machtverhältnisse unsere Form des Erinnerns und Bewahrens etwa in Museum bis heute mitbestimmen. Vor allem ist er auch ein Objekt, an dem die Grenzen zweier um 1900 erst im Entstehen begriffener Disziplinen – Kunstgeschichte und Ethnologie – verhandelt wurden. Beide Wissenschaften nämlich reklamierten den Kopf für sich, als Objekt, an dem man wahlweise die Kunst oder die Lebenswelten Afrikas studieren könne. Hier nahm eine Debatte ihren Anfang, die bis heute noch nicht entschieden ist, und die viel über europäische Vorstellungen von Kunst aussagt. Gleichzeitig wirft dieser Streit um die Benin Köpfe gerade in den letzten Jahren immer heftiger debattierte Fragen darüber auf, wie in und außerhalb Europas mit diesen und ähnlichen Artefakten umgegangen werden soll.
Bettina Brockmeyer, Bielefeld:
Europäischer Aberglaube oder Kulturtransfer? Afrikanische menschliche Überreste aus der Kolonialzeit im Wandel der Bedeutungen
Der Schädel des Chiefs Mkwawa aus Uhehe in Tansania war für die ehemaligen Kriegsparteien nach dem ersten Weltkrieg von so großer Bedeutung, dass er Teil des Versailler Friedensvertrages wurde. Seine Geschichte, die 1898 mit der Selbsttötung des Chiefs und der anschließenden Dekapitierung durch die Deutschen beginnt, ist nach wie vor nicht vollständig geklärt: Die Gebeine eines Chiefs wurden bei den Wahehe besonders begraben und verehrt. Der Schädel des Mkwawa wurde jedoch von deutschen Soldaten erbeutet und vermutlich nach Berlin geschickt, wo er zu einem Wissenschaftsobjekt wurde. In Tanganyika Territory wurden dem Schädel von den Briten magische Kräfte zugeschrieben, und schließlich wurde er nach der Unabhängigkeit in Tansania ein Objekt antikolonialer Erinnerung. Ob es sich dabei stets um denselben Schädel handelt, ist ungewiss und war Teil politischer sowie wissenschaftlicher Debatten. Ähnliches gilt für einen Zahn desselben Chiefs, der über ein Jahrhundert in Deutschland in eben jener Familie verblieb, deren Vorfahren für die Selbsttötung Mkwawas mitverantwortlich waren. Im Glauben einiger Familienmitglieder hatte dieser Zahn die männliche Linie mit einem Fluch belegt.
Im Transfer, das verdeutlicht dieses Beispiel, konnten Objekte mehrfach ihre Bedeutungen wechseln. Der Vortrag geht dem Bedeutungswandel dieser menschlichen Überreste Mkwawas von wissenschaftlichen Objekten bzw. Trophäen zu Trägern magischer Kräfte nach. Die These ist, dass Objekte nicht nur zum Transfer von Wissen oder Glauben beitrugen, sondern selbst eine Transfergeschichte durchliefen. Ihre Geschichte zeigt, wie eng verzahnt Glauben und Wissen waren. Diese Verzahnung nahm auf europäischer Seite jedoch den Weg über ‚afrikanische’ Objekte und adaptierte vermeintlich als afrikanisch verstandene religiöse Glaubensweisen.
Kristin Weber, Leipzig:
Vom Glauben an die wissenschaftliche Objektivität – museale Kultur und Praxis im kolonialen (und postkolonialen) Ostafrika
Mit dem Eintritt des Deutschen Kaiserreichs in die Reihe der Kolonialmächte im Jahre 1884 strömten immer mehr Objekte aus den sogenannten „Deutschen Schutzgebieten“ in das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin. So wuchsen die Bestände der Abteilung Afrika, die im Jahre 1880 noch 3361 Katalognummern ausgemacht hatte, bis 1914 auf 55.079 Nummern an. Damit bildete das Berliner Museum das wichtigste Zentrum der Akkumulation ethnographischer Objekte im Deutschen Kaiserreich und sogar weltweit. Das damalige „Deutsch-Ostafrika“ (das heutige festländische Tansania, Ruanda und Burundi) war durch eine besonders umfangreiche Sammlung im Museum vertreten.
Ausgehend von der Sammelpolitik der Berliner Museumsethnologen wird in dem Vortrag anhand einzelner Objekte bzw. Objektkategorien das „Sammeln“ von „Ethnographica“ zur Zeit der deutschen kolonialen Expansion in Ostafrika und die Rolle dieser Objekte in der Ausgestaltung kolonialer Machtbeziehungen dargelegt. Anhand der Sammelpraxis kolonialer Beamter, Militärs, Wissenschaftler und Missionare in den Kolonien – diese reichte von Raub, Diebstahl, Erpressung, Ankauf bis hin zum Austausch von Geschenken – wird ein besonderes Augenmerk auf die Brüchigkeit der deutschen Kolonialherrschaft gerichtet. Zugleich geht es darum, den Glauben der Wissenschaftler in der Metropole an eine objektive Wissensproduktion im Kontext einer objekt-zentrierten und naturwissenschaftlich ausgerichteten Ethnologie zu dekonstruieren.
Mit einem Blick auf die Übernahme „Deutsch-Ostafrikas“ durch die Briten als Mandatsgebiet des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg, die aufkommenden nationalen Bewegungen in Tanganyika sowie die Unabhängigkeit des kolonialen Territoriums in den frühen 1960ern wird auf Kontinuitäten und Brüche in der musealen Kultur und Praxis Ostafrikas verwiesen.
Abstracts (english version)
Felix Brahm, London:
The Missionaries’ Weapons: On the Meaning of Firearms and their Transfer in the Cultural Contact Zone of East Africa (1850s to 1890s)
From the 1850s onwards, firearms entered East Africa in increasing numbers, reaching immense volumes of up to 100.000 imported guns annually in the 1870s and 1880s. These guns were mainly ‘second-hand’ weapons, discarded from European, US-American and South Asian military arsenals. After giving an overview on trading routes and different contexts in which these firearms were used, the paper looks at the ambiguous meanings firearms gained in situations of intercultural contact in East Africa. Studying the case of the relation between the Kabaka of Buganda and protestant missionaries, the paper argues that firearms were appreciated, but increasingly contested objects to build trust, not least because they empowered the opposite partner. Simultaneously, firearms were instruments to violently assert a unilateral will, and their transfer always gained political importance. In the phase of early colonial rule in East Africa, the paper finally discusses, firearms became highly contested objects between African and European actors.
Rebekka Habermas, Göttingen:
How the Benin Bronzes Came to Berlin – Art and Ethnographica around 1900
At the end of 19th century British colonial officers looted the so-called Benin Bronzes and brought them from West Africa to London, where they immediately raised public interest. They were presented at auctions and even were exposed in colonial festivals and private as well as public collections. In the 1930s one of this Bronzes, a bronze memorial head, found its way to Goettingen. This head is one of the most beautiful African objects to be seen until today in European Ethnological Museums. At the same time it is much more than an aesthetic object, it can as well be understood as an important source of knowledge: Carrying knowledge about early Benin culture and its techniques of Bronze craftsmanship as well as knowledge about the impact global power formations until today have in structuring forms of remembering and representing in for instance museums. But first of all it is an object at the frontier of two academic disciplines taking shape around 1900: history of art and anthropology. The epistemology has been made and remade by negotiating this and other objects brought to Europe by more or less brutal forms of looting. Both academic disciplines claimed to have expertise and therewith authority in studying the Bronzes. While art historians regarded the memorial heads as basis for understanding so called primitive art, anthropologists were pretending to need these and similar objects in order to study African everyday life. This debate is still going on and at the same time is revealing in regard to European concepts of art and of everyday life. It also is a debate very recently echoing in controversial discussions of museum studies as well as in the everyday life of museums.
Bettina Brockmeyer, Bielefeld:
European Superstition or Cultural Transfer? Changing Meanings of African Human Remains from Colonial Times
The skull of Chief Mkwawa’s from Uhehe in Tanzania was of such importance for the former warring parties after World War I, that it was made a part of the Versailles Peace Treaty. We still do not know the complete story of the skull, which begins in 1898 with the suicide of the chief and his decapitation. The Wahehe people used to bury and to worship their chiefs’ remains in a special way. Instead, Mkwawa’s skull was taken by the Germans and sent to Berlin in order to become an object of science. In Tanganyika Territory, the British perceived the skull to have magical powers and finally, after independence, the skull became an object of anticolonial memory. This is, in short, the story of the skull, but whether it had been one and the same skull always is uncertain and forms part of political and historical debates. This also applies to a tooth of the same Chief that was kept by the descendants of the German officer, who was involved in the Chief’s suicide, and was considered to have cursed the family.
While being transferred the examples show, objects could change their meanings several times. The paper follows these changes in the case of Mkwawa’s human remains from trophies to scientific objects or objects of magical belief. It thereby argues that objects not only started a transfer process of knowledge or faith but could also change their meanings within the process. Their history reveals the intertwining of faith and knowledge – in Western ways of knowledge this conjunction went via ‘African’ objects.
Kristin Weber, Leipzig:
On the Believe in Scientific Objectivity – Museum Culture and Practice in Colonial (and Postcolonial) East Africa
By the time Germany entered the circle of colonial powers in 1884 more and more objects from the new colonies (so-called Deutsche Schutzgebiete) arrived at the Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin. The number of objects in the African collection grew steadily. While in 1880, 3361 objects had been listed, one would find 55.079 in 1914. The Berlin Museum became the most important centre of accumulation of so-called ethnographic objects in the German Kaiserreich and even worldwide The former Deutsch-Ostafrika which included today’s mainland Tanzania, Ruanda and Burundi was well represented by an extensive collection of objects in the Museum.
Starting from the collecting policy of the Berlin Museum this talk explores the methods of “collecting” Ethnographica during the German colonial expansion in Eastern Africa, using particular objects or groups of objects as an example. It also highlights the important role objects played in shaping colonial relations of power. The ways through which colonial officials came into possession of objects desired by the Museum ethnologists ranged from plundering, thievery, blackmailing to purchasing and the exchange of gifts. They also shine a light on the fragility of German colonial rule. This talk will also aim to deconstruct the Museum scientists’ believe in an objective production of knowledge in the context of an object-centered and science-oriented Ethnology.
With reference to the takeover of German East Africa by the British, following the mandate of the League of Nations after World War I, and later the emergent national movements in Tanganyika and the Independence of the territory in the early 1960s this presentation will also briefly look at continuities and disruptions in museum culture and practice in Eastern Africa.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg, Matthias Pohlig,
Überblick
(Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg, Matthias Pohlig, Münster)
Thomas Kaufmann, Göttingen:
»Konfessionskultur« in der Perspektive der Kirchengeschichte
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg:
»Konfessionskultur« in der Perspektive der Kulturgeschichte
Matthias Pohlig, Münster:
Was ist lutherische Konfessionskultur?
Günther Wassilowsky, Innsbruck:
Was ist katholische Konfessionskultur?
Christophe Duhamelle, Paris:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Während die Konfessionalisierungsdebatte der 1980er und 1990er Jahre v.a. die sozialen und politischen Effekte der konfessionellen Formierung des 16. und 17. Jahrhunderts im Blick hatte und auf strukturgeschichtliche Parallelen zwischen den drei großen Konfessionen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus abhob, konzentriert sich die jüngere Forschung stärker auf Bruchstellen der Konfessionalisierung und auf deren kulturelle Dimension und Konsequenzen. In diesem Zusammenhang hat Thomas Kaufmann in den 1990er Jahren am Beispiel des Luthertums den Begriff der „Konfessionskultur(en)“ lanciert. Verstanden als „Formungsprozeß einer bestimmten, bekenntnisgebundenen Auslegungsgestalt des christlichen Glaubens in die vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen und Kontexte hinein“, interessiert sich das Konzept der Konfessionskultur wieder stärker für die spezifischen, nicht nur religiösen, sondern auch sozialen und kulturellen ‚Propria’ der einzelnen Konfessionen, ihre Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung.
Im Zeichen der kulturalistischen Wende hat der Begriff der Konfessionskultur das Konfessionalisierungsparadigma nahezu abgelöst. Allerdings – und dies ist der Ausgangspunkt der Sektion – ist das Konzept definitorisch und konzeptionell unterbestimmt. So ist etwa zu fragen, wie das Konzept mit dem Spannungsverhältnis von Binnenpluralität und Identität (‚Propria‘) umgeht, wie Prozesse längerer Dauer unter dem Label der Kultur erfasst werden können und in welchem Verhältnis der Begriff zu anderen „pluralisierenden“ Konzepten der Religionsgeschichte (z.B. religiöse Ambiguität) steht.
Es scheint also an der Zeit, das theoretische Potential wie den empirischen Nutzen dieses Konzepts näher zu bestimmen. Ob, inwieweit und in welcher konzeptionellen Zuspitzung „Konfessionskultur“ geeignet ist, die Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit neu und anders zu beschreiben, möchte die Sektion im Gespräch zwischen Historikern und Kirchenhistorikern unterschiedlicher Konfessionen diskutieren.
Thomas Kaufmann, Göttingen:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kirchengeschichte
Das Konzept der Konfessionskultur ist als Kontrast- und Komplementärbegriff zum Konfessionalisierungsparadigma entwickelt worden. Während die Konfessionalisierungsforschung primär Gemeinsamkeiten der frühneuzeitlichen Konfessionen beschrieb, interessiert sich die konfessionskulturelle Perspektive stärker für die spezifischen, nicht nur religiösen, sondern auch sozialen und kulturellen ‚Propria’ der einzelnen Konfessionen, ihre Selbstwahrnehmungen und Selbstdeutungen. Die mit dem Konzept der Konfessionskultur indizierte Zuwendung zu den konfessionellen Propria ging mit einer Kritik an der Funktionalisierung von Religion im Konfessionalisierungsparadigma einher und stellte auf die Vermittlung zwischen einer bekenntnisgebundenen Auslegung des christlichen Glaubens einerseits, einer Vielzahl lebensweltlicher Kontexte andererseits ab. Theologische wie auch religiöse Pluralität ist im Begriff der Konfessionskultur angelegt; das konzeptionelle Problem besteht eher darin, in der Pluralität noch eine Einheitlichkeit auszumachen. Für die lutherische Konfessionskultur, für die der Begriff anfangs entwickelt worden ist, ist die hohe Bedeutung der universitären Theologie und die theologische Kontroverse als Moment der konfessionellen Identitätsbestimmung charakteristisch. Der Vortrag soll das Konzept der Konfessionskultur vorstellen und die wichtigsten konzeptionellen Probleme benennen und diskutieren. Schließlich soll danach gefragt werden, ob und wie der Begriff auch für andere konfessionelle Formationen als das Luthertum produktiv gemacht werden kann.
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kulturgeschichte
Wie müsste ein Konzept beschaffen sein, das die frühneuzeitliche Religionsgeschichte dezidiert kulturgeschichtlich begreift, ohne dabei hinter den Impulsen und Erkenntnissen der Konfessionalisierungsdebatte zurückzubleiben? Einerseits müsste es die Vorzüge des „klassischen“ Konfessionalisierungsparadigmas übernehmen: die konfessionsvergleichende Perspektive, die Offenheit für strukturelle Gemeinsamkeiten gerade mit Blick auf Mittel, Medien und Instanzen, das Interesse an Wandlungsprozessen auch langer Dauer und nicht zuletzt die Integration von Politik-, Sozial- und Kirchengeschichte zu einer religiös informierten Gesellschaftsgeschichte.
Andererseits hätte das gesuchte Konzept aber auch die „kulturalistische“ Kritik ernst- und daher weitere Aspekte aufzunehmen: den akteurszentrierten Blick auf die Menschen und ihre Praktiken, die Symbolisierungsleistungen und Internalisierungseffekte der praxis pietatis, die Bedeutung von Raum und Klang, von Routinen und Ritualen, von Körper und Performanz.
Da diese perspektivischen Erweiterungen neben die Makroprozesse und Strukturen das Denken, Deuten und Verhalten der Menschen und die Vielfalt konfessioneller Formationen gerückt haben, liegt es nahe, von Konfessionskulturen zu sprechen: Der Begriff der Kultur vermittelt zwischen Makro- und Mikroebene, bietet Raum sowohl für Parallelen wie für Unterschiede und ist geeignet, die vielfältigen Felder des sozialen Lebens konzeptionell zu integrieren. Der Begriff der Konfession hingegen scheint den Kern dessen zu benennen, was eine Kultur zu einer distinkten, von anderen abgrenzbaren Konfessionskultur macht. Hier aber beginnen die Probleme. So ist nach wie vor offen, wie wir die ‚Propria‘ der Konfessionen und ihrer Kultur(en) bestimmen wollen, ohne die die Rede von Vielfalt, Ambiguität und Abweichung ins Leere liefe. Überdies bleibt zu klären, wie wir teleologische Meistererzählungen vermeiden, gleichwohl aber Wandel beschreiben können. Und schließlich ist zu überdenken, wie die Dynamiken von Macht und Herrschaft ohne etatistische Verengung integriert werden können.
What would a historiographic concept that understands early modern religious history from a cultural history perspective have to look like if it is not to stay behind the impulses and findings of the confessionalization paradigm?
On the one hand, it would have to adopt the benefits of the “classic” confessionalization paradigm: the cross-confessional comparative perspective; the openness for structural similarities with special regard towards means, media, and instances of confessionalization; the interest for processes of change, even of long duration; and last but not least the integration of political, social, and ecclesiastical history to a religiously informed history of society.
On the other hand, the concept we are looking for should take “culturalistic” criticism seriously and therefore include further aspects: the actor-centered focus on humans and their practices; the praxis pietatis with its symbolizations and effects of internalization, the significance of space and sound, of routines and rituals, of body and performance.
As these increments in perspective put humans’ thoughts, interpretations and actions as well as the plurality of confessional formations next to macro processes and structures, it is self-evident to speak of confessional cultures: the notion of culture mediates between the macro level and the micro level; it leaves space for parallels and differences alike; finally, it is suitable for conceptual integration of the various fields of social life. The notion of confession seems to denote the core of what renders a culture a distinct, identifiable confessional culture. This is where problems begin to occur, however. It is still unsettled, for instance, how historians could identify the ‘propria’ of the individual confessions and their cultures. Without identifying idiosyncrasies, however, all the talk about diversity, ambiguity, and deviation would be void and pointless. What is more, it needs to be clarified how we as historians avoid constructing teleological master narratives, while remaining able to describe processes of change nevertheless. And finally, one has to reconsider how dynamics of power and authority can be integrated without ‘etatistic’ or statist reduction.
Matthias Pohlig, Münster:
Was ist lutherische Konfessionskultur?
Das Luthertum bietet sich in besonderem Maße an, um über konzeptionelle und empirische Probleme des Begriffs der Konfessionskultur nachzudenken – weil der Begriff von Thomas Kaufmann (allerdings relativ stark auf theologische Sachverhalte bezogen) zuerst für die lutherische Konfession geprägt wurde, aber auch, weil über das Luthertum besonders viele konfessionskulturelle Klischees kursieren, die weder ganz falsch noch komplett richtig sind (die Prägekraft des lutherischen Pfarrhauses, die unpolitische Obrigkeitshörigkeit, die lutherische „Unmodernität“ und die steckengebliebene Reformation, die „verknöcherte“ Orthodoxie, die lutherische Wortfixierung). In der Untersuchung einzelner ausgewählter Phänomene der lutherischen Konfessionskultur kann einerseits im Anschluss an die jüngere Forschung ein differenzierteres Bild gezeichnet werden. Andererseits kann so plausibel gemacht werden, dass der Begriff der Konfessionskultur in gewisser Weise als Nachfolger der klassischen religionssoziologischen Diskussion über religiöse „Prägungen“ und religiöse Motivationen von „Lebensführung“ fungieren kann. Ging es der älteren Religionssoziologie um die Erklärung einzelner Probleme der ‚Lebensführung‘ aus Religion heraus, fragt die Konfessionskulturforschung nach der Diffusion obrigkeitlicher Vorgaben in soziale und kulturelle Kontexte. Beide Forschungsrichtungen gehen aber von konfessionsspezifischen Handlungs- und Denkräumen aus, die auf ein dogmatisches Zentrum bezogen bleiben, in ihm allerdings schon deshalb nicht aufgehen, weil neben intendierten auch nicht-intendierte kulturprägende Wirkungen stehen können. Eine entscheidende konzeptionelle Frage ist daher: Welche Phänomene kann ein Begriff wie (lutherische) Konfessionskultur eigentlich noch ausschließen?
Günther Wassilowsky, Innsbruck:
Was ist katholische Konfessionskultur?
Auch wenn konfessionelle Identität in wechselnden Konstellationen stets aufs Neue präsent gemacht werden muss, macht es nur Sinn, von Konfessionalität zu sprechen, wenn in einer Vielzahl von menschlichen Lebensäußerungen auch eine Reihe von spezifischen und Identität konstituierenden Eigenheiten zu identifizieren sind. Ohne unterscheidende Propria ist der Konfessionsbegriff leer und sinnlos. Mögen die regional-lebensweltlichen und theologisch-spirituellen Diversitäten innerhalb einer Konfession noch so stark sein, so muss es doch ein Set von gewissen übergreifenden Charakteristika geben, die eine religiöse Gruppierung überhaupt erst als Konfession erkennbar machen.
Um dieses Distinkte des Konfessionellen einerseits und die Vielfalt, das Kontextuelle und Ephemere der konfessionellen Lebensformen andererseits gleichermaßen berücksichtigen zu können, spricht einiges dafür, den engen Begriff der Konfession und den weiten Begriff der Kultur in einem einzigen Begriff „Konfessionskultur“ zu verbinden. Das Konzept „Konfessionskultur“ könnte das Konfessionalisierungsparadigma ablösen, ohne dass damit die grundlegenden und bleibend gültigen Einsichten der Konfessionalisierungsforschung (wie etwa die strukturanalog in allen Konfessionen von kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten angewandten Sozialtechniken zur Normierung und Homogenisierung der Religion) keine Berücksichtigung mehr fänden. Innerhalb des Konzeptes „Konfessionskultur“ erschiene dann aber das Konzil von Trient nicht mehr alleine als ein Faktor im Prozess der Sozialdisziplinierung. Vielmehr könnte in einer solch konfessionskulturellen Perspektive wahrgenommen werden, wie variabel das Tridentinum in den unterschiedlichen Regionen und Handlungsebenen angeeignet, umgedeutet, implementiert worden ist und wie sehr insbesondere der „Mythos Trient“ einen orientierenden und stabilisierenden Referenzpunkt zur Formierung der distinkten Praktiken des Denkens, Deutens und Verhaltens frühneuzeitlicher Katholiken bildete.
Der Vortrag wird solche identitätskonstruierende, übergreifende Charakteristika im frühneuzeitlichen Katholizismus erheben und der Frage nach der Rolle des Tridentinums und seiner Mythologisierung für die Formierung katholischer Konfessionskultur nachgehen.
Abstracts (English version)
In the 1980s and 1990s, the academic discussion of the confessionalization paradigm focused mainly on the social and political effects of 16th and 17th century confessional formation and the identification of structural parallels between the three great confessions Catholicism, Lutheranism and Calvinism. Recent studies in the field, however, keenly investigate the various points of rupture in the process of confessionalization and its cultural dimensions and ramifications. Using the example of Lutheranism, it was Thomas Kaufmann who, in the 1990s, first spoke of “confessional culture(s)” in this context. Seen as “a formation-process of a specific, confession-based exegesis of the Christian faith which informed numerous aspects and contexts in social life”, this concept is again more interested in the specific – not only religious, but also social and cultural – idiosyncrasies (‘Propria’) of the individual confessions, as well as their self-perception and self-interpretation.
In the wake of the cultural turn, the concept of confessional cultures has virtually replaced the confessionalization paradigm. The concept, however, – and this is the starting point of this section – lacks a clear definition and is conceptually under-determined.
What needs to be discussed is, for instance, how the concept deals with the strong contrast between internal plurality and identity (the aforementioned ‘Propria’), how processes of longer duration can be gathered under the label of culture, and how the concept relates to other “pluralizing” concepts of religious historiography (e.g. religious ambiguity).
Time has come, it seems, to further determine the concept’s theoretical potential as well as its empirical benefit. In a dialogue between historians and church historians of diverse confessions, this section will discuss whether, to what extent, and in which form “confessional culture” is practical to describe religious history of the early modern era in a new and different way.
Thomas Kaufmann, Göttingen:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kirchengeschichte
The concept of confessional culture has originally been developed as a contrastive and complementary term for the confessionalization paradigm. Whereas confessionalization research primarily focussed on parallel developments within early modern confessional groups, the perspective of confessional culture concentrates on the religious, but also social and cultural specifics of Lutheranism, Calvinism and Catholicism. It also focusses on confessional self-descriptions and self-interpretations. Moreover, this research agenda implied a critique of confessionalization’s functionalist view of religion. The confessional culture perspective takes an interest in the mediation between a theological programme and the numerous every day contexts which this theological programme aimed to affect and to change. Theological and religious plurality within one confessional group is central to this perspective; conceptually, the hardest problem these days seems to find a rest of unity within religious plurality. The term confessional culture was originally coined for Lutheranism. Academic theology and religious controversy lie at the heart of Lutheran confessional culture. The paper aims at presenting the concept of confessional culture and discusses the conceptual problems of the term. The most interesting question is if and how the concept of confessional culture can also be used as a productive research perspective for the other confessional groups.
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kulturgeschichte
What would a historiographic concept that understands early modern religious history from a cultural history perspective have to look like if it is not to stay behind the impulses and findings of the confessionalization paradigm?
On the one hand, it would have to adopt the benefits of the “classic” confessionalization paradigm: the cross-confessional comparative perspective; the openness for structural similarities with special regard towards means, media, and instances of confessionalization; the interest for processes of change, even of long duration; and last but not least the integration of political, social, and ecclesiastical history to a religiously informed history of society.
On the other hand, the concept we are looking for should take “culturalistic” criticism seriously and therefore include further aspects: the actor-centered focus on humans and their practices; the praxis pietatis with its symbolizations and effects of internalization, the significance of space and sound, of routines and rituals, of body and performance.
As these increments in perspective put humans’ thoughts, interpretations and actions as well as the plurality of confessional formations next to macro processes and structures, it is self-evident to speak of confessional cultures: the notion of culture mediates between the macro level and the micro level; it leaves space for parallels and differences alike; finally, it is suitable for conceptual integration of the various fields of social life. The notion of confession seems to denote the core of what renders a culture a distinct, identifiable confessional culture. This is where problems begin to occur, however. It is still unsettled, for instance, how historians could identify the ‘propria’ of the individual confessions and their cultures. Without identifying idiosyncrasies, however, all the talk about diversity, ambiguity, and deviation would be void and pointless. What is more, it needs to be clarified how we as historians avoid constructing teleological master narratives, while remaining able to describe processes of change nevertheless. And finally, one has to reconsider how dynamics of power and authority can be integrated without ‘etatistic’ or statist reduction.
Matthias Pohlig, Münster:
Was ist lutherische Konfessionskultur?
Lutheranism seems to be an ideal test case to reflect the conceptual and empirical problems of „confessional culture“ – because the term was coined by Thomas Kaufmann for Lutheranism in the first place (albeit with relatively close ties to theological discourse), but also because of a number of cultural stereotypes about Lutheranism which are neither completely wrong nor absolutely right (the importance of the parsonage, Lutheranism’s unpolitical authoritarianism, its antimodernity, the ‚interrupted‘ Reformation, a ‚sclerotic‘ orthodoxy and an obsession with ‚the word‘). By examining certain select phenomena within Lutheran confessional culture, it can be shown on the one hand that Lutheran confessional culture is more complicated and more sophisticated than these stereotypes suggest. On the other hand, it might be argued that the concept of „confessional culture“ can legitimately be seen as succeeding the classical debates within the sociology of religion about religious imprints and religious motivations for a specific life conduct. Whereas the older sociology of religion tried to explain certain social and cultural phenomena with respect to religion, the concept of confessional culture is operating the other way round: It is analyzing the diffusion of elite theological demands into specific social and cultural settings. But both strands of historical research reflect about confession-specific systems of thought and action that are tied to a dogmatic center but cannot be reduced to the dogmatic side of confession/religion. One problem, however, is that the term confessional culture tries to integrate intentional as well as non-intentional effects. It is a decisive conceptual question, therefore, if the concept of (Lutheran) confessional culture is able to exclude any phenomena at all.
Günther Wassilowsky, Innsbruck:
Was ist katholische Konfessionskultur?
Yet even if one’s confessional identity must always be concretised in newly changing constellations, it only makes sense to speak of confessionality if, within a plurality of human life manifestations, a series of specific identity constituting qualities may also be identified. Without distinct fundamental characteristics, the concept of confession is empty and senseless. As stark as diversities within a confession may be – in terms of regional ways of life (Lebenswelt) and theological-spiritual dimensions – there must still be a set of certain and more comprehensive characteristics that make a religious group recognizable as such as a confession.
In order to be able to account equally for this distinct feature as regards the confessional dimension on the one hand, and the great variety, the contextual, and the ephemeral of confessional ways of life on the other, quite a number of things might be said in favour of consolidating the narrow term confession with the broad concept of culture into one single concept: “confessional culture.” The concept of “confessional culture” might supplant the paradigm of confessionalisation without entailing having to omit from consideration the fundamental and continuously valid insights of confessionalisation research (such as the techniques of social control that aim at standardizing and homogenizing the religion, used in all confessions by ecclesiastical and secular authorities in a structurally analogous way). Within the concept of “confessional culture,” the Council of Trent would no longer appear merely as a factor in the process of social disciplining. Rather, in such a confessional cultural perspective one could discern how variably the Tridentinum was appropriated, reframed and implemented in different regions and according to diverse levels of action, and how much particularly the “myth of Trent” represented an orientating and stabilising reference point for the formation of the distinctive practices of the thinking, interpreting and behaving of early modern Catholics.
The lecture will identify a series of specific identity constituting qualities in the early modern Catholicism. It further examines the role of Trent and his mythologization for the formation of the catholic confessional culture.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal J
Hauptgebäude
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam) Frank Bösch, Potsdam: Motor
Überblick
(Frank Bösch, Potsdam)
Frank Bösch, Potsdam:
Motor von Reformen? Digitale Daten und sozioökonomischer Wandel
Larry Frohman, New York:
Population Registration and the Discourse on Privacy Protection in West Germany
Rüdiger Bergien, Potsdam:
Computerisierung als Organisationswandel. Polizei und Nachrichtendienste in der DDR und BRD, 1960-1989
Julia Erdogan, Potsdam:
Gegenkontrolle: Bundesdeutsche Hacker in internationaler Perspektive
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
HWF-121
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
(Michael Mann, Berlin) Alexander Benatar, Berlin: Der
Überblick
(Michael Mann, Berlin)
Alexander Benatar, Berlin:
Der indische Subkontinent als Spielfeld des kalten Krieges: Deutsch-deutsche Beziehungen in Indien und Pakistan
Stefan Tetzlaff, Paris:
Tata-Bhains’ as Forerunner of Indo-German Business Ties: Industrial Policy, Technical Cooperation and Business Interests in the Making of the Truck-Manufacturing Joint Venture TELCO/Mercedes-Benz, 1954–1969
Anandita Bajpai, Berlin:
Materialising Visibility, Preparing Recognition: The »Cultural« Politics of GDR-India Relations 1952–1972
Gautam Chakrabarti, Berlin:
Cold War/Partition: West-East Dichotomies in Germanophone Bengali Popular Fiction.
Razak Khan, Göttingen:
Rethinking National Culture and Minority Identity in Times of Partition and Wall
Abstracts (scroll down for English version)
Alexander Benatar, Berlin:
Herbert Fischer – eine deutsch-indische Verflechtungsbiografie
Ein Vortrag behandelt den Diplomaten und ersten DDR-Botschafter in Indien, Herbert Fischer. Im Rahmen meines Dissertationsprojekts „Der indische Subkontinent als Spielfeld des Kalten Krieges – deutsch-deutsche Beziehungen in Indien und Pakistan“, stellt Herbert Fischer einen Prototypen der Verflechtungsgeschichte des geteilten Deutschlands mit Indien dar. Anfang der 1930er Jahre aus Deutschland emigriert, gelangte Fischer auf abenteuerlichen Wegen über Spanien nach Indien und schloss sich dort Mohandas Karamchand Gandhis Unabhängigkeitsbewegung des zivilen Ungehorsams gegen die britische Kolonialherrschaft an. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er in britischen Internierungslagern, um Ende der 1940er Jahre nach einem Jahrzehnt in Indien nach Deutschland, in die damalige sowjetische Besatzungszone zurückzukehren.
Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer, wurde Herbert Fischer für das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR tätig. Bald fand er Verwendung in Indien. Zunächst als stellvertretender Leiter und später als Leiter des Generalkonsulats der DDR in Neu Delhi, konnte er an seine früheren Indien-Kontakte anknüpfen und verschrieb sich bis zu ihrem Erfolg in erster Linie der Durchbrechung der westdeutschen Hallstein-Doktrin – der Anerkennung der DDR entgegen dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik. 1972 erreichte die DDR ihr Ziel und Herbert Fischer wurde zum ihrem ersten Botschafter in Indien; ein Posten, den er bis zu seiner Abberufung im Jahre 1976 innehatte. Die folgenden vier Jahrzehnte bis zu seinem Tod 2006 hielt er als Wissenschaftler und Indien-Experte von Deutschland aus stetigen Kontakt zum indischen Subkontinent. Sein Sohn Karl Fischer trat in seine diplomatischen Fußstapfen und wurde letzter Botschafter der DDR in Pakistan.
So begrenzt durch westdeutsche Einflussnahme der Aktionsradius der DDR auf dem indischen Subkontinent auch war, illustriert die Biografie Herbert Fischers doch wie kaum eine zweite die Möglichkeiten individueller Akteure, diese Einschränkungen durch Einsatz und persönliche Kontakte zu durchbrechen.
Stefan Tetzlaff, Paris:
‘Tata-Bhains’ als Vorreiter Deutsch-Indischer Gesellschaftsbeziehungen: Industriepolitik, Technik-Kooperation und Unternehmensinteressen in der Entwicklung des LKW-Joint Ventures von TELCO/Daimler-Benz, ca. 1954-1969.
Mitte der 1950er Jahre priesen zeitgenössische Medienpublikationen die Kooperation der Telco Engineering and Locomotive Company (TELCO) und Daimler-Benz zur gemeinschaftlichenLKW-Produktion alseine der ersten underfolgreichstenKooperationen der Privatwirtschaft zwischen Indien und Deutschland. Die direkte Teilnahme von Daimler-Benz an der Kooperation endete 1969 aufgrund der Politik des indischen Staates zugunsten einer größeren einheimischen Produktion von Automobilen und Komponenten. Deutsche Geschäftsinteressen sowie technische Expertise waren nichtsdestotrotz wichtig in der Etablierung des Unternehmens-Joint Ventures, auf dessen Grundlage TELCO zu einem der kommerziell erfolgreichsten Privatunternehmen der Zeit avancierte.
Der Konferenzbeitrag beleuchtet den größeren Zusammenhang sowie verschiedene Implikationen der Unternehmenskooperation. Der Beitrag ist unterteilt in zwei Hauptteile. Der erste Teil behandelt die politischen und wirtschaftlichen Interessen der teilnehmenden Unternehmen sowie der Regierungen Indiens und Westdeutschlands im Zeitablauf. Er analysiert, ob und wenn ja wie die besondere Konstellation in der Frühphase des Kalten Krieges politische und wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten definierte. Der zweite Teil des Beitrags behandelt die spezifische Entwicklung der Kooperation am Produktionsstandort Jamshedpur (Bihar) in den 1950er und 1960er Jahren. Der Hauptfokus liegt hierbei auf der Frage, ob und wenn ja in welchem Umfang Daimler-Benz technische Expertise für den Produktionsbeginn leistete und welche Auswirkungen dies auf den indischen Kooperationspartner sowie auf die Entwicklung der indischen Automobilindustrie generell hatte. Der Beitrag schließt mit einer Analyse des spezifischen politischen Kontexts des Endes der Kooperation im Jahre 1969 und seinen Auswirkungen auf beide Unternehmen in Deutschland und Indien.
Anandita Bajpai, Berlin:
Sichtbar werden. Um Anerkennung werben: Die „Kulturpolitik“ der DDR – Indien Beziehungen, 1952-1972.
Ich habe immer schon gesagt: „Kultur fängt mit Agrikultur an und hört mit Esskultur auf. Alles was dazwischen liegt ist Politik.“ (Interview mit einem vormaligen universitären DDR-Diplomaten.)
Erst 1972 wurde die DDR offiziell von der Republik Indien anerkannt. Seit 1956 hatte sie aber mit verschiedenen Handelsvertretungen ein offizielles Sprachrohr dort. Der Beitrag behandelt die „politischen“ wie „kulturellen“ Beziehungen zwischen Akteuren beider Staaten, welche in Archiven zumeist nur außerhalb der formalen politischen Sphäre unter dem Label „Nicht-staatliche/kulturelle Beziehungen“ auftauchen. Es werden Akteure des universitären Austauschs beider Seiten vorgestellt, sowie indische Akteure, die durch die Handelsvertretungen der DDR in Indien staatlich begleitet wurden, dabei aber gleichzeitig weit außerhalb der politischen Sphäre agierten.
„Vor der Anerkennung hat der Direktor unserer Handelsvertretung uns immer gesagt: ‚Indien ist sehr anders als die üblichen Diplomatischen und universitären Zusammenarbeitspunkte. Wir sind zwar Diplomaten, aber unser Auftrag ist nicht bloß zu reisen, in diplomatischen Kreisen zu verkehren und unnötig Geld hinaus zu werfen. Unsere Akademiker und Diplomaten haben einen besonderen Auftrag hier. Wir müssen Indien und seine Bevölkerung verstehen und ihre Herzen erreichen. Nur dann werden sie beginnen, sich für uns und unser Land zu interessieren. Wir müssen ihnen die DDR nahebringen, auch wenn viele dort noch nie zuvor von uns gehört haben, geschweige denn außerhalb gewesen sind.’“ Wie dieser Zeugenbericht eines vormaligen Humboldianers zeigt, waren neben auch Akademiker wichtige Akteure für die langfristigen kulturellen Austauschsbeziehungen beider Länder.
Wie genau versuchten diese Akteure, die DDR in Indien sichtbar zu machen? Welche Rolle spielte vor 1972 die mangelnde Anerkennung der DDR für ihre Aktivität? Und wie hat ihre Aktivität vor Ort die offizielle Anerkennung in der Tat beeinflusst? Veränderungen innerhalb von Universitäten nach der Wiedervereinigung haben die Karrieren dieser Akademiker oft abrupt beendet. Aber begründet dies die relative Zurückhaltung von Historikern vor ihren Erfahrungen in Indien? Der Beitrag intendiert, mittels einer oralgeschichtlichen Aufarbeitung beruflicher Laufbahnen ein Füllen dieser historiographischen Lücke zu initiieren. Dabei kommt indischen Akteuren allerdings keine bloß passive Rolle von Rezeptoren einer Kalter-Krieg-Politik zu. Vielmehr sind sie aktive Macher dieser Beziehungen, die häufig von der nicht formalisierten Situation der Beziehung profitieren konnten.
Gautam Chakrabarti, Berlin:
Kalter Krieg / Teilung: West-Ost-Dichotomien in der deutschfreundlichen Bengalischen Unterhaltungsliteratur
Das folgende Paper verlagert den Fokus auf Bengalische Unterhaltungsliteratur, aus den ausgewählten Beispielen (vor allem aus den Werken von Sharadindu Bandopadhyay und Satyajit Ray) des populären Detektiv- und Kriminalromangenres vorstellt, welche sich auf west- oder ostdeutsche Texte, Kontexte, Ereignisse und erlebte Tatsachen konzentrieren oder diese aufgreifen im Feld einer literarisch-kulturellen Auseinandersetzung mit den historischen Einzigartigkeiten des Kalten Krieges. Das Paper wird analysieren und evaluieren, in welcher Breite und Tiefe die politisch-ideologischen Dichotomien und Kontroversen des Kalten Krieges die deutschfreundlichen Konstellationen der bengalischen Populärkultur beeinflussten. Weiterhin wird es versucht zu erkunden in welchem Außmaß deutsche (west- und ost-) und indische Archiven von ‚Kulturpolitik‘ in der Umgestaltung der indischen Annäherungen und Ermächtigungen der populären und „hoch“ deutschen Kultur von der Nachkriegszeit helfen können.
Razak Khan, Göttingen:
Nationalkultur und Minderheitenidentität umdenken: Indische muslimische Intellektuelle in Deutschland
Das Paper untersucht Debatten indischer muslimischer Intellektueller zu nationaler Kultur und der Identität von Minderheiten während des Kalten Krieges. Über nationalgeschichtliche Grenzen hinaus werden diese Diskurse in die transnationale deutsch-indische Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts eingebettet. Verbindungen entstanden durch Reisen muslimischer Intellektueller nach Deutschland, aber auch durch den Transfer von Ideen und Konzepten über nationale Grenzen hinweg. Deutlich zeigen sich derartige Verflechtungen in den Schriften von Sayyid Abid Husain (1896–1978), einem klaren Anhänger des indischen Nationalismus, und ebenso im Werk von Kunwar Muhammad Ashraf (1903-1962), einem überzeugten Verfechter der kommunistischen Internationale. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges überdachten diese einflussreichen muslimischen Intellektuellen Fragen der Nationalkultur, Minderheitenidentität und Staatsbürgerschaft aus unterschiedlichen ideologischen Standpunkten heraus. Sie bezogen sich dabei auf die Situation im geteilten Deutschland, berücksichtigten aber zugleich die Relevanz für Indien nach der Teilung des Landes im Jahr 1947. Das Paper führt diese verflochtenen Stränge deutsch-indischer Geistesgeschichte vor dem Hintergrund politischer und ideologischer Teilungen des Kalten Krieges zusammen.
Abstracts (English version)
Alexander Benatar, Berlin:
Herbert Fischer – A Biography of Indo-German Entanglements
This presentation traces the biography of Herbert Fischer, a GDR diplomat and the country’s first Ambassador to India. Fischer is a key actor in my dissertation, which deals with East and West German relations on the Indian sub-continent during the Cold War years. He represents a prototype of divided Germany and India’s entangled histories: having emigrated from Germany in the early 1930s, Fischer reached India via an adventurous land-route across Spain to eventually join Mohandas Karamchand Gandhi’s independence movement of civil disobedience against the British colonial rule. He spent World War II in British internment camps and after a decade in India, returned to a dramatically changed Germany in the late 1940s: the then Soviet occupation zone.
After a brief stint working as a teacher, Herbert Fischer joined the GDR’s Ministry of Foreign Affairs (MfAA). Soon thereafter, he was deployed in India. First as deputy and later as head of the Consulate General of the GDR in New Delhi, Fischer was able to build on his previous contacts in India and devoted himself primarily to overcoming the West German Hallstein Doctrine – towards the formal recognition of the GDR in spite of Bonn’s claim to be Germany’s sole representative. In 1972, the GDR achieved its goal and Herbert Fischer was appointed the country’s first ambassador to India – a post he held until his dismissal in 1976. During the following four decades, until his death in 2006, Fischer stayed in constant contact with the Indian subcontinent as a scientist and India expert in the GDR and later in a reunified Germany. His son Karl Fischer entered his diplomatic footsteps and became the last Ambassador of the GDR in Pakistan.
Official GDR action in India was severely limited by the framework set by West Germany. However, like hardly another Herbert Fischer’s biography illustrates how individual actors were able to circumvent restrictions in interstate relations through personal contacts.
Stefan Tetzlaff, Paris:
‘Tata-Bhains’ as Forerunner of Indo-German Business Ties: Industrial Policy, Technical Cooperation and Business Interests in the Making of the Truck-Manufacturing Joint Venture TELCO/Daimler-Benz, c. 1954-1969″
Contemporary publications often praisedthe cooperation of the Tata Engineering and Locomotive Company (TELCO) and Daimler-Benz for the joint manufacture of trucks from the mid-1950s as one of the earliest and most successful private business joint ventures between India and Germany. Daimler-Benz’s directparticipation in the company stoppedin 1969 due to policies of the Indian state in favour of greater in-house manufacture of vehicles and components. German technical expertise and business interests were nevertheless crucial in the making of the joint ventureover the 15-year period and TELCO eventually became one of the commercially most successful private companies in this period.
This paper sheds some light on the larger contextanddiverse implications of this business cooperation. The paper is divided into two main parts. The first part deals with the main political and business interests of the participating companies and of the governments of India and West Germany at the time.It analyses whether and to what extent the scenario of the early cold war era defined political and business interests on both sides. The second part of the paper deals with the cooperation’s specific trajectory in the production environment of Jamshedpur (Bihar)in the 1950s and 1960s. The main focus here is on whether and to what extent Daimler-Benz provided technical expertise in starting production and what effect this had on the Indian cooperation partner and on the automotive industry in India in general. The paper concludes with an analysis of the specific political contexts of the end of the cooperation in 1969 and its effects on both companies in Germany and India.
Anandita Bajpai, Berlin:
Materialising Visibility, Preparing Recognition: The `Cultural` Politics of GDR-India Relations 1952-1972
I have always told people, ‘Culture’ begins with agriculture and ends at eating cultures. Everything between the two is politics.
(Interview with university intellectual and former GDR diplomat).
The GDR was officially recognised by the Indian state in 1972. The Trade Representations, established in 1956, however, became the ‘official mouthpiece’ of the GDR in India. This paper explores the interface of ‘political relations’ and ‘cultural relations’ between actors from the two countries, which are often relegated to the sphere outside formalised politics (Nicht Staatliche/Kulturelle Beziehungen) within the internal architecture of archives. It will present case studies of exchanges between university intellectuals from both the sides. The uniqueness of such exchanges is that, from one side, they were state directed (through the Trade Representation of the GDR in India) and on the other, pursued by actors who were often outside the ambit of the Indian state’s formalized politics.
“Before Recognition our director at the Trade Representation had always told us: Your work in India is very different from that of the regular diplomats and university employees. We are diplomats but our job is not to travel without restraints, to stay within diplomatic circles and spend money unnecessarily. Our academicians and our diplomats have a special aim in India. We have to understand India and its people- to touch their hearts. Only then will they care to know about whom we are and what the GDR is. We have to show them the GDR even though many have still not heard of it and most have never been there.” [Interview with a former university intellectual from the Humboldt Universität zu Berlin, who started his engagements with India as a researcher in South Asian Studies and later became an official at the Trade Representation of the GDR in Bombay, holding numerous positions at different stages of his career. (February 10, 2016)]
University intellectuals ought to be viewed as important actors in enabling a long tradition of exchanges between the two countries.
The paper poses the following questions: How did these individuals attempt to render the GDR a visible entity for the people of India? How were their efforts to materialise the GDR’s presence affected by the absence of official recognition and how did their exchanges, in turn, impact the very question of recognition? Transformations within the universities after reunification often brought these careers to a grinding halt. This, however, does not justify the relative absence of historical engagement with their experiences in India. This paper will fill this missing gap through oral history by tracing the trajectories of some of these actors. The Indian actors, however, are not projected here as passive receivers of a cold war politics being staged elsewhere, but as active shapers of these relations, often seeking to capitalize on the situation beyond the realm of formalized politics.
Gautam Chakrabarti, Berlin:
Cold War/Partition: West-East Dichotomies in Germanophile Bengali Popular Fiction.
The proposed paper will seek to locate post-Partition Bengali popular, especially detective fiction, through the selected exemplars– mainly from the works of Sharadindu Bandopadhyay and Satyajit Ray– that mention or focus on West and East German texts, contexts, events and felt realities, in a locus of literary-cultural engagement with the historical singularities of the Cold War. The attempt will be to analyse and evaluate the range and depth to which the politico-ideological dichotomies and contestations of the Cold War had influenced Germanophile Bengali configurations of popular culture. Further, one will explore the extent to which German– both West and East– and Indian archives of ‚Kulturpolitik‘ can help in the reconfiguration of Indian approximations and appropriations of popular and ‚high‘ German culture.
Razak Khan, Göttingen:
Rethinking National Culture and Minority Identity: Indian Muslim Intellectuals in Germany
The paper examines debates among Indian Muslim intellectuals on national culture and its relationship with minority identity during the cold war. Moving beyond the boundaries of nationalist history it seeks to locate these debates within the framework of Indo-German entangled histories in the twentieth century. Connections were forged by the journeys of Muslim intellectuals to Germany as well as transfer of ideas and concepts across national borders. The paper explores these entangled intellectual histories by examining the writings of Sayyid Abid Husain (1896–1978) with his commitment to Indian nationalism and Kunwar Muhammad Ashraf (1903-1962), a firm believer in international Communism during the cold war-context in divided Germany. These influential Muslim intellectuals with differing ideological commitments engaged with questions of national culture, minority identity and citizenship in the two Germanys and its relevance for India in the aftermath of the Partition in 1947. The paper brings together the connected histories during the cold war period marked by political and ideological divisions.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
AM I
Auditorium Maximum
Überblick
(Michael Kiss, VGD LV Schleswig-Holstein) Podiumsdiskussion -Lale
Überblick
(Michael Kiss, VGD LV Schleswig-Holstein)
Podiumsdiskussion
-Lale Akgün, MdB
-Benjamin Stello, CAU, IQSH
-G. Schlaber, Deutsches Gymnasium Apenrade, Dänemark
-Rabeya Müller, Imamin, Schulbuchautorin
-Daniel Mourkojannis, ev.-luth. Kirche Norddeutschland, Leiter der Arbeitsstelle Reformationsjubiläum 2017
Leitung: Michael Kiss, VGD
Abstract
Die Reformation leitete nicht nur die Spaltung der christlichen Religion ein, sondern stieß in der Folge eine Reihe von Entwicklungen im politischen und gesellschaftlichen Leben Europas an. Mit Podiumsteilnehmern soll unter verschiedenen Aspekten erörtert werden, welche grundlegenden Veränderungen bis heute nachwirken und das politische und gesellschaftliche Leben des modernen Europas beeinflussen. Glaubensfragen sind nach und vor der Reformation Machtfragen, die in religiösen und politischen Konflikten münden. In der Folge entstehen Konzepte für einen modernen Rechts- und Verfassungsstaat, die bis heute unser tägliches Leben bestimmen. Neu ist zudem, dass die Gewissensfreiheit und das Toleranzprinzip als Prinzipien des Zusammenlebens formuliert werden. Der Reformation und den Reformatoren wird vorgeworfen, sie hätten eine Zivilreligion entstehen lassen, die die Glaubensinhalte bei Mitgliedern der christlichen Religionen zu einer sehr persönlichen Entscheidung werden ließen. Dies könnte sich aktuell auch an dem modernen (gewalttätigen) Islamismus nachweisen lassen.
Welche gegenseitigen Anregungen gehen von unterschiedlichen Religionen aus, die dann u. U. zu interkonfessionellen Angleichungen führen? Wie gehen wir mit den Wertvorstellungen und den religiösen Praktiken um, die auf unsere grundgesetzliche Ordnung treffen? Die Neugestaltung der Lehrpläne für Geschichte gibt die Möglichkeit, auch die Folgen der Reformation unter dem Aspekt der Kompetenzorientierung neu und anders für und im Unterricht zu untersuchen. Es gilt also, das didaktische Potenzial zu diskutieren, das sich aus christlicher und islamischer Sicht nutzen lässt. Die thematische Klammer der Reformation und der Glaubens- und Machtfragen trägt durch verschiedene Epochen. Es kann Fremdverstehen ebenso gefördert werden wie das Nachdenken über die eigenen Werte und Standpunkte. Ebenso kann nachgewiesen werden, inwieweit in unterschiedlichen Epochen geschichtliche Abläufe eingesetzt worden sind, um Macht zu sichern und damit zweck- und perspektivgebunden verwendet wurden, was Dekonstruktion durch die Lernenden fördert und fordert.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
Phil-E
Philosophenturm
Überblick
(Eva Schlotheuber, Düsseldorf, Michail Boytcov,
Überblick
(Eva Schlotheuber, Düsseldorf, Michail Boytcov, Moskau)
Pierre Monnet, Frankfurt/M. / Paris:
Die Goldene Bulle 1356: »Für immer und ewig?« (Röm.-dt. Reich)
Eva Schlotheuber, Düsseldorf:
Constitutiones Aegidianae 1357 – »Ein diplomatisches Kunststück« (Kirchenstaat, Italien)
Michail Boytcov, Moskau:
Privilegium Maius 1359 – (Röm.-dt. Reich /Habsburger)
Jean Marie Moeglin, Paris:
Ordonnanzen Charles le Sage 1374 (Frankreich)
Claudia Märtl, München:
Das Wiener Konkordat von 1448 (Habsburger /Kurie)
Jesús Vallejo Fernandez de la Reguera, Sevilla:
Siete Partidas (Kastilien/Spanien)
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-G
Philosophenturm
Überblick
Margret Frenz, Oxford/Nantes, Moritz von
Überblick
Margret Frenz, Oxford/Nantes, Moritz von Brescius, Konstanz)
Margret Frenz, Oxford/Nantes, Moritz von Brescius, Konstanz:
Introduction
Moritz von Brescius, Konstanz:
Empires of Opportunity: German Scholars Between Asia and Europe in the Mid-Nineteenth Century
Christof Dejung, Berlin:
The Firm as Contact Zone. European and Indian Staff in the Merchant House Volkart Bros., 1850s–1950s
Aparajith Ramnath, Kozhikode:
Engineers Beyond Empire: The Circulation of Technical Experts between India and Germany, c. 1900–1960
Margret Frenz, Oxford/Nantes:
Treating the Empire: Indian Doctors in the (Post-) Colonial British and French Sphere, c. 1900–1960
Elizabeth Buettner, Amsterdam:
Looking Back After Migration: Indian- Descended Communities Revisit the Colonial Past in Postcolonial Britain and the Netherlands
John Darwin, Oxford:
Comment
Abstracts
By investigating different forms of migration and social mobility between India and Europe,
this panel takes up the Historikertag’s overarching topic of ‘matters of belief’. It does so by
comparing and connecting historical and contemporary migration processes between Europe
and India from the early nineteenth until the late twentieth century, thus bridging the colonial and post-colonial divide. India and Germany have a shared, and at times contested past, evidenced for instance by the intensive academic engagement of German scholars with Indian languages in the nineteenth century, and currently, by a multitude of economic joint ventures between Indian and German companies. Migration movements from India and South Asia to other countries, particularly to Europe
and North America, have been researched extensively in the past couple of decades. However, many studies create the impression that this migration began only after the end of the Second World War (1945) and Indian independence (1947), whereas other studies have an ethnographic, contemporary focus. But Indians have moved across the globe for several centuries – as have Europeans to India. This panel, then, emphasizes the historical perspective on migration movements, and their global dimension, which will also allow for insights into implications of current migration movements.
By bringing together a number of different migratory and sojourning figures, from merchants to doctors and explorers to engineers, this panel sheds light on the experiences of actors in the past, who through their lives connected Europe and India in a multitude of ways that still shape the relationship between both regions today.
Moritz von Brescius, Konstanz:
Empires of Opportunity: German Scholars Between Asia and Europe in the Mid-Nineteenth Century
The paper investigates the involvement of German scientific experts in the British Empire in Asia during the mid-nineteenth century. It focuses in particular on a small band of scholars – the three Munich-born Schlagintweit brothers – who, between 1854 and 1857, found employment in the British East India Company (EIC), a former trading body that came to rule large parts of the Indian subcontinent. This case study is used to demonstrate how the German lands provided the scientific expertise for the exploration, administration, and exploitation of territories in South and Central Asia. Inspired by the paradigm of global history, the work presented here seeks to make a contribution to the recent endeavour to understand the transnational nature of European imperial systems in the modern period. Lying at the intersection of British imperial history, the history of science, and German history in the middle decades of the nineteenth century, the central question is how ‘empire’ could become a career for scholars from countries without colonies.
I am particularly concerned with the knowledge transfer these mobile scientific careers overseas entailed, but I also pay close attention to a number of conflicts and rivalries that complicated the collaboration between British and German experts and scientific institutions. The paper finally examines how the personal experience of empire exercised a tangible effect on German scholars. They would often develop imperial fantasies and project a colonial vision of the lands they explored as sites for European interventions and ‘improvement’ schemes. For the processes of knowledge transmission from colonial spaces into the German lands, travelling ‘imperial outsiders’ proved to be crucial mediators. A close study of this group reveals to what extent Europe’s overseas imperialism was a joint project formed by actors from various national origins, thereby potentially becoming a shared European experience.
Christof Dejung, Berlin:
The Firm as Contact Zone. European and Indian Staff in the Merchant House Volkart Bros., 1850s-1950s
This paper deals with Indo-European Exchanges by taking the example of the Swiss merchant house Volkart Bros., one of the most important trading firm in British India. The paper examines the firm as a ‘contact zone’ (Marie Louise Pratt) thus highlighting the interactive dimension and ambiguity of imperial encounters. This involved a highly contradictory attitude towards colonial rule on part of the Swiss merchants. On the one hand, Volkart’s staff adjusted themselves to British colonial culture which emphasised a clear-cut distinction to Indian society. On the other hand, the firm relied on smooth business relations to the Indian mercantile elite and was thus highly critical towards colonial racism and imperial hubris they considered derogatory to their business interests. The corporate structure of Volkart involved a hierarchy that was clearly organised along ethnic lines. Whereas managerial executive staff positions were held by Europeans, the numerous indigenous staff had to content themselves with the subaltern positions of clerks and assistant accountants. This hierarchy, however, was ever more challenged by the rise of the Indian independence movement which compelled the firm’s partners to promote Indian employees into more senior positions; a policy that was often met with suspicion and resistance on part of the European managers who worked for Volkart on the subcontinent. By pointing out such processes, the paper maintains that a trading firm such as Volkart was much more than an economic actor merely concerned by bringing supply and demand into an equilibrium; rather such enterprises have to be understood as social entities which had to embedded themselves into the social environment of South Asia and had to deal with the often contradictory relation between commerce and colonial rule.
Aparajith Ramnath,Kozhikode:
Engineers Beyond Empire: The Circulation of Technical Experts between India and Germany, c. 1900-1960
This paper traces the history of technical experts from India and Germany who lived in each other’s countries for training, research, or professional reasons in the period 1900-60. Using archival material, published memoirs, and technical magazines, it reconstructs the careers of individuals such as V.M. Ghatage, head of the design department at Hindustan Aircraft Limited, who did his doctoral work under Ludwig Prandtl at Göttingen in the 1930s; Oskar Tietjens, another student of Prandtl, who became head of the aeronautical engineering department at the Indian Institute of Science in 1949; Hiralal Roy, who earned a German doctorate before helping establish a professional society for chemical engineers in India in 1947; and several German operators who worked in the Tata steel works in the 1910s.
Kris Manjapra (2014) has argued that Indian and German nationalists tried to establish an alternative intellectual identity to rival British imperial ones. This paper asks what impact this Indo-German relationship had on the professional lives of engineers. Specifically, how did the colonial state view German experts and academics working in India, and German-trained Indians (especially during the World Wars)? To what extent did anti-colonial politics influence Indians to study in Germany, and how did the rise of National Socialism impact their experience in the interwar period? Finally, how were these patterns changed by the coming of Indian Independence? The historiography of science and technology in India has largely been concerned with British and Indian practitioners in the context of Empire, although recent work has begun to highlight the importance of interactions with the USA. This study seeks to add a further dimension to the theme by studying the circulation of engineers, academics and skilled industrial operatives in another extra-imperial context.
Margret Frenz, Oxford / Nantes:
Treating the Empire: Indian Doctors in the (Post-)Colonial British and French Sphere, c. 1900-1960
Through a comparative analysis of doctors in the British and French colonial and post-colonial contexts, this paper investigates how citizenship and medical practise became increasingly entangled between 1900 and 1960. It will throw light on how medical personnel from the colonies responded to, resisted, or manipulated attempts at regulation. Case studies include doctors from the colonies who moved to the UK or France to undergo additional training, and then either stayed there or went on the move again, sometimes returning to India and sometimes moving to other parts of the empire, most notably, East Africa. I argue that colonial medical professionals constitute a circulating ‘subaltern elite’ in both the British and French contexts. Medical professionals were an elite in some ways, for instance, in that they were comparatively well educated and could work in jobs that are perceived as highly valuable for society. But in other ways, they were also subaltern, for example, in that migrant medical personnel frequently faced difficulties in finding adequate employment, be it due to a lack of official recognition of qualifications or due to other, more informal and insidious means of discrimination. In many cases, they continued to seek better employment opportunities elsewhere. By bridging the colonial / post-colonial divide, the paper intends to shed light on continuities and discontinuities of imperial policies and national practices after decolonization. Using a global history perspective, it will provide new insights into the roles of subaltern networks and of colonial professionals in the two empires, and later on in the European and newly established South Asian or African nation-states.
Elizabeth Buettner, Amsterdam:
Looking Back After Migration: Indian-Descended Communities Revisit the Colonial Past in Postcolonial Britain and the Netherlands
After 1945, both Britain and the Netherlands have counted among the Western European nations that gradually lost empires and gained substantial numbers of ethnic minority migrants from colonies and former colonies. This paper asks how members of distinct groups of South Asian descent have revisited aspects of the colonial past in Europe after empire in comparative perspective. In the Netherlands, peoples of South Asian origin arrived from Suriname, where their ancestors had gone starting in the late nineteenth century as indentured plantation labourers after the abolition of slavery, when a Dutch colony looked to British India to provide its workers. Most South Asians in Britain arrived directly from India, Pakistan, and later Bangladesh (although Britain too became home to ‘twice migrants’ when South Asians left East Africa in the late 1960s and early 1970s). At specific historic moments, these diasporic communities have engaged in public reflections on the history of colonialism whose contours were shaped by the British and Dutch societies of which they became part, and this paper positions their engagements with the past with reference to their post-migration lives in multicultural European nations.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-D
Philosophenturm
Überblick
(Dominik Fugger, Franziska Turre, Erfurt,
Überblick
(Dominik Fugger, Franziska Turre, Erfurt, Paola von Wyss-Giacosa, Zürich)
Yann Dahhaoui, Lausanne:
Los primeros padres se conformaron con las çerimonias de los gentiles. Comparing Pagan and Christian rites in Early Modern Spain
Franziska Turre, Erfurt:
Heidenstereotype in der konfessionellen Auseinandersetzung des 16. und 17. Jahrhunderts
Sergio Botta, Rom:
Towards a Global Theory of Polytheism in Fray Juan de Torquemada’s Monarquía Indiana
Paola von Wyss-Giacosa, Zürich:
Vielgötterei und Feuerkult. Der Blick des britischen Geistlichen Henry Lord auf die Religionen Indiens
Dominik Fugger, Erfurt:
Das Eigene und das Andere zugleich: Frühneuzeitliche Blicke auf das germanische Heidentum
Heidentum oder Heidentümer? Frühneuzeitliche Perspektiven auf den Polytheismus
Gelehrte der europäischen Frühen Neuzeit hatten vielerlei Anlass, sich mit dem Polytheismus auseinanderzusetzen. Sie fanden Heidentum einerseits in der historischen Überlieferung, der europäischen wie der alttestamentlichen, und andererseits in ihrer Gegenwart, indem die europäische Expansion im Zuge von Mission und Handelskontakten immer neue Nachrichten über die Religionen der Welt erzeugte. Zwar ist der Standpunkt der Gelehrten notwendigerweise ein christlicher; doch tatsächlich entwickelt sich seit dem 16. Jahrhundert eine Vielzahl an Perspektiven, die man auf das Heidentum einnehmen konnte. Neben den universalistischen Blick auf „das Heidentum“ tritt das Interesse an einer genaueren Beschreibung geographisch, historisch oder ethnographisch bestimmter „Heidentümer“. Auch der Blick auf „den Heiden“ ist keinesfalls immer derselbe, sondern bewegt sich in einer weiten Spannbreite. Die hiermit vorgeschlagene Sektion will diese Landschaft anhand ausgewählter Beispiele schlaglichtartig beleuchten.
So soll etwa gefragt werden, welchen Einfluss die Entstehungsvorstellungen von Heidentum auf das Verhältnis haben, in das der Polytheismus, den die Zeitgenossen in ihrer Gegenwart oder in historischen Quellen vorfanden, zur christlichen Religion gesetzt wird. Die Tatsache, dass man sich Heidentum nicht anders denn als Abfall von der Offenbarung denken konnte, schafft Nähe und Distanz zugleich. Tatsächlich ist der Heide, anders als der Gottlose, keine ausschließlich negativ besetzte Figur: Die Quellen kennen ihn auch als frommen Heiden, weisen Heiden oder wilden Heiden.
Weiter kann man fragen, ob sich die Prinzipien, nach denen Heidentum klassifiziert und bewertet wird, unterschieden, je nachdem ob man das historisch überwundene oder der gegenwärtig noch bestehende Heidentum in den Blick nahm. Die Frage, ab wann sich der theologische, historische und ethnographische Blick voneinander differenzieren, gehört ebenso in diesen Zusammenhang. Schließlich: Welche Rolle spielen tatsächliche oder erdachte religiöse Praktiken bei der Differenzierung der heidnischen Religionen; welche Rolle spielen religiöse Vorstellungen, welche Rolle ethnographische Konzepte?
Die Sektion möchte ausgewählte Perspektiven auf das Heidentum in diesem Sinne vergleichend zusammenbringen. Dabei sollen das für die Zeitgenossen bereits historische europäische und das ihnen gegenwärtige außereuropäische Heidentum etwa gleichgewichtig repräsentiert sein. Jeweils ein Vortrag ist der Wahrnehmung indischen und mexikanischen Heidentums gewidmet, zwei Beiträge zeigen verschiedene Perspektiven auf das antike, besonders römische Heidentum, und ein weiterer Vortrag behandelt das germanische Heidentum in den Augen der Zeitgenossen.
Yann Dahhaoui, Lausanne:
Los primeros padres se conformaron con las çerimonias de los gentiles.Der Vergleich heidnischer und christlicher Riten im frühneuzeitlichen Spanien
Sowohl der vermeintliche Argwohn der Katholischen Kirche gegenüber allem Heidnischen als auch die Suche nach „Übereinstimmungen“ zwischen dem Katholizismus und antiken heidnischen Kulten bei protestantischen Kontroverstheologen mit dem Ziel, Kontinuitäten zu beweisen, haben dazu geführt, dass Historiker, die sich mit antiken Religionen beschäftigen, ihre Vorgänger eher unter protestantischen als unter altgläubigen Gelehrten gesucht haben. Ein Gutachten eines Kaplans und Griechischprofessors an der Universität von Toledo, Alvar Gómez de Castro, über den Stand und die Ursprünge der Vestalinnen, das 1562 auf eine Anfrage einer doña María de Mendoza hin entstand, beweist, dass das Interesse an diesem Themenkreis die konfessionellen Grenzen überschritt. Das Werk bringt verschiedene liturgische Bräuche ausdrücklich mit heidnischen Vorgängern in Verbindung. Dabei geht es dem Autor weniger darum, die dargestellten Bräuche zu verurteilen, als darum, durch den erkannten Zusammenhang moralische Lehren aus der paganen Vergangenheit für die christliche Gegenwart zu gewinnen.
Franziska Turre, Erfurt:
Heidenstereotype in der konfessionellen Auseinandersetzung des 16. und 17. Jahrhunderts.
Die Formierung und Abgrenzung der Konfessionen verlieh den gelehrten Vorstellungen über das historische Heidentum eine besondere Aktualität, insofern als die Frage nach der Reinheit und Authentizität der christlichen Praxis mit der Freiheit von heidnischen „Missbräuchen“ (Abgötterei) zusammengedacht wurde. Daraus folgte notwendigerweise eine Abgrenzung des eigenen christlichen Verständnisses von jeglicher heidnischen Praxis, was sich besonders an kontroverstheologischen Schriften in dieser Zeit zeigen lässt. Der Fokus soll bei der Untersuchung dieses Phänomens auf volkssprachlichen Quellen liegen, um damit jene Bilder in den Blick zu bekommen, die breiteren Bevölkerungskreisen von „dem Heidentum“ und „den Heiden“ vermittelt wurden.
Sergio Botta, Rom:
Anfänge einer globalen Polytheismus-Theorie in Fray Juan de Torquemadas Monarquía Indiana.
Ziel des Vortrags ist eine Untersuchung der Anwendung westlicher Vorstellungen „polytheistischer Götter“ innerhalb des mesoamerikanischen Kontextes. Polytheismus soll dabei nicht nur als gebräuchliche Kategorie der Religionswissenschaft begriffen werden, sondern auch als Erzeugnis eines kolonialen Diskurses. Die Monarquía Indiana von Fray Juan de Torquemada, 1615 in Sevilla veröffentlicht, stellt einen der bedeutendsten Versuche dar, indigene Religionen innerhalb einer interpretativen globalen Sicht religiöser Diversität einzugliedern. Das Werk von Torquemada, Produkt eines modernen Prozesses von “Mondialisierung”, enthält Überlegungen zum Wesen mesoamerikanischer Götter aus einer bahnbrechenden Perspektive. Der Franziskaner entwickelte die von Missionaren während der frühen Phase kolonialer Geschichte eingesetzten Methoden und Strategien wesentlich fort. Im Kontext moderner religionsgeschichtlicher Diskurse stellt das Werk Torquemadas nicht nur einen „ethnographischen“ Versuch dar, die Komplexität indigener Religionen zu erfassen, um deren Evangelisierung weiter zu treiben. Die Überlegungen des Missionars über indigene Gottheiten sind vielmehr als entscheidender Schritt innerhalb der modernen Konstruktion einer globalen Polytheismus-Theorie zu begreifen.
Paola von Wyss-Giacosa, Zürich:
Vielgötterei und Feuerkult. Der Blick des britischen Geistlichen Henry Lord auf die Religionen Indiens.
In den auf die Gründung der britischen East India Company im Jahr 1600 folgenden Jahrzehnten wurde eine ganze Reihe von Werken englischer Autoren veröffentlicht, die einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis Indiens, vor allem des Mogulreichs und Gujarats, leisteten. Das wohl bedeutendste ist A Display of two Forraigne Sects in the East Indies des protestantischen Geistlichen Henry Lord. Der Autor des 1630 erschienenen Buches war fünf Jahre lang, von 1624 bis 1629, als Kaplan in Surat tätig, wo man die erste Handelsniederlassung der East India Company gegründet hatte. Einer biblischen Ordnung entsprechend, mit den hinduistischen Vorstellungen der Schöpfung der Welt und des Menschen beginnend, stellt der schmale Band einen frühen Versuch dar, die Glaubensinhalte der Hindus wie auch der Parsen jenseits der reinen Beobachtung mit einer vergleichenden Methodik systematisch zu studieren. Entsprechend ergiebig erscheint diese Quelle für eine Untersuchung wiederkehrender und neuer, spezifischer und allgemeiner Vorstellungen zu einem indischen Heidentum.
Dominik Fugger, Erfurt:
Das Eigene und das Andere zugleich: Frühneuzeitliche Blicke auf das germanische Heidentum
Die Beschäftigung mit dem germanischen Heidentum ist für die mittel- und nordeuropäischen Gelehrten von einer besonderen Spannung geprägt: Als Christen (nicht selten als ausgebildete Theologen) schrieben sie über religiöse Zustände, deren Überwindung zu den wesentlichen Elementen ihres Selbstverständnisses gehörte. Das Heidentum erscheint in dieser Perspektive als die notwendige Kontrastfolie, ohne die das religiöse Eigene nicht erkennbar wird. Zugleich aber war das Heidentum als Glaube und Tun der eigenen Vorfahren Teil der eigenen Geschichte und wurde damit auch als Teil des eigenen geschichtlichen Seins wahrgenommen. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das die Beschäftigung mit dem historisch zurückliegenden Heidentum die gesamte Frühe Neuzeit hindurch prägt und dem der Vortrag anhand ausgewählter Beispiele aus der nördlichen Religionsgeschichtsschreibung nachgehen möchte.
Abstracts (English version):
Paganism or paganisms? Early-modern Views of Polytheism
Scholars in early-modern Europe had many occasions to concern themselves with polytheism. They could find it not merely in the historical record, relating both to Europe and to the Old Testament but also in their own day, in that the expansion of Europe constantly produced information about the religions of the world in the course of missionizing and trade. These scholars naturally viewed all this from the Christian point of view, but in the course of the sixteenth century several different approaches to paganism did indeed emerge: in addition to an universalising perspective on ‘paganism’, we also find an interest in describing different ‘paganisms’ in greater detail, be it with regard to geography, history or ethnography. Nor were views of ‘heathens’ by any means always the same, but likewise covered a broad span. The aim of this Section is to throw some light on this landscape by focusing on a small number of examples.
One question might focus on the influence that views of the emergence of paganism had upon the way that the relation between polytheism, whether contemporary or as known from historical sources, and Christianity was represented. The fact that paganism was necessarily constructed as a deviation from revelation allowed both distance and nearness: unlike the godless, the pagan was a by no means exclusively negative figure. The sources view him variously as the pious pagan, the wise pagan, or the savage pagan. Moreover, one can ask whether the principles according to which paganism is classified and evaluated vary, depending on whether the object in view is a purely historical paganism of the past, or a contemporary, still living paganism. In this connection, one can also ask when theological, historical and ethnographic perspectives begin to diverge from one another. Finally, what role did real or merely imaginary religious practices play in this process of differentiation between pagan religions: what was the role of religious ideas as against ethnographic concepts?
The aim of the Section is to compare selected views of paganism along these lines. Cases involving already past paganisms in Europe are intended ideally to balance those involving contemporary non-European examples. One presentation each is thus devoted to perceptions of Indian and Mexican paganism, two offer different perspectives on ancient, mainly Roman, paganism, and a fifth discusses German paganism as viewed by contemporaries.
Yann Dahhoui, Lausanne:
Los primeros padres se conformaron con las çerimonias de los gentiles. Comparing Pagan and Christian Rites in Early Modern Spain
Both the supposed distrust of the Catholic Church in everything pagan and the gathering of “conformities” between Catholicism and ancient pagan cults by Protestant polemists (for the purpose of proving continuity between them) have led historians of ancient religions to look for forerunners among scholars who embraced Reformation rather than among those who remained true to the “old faith”. The expert report On the order and origins of the Vestals virgins written in 1562 in response to the request of a doña María de Mendoza by Alvar Gómez de Castro, a chaplain and professor of Greek at the University of Toledo, shows that interest in such matters extended beyond the confessional boundaries. Keeping condemnation of the customs described to a minimum, the work explicitly links several Christian liturgical customs with pagan antecedents and uses these links to draw moral lessons for the Christian present from the pagan past.
Franziska Turre, Erfurt:
Stereotypes of Paganism in the Confessional Debates of the Sixteenth and Seventeenth Centuries.
Learned ideas of historical paganism were highly pertinent during the period of the formation and mutual self-differentiation of the confessions, since the issue of the purity and authenticity of Christian practice was closely bound up with the licence of pagan ‘malpractice’ (idolatry). The inevitable consequence, well illustrated by the contemporary culture of theological debate, was a determination to separate one’s own Christian practice from all suspicion of paganism. The main focus of this study is upon sources in the vernacular, so as to provide an understanding of the image of ‘paganism’ and ‘heathens’ that was conveyed to lay folk beyond the circle of the learned
Sergio Botta, Rom:
Towards a Global Theory of Polytheism in fray Juan de Torquemada’s Monarquía Indiana
The aim of this paper is to examine the application of the Western idea of “polytheistic god” within the Mesoamerican context and to observe polytheism not only as a conventional category of Religious studies, but also as a product of a colonial discourse. The Monarquía Indiana – published in Seville in 1615 by Fray Juan de Torquemada – represented one of the most significant efforts to incorporate Indigenous religions within an interpretative global vision of religious diversity. As a product of a modern process of “mondialisation”, the work of Torquemada reflected on the nature of Mesoamerican gods from a ground breaking point of view. The Franciscan produced an evolution of the missionary methods and strategies used during the first part of colonial history. In the context of modern discourses on religion, the work of Torquemada does not represent only an „ethnographic“ attempt to understand the complexity of Indigenous religions in order to promote evangelization. On the contrary, the missionary reflection on Indigenous gods established a key stage in the modern construction of a global theory of polytheism.
Paola von Wyss-Giacosa, Zürich:
Polytheism and Fire Cult – the British Minister’s Henry Lord Perspective on Indian Religions
In the centuries following the establishment of the British East India Company in the year 1600 several works by English authors were published that offered an important contribution to the knowledge of India, and more specifically of the Mogul Empire and Gujarat. A Display of two Forraigne Sects in the East Indies, authored by the Protestant minister Henry Lord, must probably be considered the most outstanding among these books. For five years, from 1624 to 1629, Lord had served as a chaplain in Surat, where the very first commercial settlement of the East India Company had been founded. The small volume, organized like the Bible and starting with the Hindu notions of the creation of the world and of men, is a point in case for an early attempt to study the Hindu as well as the Parsee religious beliefs not merely by pure observation but in a systematic manner and by means of a comparative approach. Accordingly, Lord’s book may be regarded as a fruitful source for an investigation of recurring as well as new, both general and more specific notions on an Indian paganism.
Dominic Fugger, Erfurt:
“Are they like us or not?” Early-Modern Views of Germanic Paganism
Discussion of Germanic paganism was especially problematic for scholars in central and northern Europe. As Christians ‒ and not infrequently trained theologians ‒ they were writing about religious modalities whose rejection constituted a significant part of their self-understanding. From this perspective, paganism offered a constrastive foil without which their own religion lacked specific contours. At the same time, paganism, i.e. the beliefs and practice of peoples these scholars viewed as their ancestors, was also part of their own history and thus understood as part of their own historical being. This tension can be traced throughout the entire early-modern discussion of historical paganism in central and northern Europe, as the presentation will seek to demonstrate on the basis of selected examples from the relevant scholarly texts.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-C
Philosophenturm
Überblick
(Martin Lücke, Berlin) Martin Lücke, Berlin: Einführung
Überblick
(Martin Lücke, Berlin)
Martin Lücke, Berlin:
Einführung in die Sektion: Shoah und Geschichtsunterricht – Bisherige empirische Befunde
Bernd Körte-Braun, Berlin:
Konzept und Setting digitaler Lernumgebungen am Beispiel einer tabletbasierten Anwendung
Irmgard Bibermann, Innsbruck:
Historisches Lernen mit tablet-basierten Videointerviews – Beschreibung und Analyse von Geschichtsunterricht
Peter Gautschi, Luzern:
Guter Geschichtsunterricht?
Sebastian Telschow, Berlin:
‚Weil ich mich frage wieso?‘ – Alteritätserfahrung und historische Sinnbildung
Felicitas Macgilchrist, Braunschweig:
Kommentar: Perspektiven für die Bildungsmedienforschung
Juliane Brauer, Berlin:
Kommentar: Perspektiven für die geschichtsdidaktische Forschung
Abstract
Dass der Übergang von kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis beim Erinnern an die Shoah eine besondere Herausforderung für die Didaktik der Geschichte und für die Konzeption von Lernprozessen darstellt, kann mittlerweile als ein Allgemeinplatz gelten. Auf das bevorstehende endgültige Fehlen von noch lebenden ZeitzeugInnen beim Erinnern an die Shoah wurde unter anderem reagiert, indem umfangreiche Video- und Audioarchive mit lebensgeschichtlichen Interviews von Überlebenden erstellt wurden.
Durch Erfahrungsberichte ist belegt, dass solche videographierten ZeitzeugInneninterviews auch tatsächlich in den (Geschichts-)Unterricht eingebracht werden. Wie ein solches Angebot ausgestaltet werden soll, damit die Lernenden einen möglichst großen Nutzen daraus ziehen und mit ihnen kompetenzorientiert historisch lernen können, ist zwar theoretisch reflektiert, aber kaum systematisch erforscht.
Die Universität Innsbruck, die PH Luzern und die Freie Universität Berlin haben durch Koordinierung des österreichischen Bildungsträgers „erinnern.at (Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart)“ mit dem Projekt „Die Shoah im schulischen Alltag“ ein Unterrichtssetting entwickelt, das Möglichkeiten einer solchen systematischen Erforschung von Geschichtsunterricht mit videographierten Zeitzeugeninterviews ermöglicht.
In der Sektion soll anhand der Ergebnisse des Forschungsprojektes grundlegend über die pragmatische und empirische Dimension von historischem Lernen mit videographierten Interviews zur Shoah diskutiert werden. Die empirisch gestützten Ergebnisse sollen daraufhin befragt werden, wie sie sich zur bisherigen empirischen Forschung zum Thema „Shoah in der Schule“ verhalten und welche zukünftigen Forschungsfragen sich aus diesen Ergebnissen ableiten lassen.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-F
Philosophenturm
Überblick
(Martina Heßler, Hamburg) Martina Heßler, Hamburg: Einleitung Adelheid
Überblick
(Martina Heßler, Hamburg)
Martina Heßler, Hamburg:
Einleitung
Adelheid Voskuhl, Pennsylvania:
Ingenieurwesen, Technikglaube und philosophische Eliten um 1900
Rüdiger Graf, Potsdam:
Fortschrittsbehauptungen nach dem Ende des Fortschritts. Die gesellschaftliche Dimension technischer Fortschrittsvorstellungen in den 1920er und 1970er Jahren
Martina Heßler, Hamburg:
Der »fehlerhafte Mensch« und der Glaube an die Überlegenheit der Technik im 20. Jahrhundert
Heike Weber, Wuppertal:
Müll und Recycling: Der Glaube an das technische Schließen des »Kreislaufs« der Stoffe seit dem späten 19. Jahrhundert
Helmuth Trischler, München:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Adelheid Voskuhl, Pennsylvania:
Ingenieurwesen, Technikglaube und philosophische Eliten um 1900
In der Epoche um 1900 waren Ingenieure in Deutschland nicht nur dabei, sich als neue Berufsgruppe zu konstituieren. Sie versuchten auch, sich neben traditionellen Eliten aus Militär, Adel und Bildungsbürgertum als neue soziale Elite zu verorten. Ingenieure entwickelten zur gleichen Zeit Interesse an der neuentstehenden Subdisziplin Technikphilosophie und nutzten sie, um ihre technischen und sozialen Anliegen theoretisch zu fassen, zu integrieren und weiterzuverbreiten. Eine Gruppe von Ingenieuren im elitären Verband Deutscher Diplom-Ingenieure (VDDI, gegründet 1909) versuchte in der Verbandszeitschrift Technik & Kultur, Spannungen zwischen Ideen von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt bzw. Rückschritt für ihre Ingenieurleserschaft aufzubereiten und sich hierbei auch als meinungsbildende politische Klasse darzustellen. Es ist nicht untypisch für diese Epoche (und andere), dass dort, wo technische und soziale Theoriebildung betrieben wurden, der Glaube an das Gute und an das Schlechte der Technik enggeführt wurden und sich keine klaren Abgrenzungen zwischen Fortschritts- und Untergangsglauben in Bezug auf das Industriezeitalter ziehen ließen. Das galt auch für Ingenieure. Ganz besonders interessant ist hier, dass sich Ingenieure der Erkenntnistheorie und politischen Philosophie von kanonischen Philosophen wie Kant, Fichte, Spinoza und Schopenhauer annahmen und versuchten auf dieser Grundlage, einen Platz für Ingenieure in der bestehenden Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs bzw. der Weimarer Republik zu finden. Mein Augenmerk soll darauf gerichtet sein, wie Ingenieure sich sowohl in ihrer philosophischen Arbeit als auch ihren Bemühungen um sozialen Aufstieg mit vorindustriellem Gedankengut und mit vorindustriellen Gesellschaftsstrukturen auseinandersetzen mussten, wie sich dies in ihren Texten zur Technikphilosophie widerspiegelte und wie dies uns erlaubt, den Glauben an die Technik anhand der Historizität von Industrialisierung zu differenzieren.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Fortschrittsbehauptungen nach dem Ende des Fortschritts. Die gesellschaftliche Dimension technischer Fortschrittsvorstellungen in den 1920er und seit den 1970er Jahren
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die 1970er Jahre gelten gemeinhin als Hochphasen der Fortschrittskritik. Nachdem das industrialisierte Massentöten im Krieg für viele Zeitgenossen der Annahme einer vor allem auch durch Wissenschaft und Technik induzierten, kontinuierlichen Höherentwicklung der Menschheit die Grundlage entzogen hatten, konstatierten Soziologen, Philosophen und auch Historiker im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, dass das „Zeitregime“ der Modere insgesamt und mit ihm die Idee des Fortschritts an ein Ende gekommen sei. In beiden Fällen blieben die naturwissenschaftlich-technischen Eliten von diesem angeblichen Ende des Fortschritts jedoch erstaunlich unbeeindruckt. Während ihre kontinuierliche Fortschrittsbehauptung historiographisch zumeist als „nur technischer“, das heißt sektoral beschränkter Fortschritt von den umfassenderen Fortschrittsvorstellungen des 19. Jahrhunderts unterschieden wird, untersucht der Vortrag, ob und inwiefern sich mit den naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsversprechen weitergehende emanzipatorische Vorstellungen verbanden. Dabei wird gezeigt, dass Fortschrittsglauben und Fortschrittskritik nicht in eine diachrone Abfolge gebracht werden können, sondern vielmehr als Deutungsmuster historischer Zeit im 20. Jahrhundert miteinander konkurrierten und bis heute konkurrieren.
Martina Heßler, Hamburg:
Der „fehlerhafte Mensch“ und der Glaube an die Überlegenheit der Technik im 20. Jahrhundert
Der Glaube an Technik war und ist begleitet von der Vorstellung, Technik würde zu gesellschaftlichem Fortschritt, zu einem besseren und bequemeren Leben führen. Diente Technik in diesem Sinne also der Verbesserung menschlichen Lebens, so erschien nun aber „der Mensch“ selbst im Vergleich zur Technik in dieser fortschrittlichen Welt häufig als fehlerhaft. Die Rede vom „Störfaktor Mensch“ im technischen System versinnbildlicht dieses Konzept kurz und bündig. Besonders prominent wurde diese Figur im Kontext technischer Unfälle.
Der Vortrag widmet sich der Figur des „fehlerhaften Menschen“. Gezeigt werden soll, dass mit dem vor allem seit der Industrialisierung einsetzenden Vergleich von Mensch und Technik „der Mensch“ auf neue Art und Weise als fehlerhaft konzipiert wurde. Die Schwäche und Fehlerhaftigkeit der Menschen fiel zuerst in der Fabrik des 19. und des 20. Jahrhunderts auf. Die Argumentation findet sich seitdem in vielen weiteren technischen Bereichen, so im Flug- und Automobil-Verkehr, in der Medizin oder bei Entscheidungsprozessen.
Historisch betrachtet zeigt sich allerdings die Vielschichtigkeit des Prozesses: Je stärker technisiert wurde, desto ambivalenter wurde die Rolle der Menschen. Neben ihre Fehlerhaftigkeit offenbarten sich historisch immer wieder die Grenzen der Technik und führten dann jeweils zur positiven Neubewertung menschlicher Fähigkeiten. Gleichwohl handelt es sich bei der Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Menschen, so die Kernthese, um ein Konzept, dass die technische Kultur seit der Industrialisierung trotz aller Gegentendenzen nachhaltig prägte. Es beschreibt eine Grundkonfiguration der Moderne, die immer wieder an ihre eigenen Grenzen stieß: die Orientierung an Effizienz, Produktivität und dem reibungslosen Ablauf.
Ziel des Vortrags ist es erstens, die historische Entstehung dieser Figur des fehlerhaften Menschen im 19. und 20. Jahrhundert herausarbeiten; zweitens sollen die Ambivalenzen der Argumentation nachgezeichnet werden. Drittens gilt es, die Argumentation auf ihre technischen Parameter, die vermeintlich rationalen, vor allem aber ökonomisch inspirierten Prämissen hin zu befragen und sie im historischen Kontext zu betrachten
Heike Weber, Wuppertal:
Müll und Recycling: Der Glaube an das technische Schließen des „Kreislaufs“ der Stoffe seit dem späten 19. Jahrhundert
Seit dem späten 19. Jahrhundert ist das geregelte „Entsorgen“ von Abfällen ein festes Element der modernen Stadt und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der gesamten (westlichen) Gesellschaft. Verglichen mit den Fortschritten der Produktion, erfolgte die Professionalisierung und Technisierung des Abfallumgangs damit verzögert; der Entsorgungsbereich reagierte auf Entwicklungen wie steigende Abfallmengen oder Toxizität der Abfälle erst, als diese bereits als akute Problemlagen bestanden. Dennoch waltete auch in der Entsorgung ein starker Glaube an Technik, Fortschritt und Rationalität, der sich auf zweierlei Weise äußerte: Zum einen wurden Entsorgungs- und Recyclingverfahren des 20. Jahrhunderts wie Deponierung, Müllverbrennung und Kompostierung als „technological fix“ angepriesen, unkontrolliert wachsende Reste einer steigenden Produktion sowie Konsumtion problemlos beseitigen zu können. Zum anderen blieb die Abfallexpertise der Leitidee verhaftet, die so genannten Stoffkreisläufe „technisch“ schließen zu können: So wie die Natur organische Reste als Nährstoffe wieder aufnehme, so könnten Reststoffe ähnlich reibungslos mittels Recycling der Produktion als Rohstoffe wieder zugeführt werden.
Insbesondere diese – sich über weit als ein Jahrhundert haltende – Leitvision vom technischen Schließen der Stoffkreisläufe wurzelte stärker in Glaube und Hoffnung denn in Objektivität und Rationalität, und sie widersprach sehr bald zentralen Wissensbeständen des 20. Jahrhunderts: So führte jedes Recycling zu „Downcycling“-Effekten, d.h. zu Verlusten und einer Verminderung von Stoffqualitäten; und auch die Annahme, Abfall zersetze sich in der Deponie nach den Regeln des Komposthaufens, ließ sich bei genauerer Analyse der Zersetzungsprozesse nicht halten. Neben Glaube und Hoffnung, so wird der Vortrag zeigen, muss zur Erklärung der Entwicklung von Abfalltechniken außerdem ein Drittes hinzugezogen werden: die Dimension von Nichtwissen-Wollen und Ignoranz. Im Verbund mit der Hoffnung auf einen möglichst kostengünstigen „technological fix“ brachte letztere die Abfallexperten dazu, wider besseres Wissen heikle Lösungswege vorzuschlagen, die zu neuen Problemlagen führten.
Abstracts (English version)
Adelheid Voskuhl, Pennsylvania:
Engineering, Philosophy, and Belief in Progress in the Second Industrial Revolution
In the so-called „Second“ Industrial Revolution, German engineers emerged as a new professional group and tried to constitute themselves also as a social and cultural elite, which happened in fierce competition with traditional elites from the military, the nobility, and humanistically trained bourgeois mandarins. At the same time, engineers also became interested in in philosophy, using the novel subdiscipline of „philosophy of technology“ to grasp theoretically their technical and social agendas, and integrate and disseminate them. A group of engineers organized in an elite association of academically trained engineers tried in the association’s periodical to explicate and debate tensions that emerged between ideas of technological progress and social and economic decline. Doing so, such elite engineers also aimed to establish their credentials in the public sphere as political and cultural leaders. It is not uncommon to find in this period (and others) that beliefs in the good and the bad in technology are constantly intertwined in the constructions of social and technical theories, and that it is impossible for us to distinguish clearly how and where belief in progress and belief in decline of the industrial age were negotiated in consistent ways. This also held for engineers. It is particularly interesting to see how engineers were interested in the epistemology and political theory of canonical philosophers such as Kant, Fichte, Spinoza and Schopenhauer and tried, on this basis, to find a place for engineers in the existing (and rigid) social orders of the German Empire and the Weimar Republic. My paper focuses in particular on the role of engineers’ (and others’) imagination and invocation of pre-industrial landscapes and social orders in these negotiations of social upward mobility. I study the place of the “pre-industrial” in early philosophy of technology to differentiate belief in technology on the basis of the historicity of industrialization.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Progressive Thought after the End of Progress. The Social Dimension of Technological Progress in the 1920s and 1970s
The 1920s and the 1970s are commonly described as periods in which the idea of progress was widely doubted and criticized. For many contemporaries, industrialized mass killing in the First World War had destroyed the assumption that science and technology might induce a continuous upward development of humanity. Similarly, in the last third of the 20th Century, sociologists, philosophers and historians argued that the time regime of modernity had come to an end, destroying also the notion of progress. In both cases, the alleged death of progress had surprisingly little effect on scientific and technological elites. Whereas their conceptions of progress are commonly deemed as merely technological, distinguishing only sectoral progress from the all-encompassing visions of progress of the 19th Century, I will scrutinize if and in how far scientific and technological promises of progress continued to be connected to broader emancipatory visions. The paper will argue that the affirmation and the critique of progress should not be brought into diachronic sequence, distinguishing periods of progress from periods of decline. Rather, they should be understood as concurring modes of ordering historical time that have existed since the opening of the future around 1800 and continue to exist today.
Martina Heßler, Hamburg:
„Faulty Humans“ and Belief in the Superiority of Technology in the 20th Century
Belief in technology has always been accompanied by the idea of progress, and a better and more comfortable life. Improving human lives through technology was a great promise. However, in industrial cultures, humans themselves suddenly were regarded as faulty in relation to technology. The language of humans as „disruptive factors“ symbolizes this idea well. It is often used to identify causes of technical accidents.
This paper deals with the concept of „faulty humans“. It shows that, historically, humans were regarded as deficient at the very moment that they were compared to machines, i. e. since industrialization. The weakness and faultiness of humans first became conspicuous in the factory of the 19th century. Since then, the concept has been found in almost all spheres of life, such as automobile or air traffic control, medicine, and political and algorithmic decision-making.
Nevertheless, history is of course much more complex. The more technology permeated society, the more ambivalent the role of humans became. In the industrial age, and all the way to this, day, humans have been compared to technology and then characterized as faulty and problematic, for technology supposedly functions in smooth and frictionless ways. And yet the experience of technological constraints has also led to positive re-evaluation of human potential and capacities. This paper aims to show that the idea of humans as faulty constructions has been a highly relevant concept with great impact on Western societies since the industrialization. It is a fundamental element of modernity, which simultaneously produced its own limits by pushing industrial cultures’ limits towards efficiency, productivity and frictionless processes.
The paper aims, first, to show the historical formation of the concept of faulty humans. Second, it carves out the ambivalence of the argumentation and its historical change. Third, it contextualizes the discourse on faulty humans historically to make its technical and economical premises clear.
Heike Weber, Wuppertal:
Waste and Recycling since the Late 19th Century: The Faith into Closing Material Loops Through Disposal Technologies
Waste disposal techniques constitute a basic element of the modern city since the late 19th century, and they reached out to (western) societies as a whole over the second half of the 20th century. When compared to technological progress inside the sphere of production, the professionalization of waste disposal lagged behind, and it only reacted to e.g. rising waste amounts and the growing toxicity of waste once these processes already had turned into urgent problems. Nevertheless, also waste experts were driven by a strong believe for technology, progress and rationality: For one, disposal and recycling methods such as landfilling, incineration and composting were promoted as “technological fix” to solve the problem of wastes that were developing in uncontrolled ways in both, production and consumption. For another, waste experts believed in the idea that material flows could be technically channelled into closed loops: Just as nature metabolizes organic rests as valuable nutrients, wastes could be fed back into production without too much loss.
It is in particular this vision – dominanting for more than a century – that must be explained by the dimensions of faith and hope rather than by objectivity and rationality, and it soon came into conflict with 20th century scientific knowledge: For example, any recycling results in so called downcycling effects, namely loss and inferior material qualities. Likewise, the idea that landfilled waste would decompose along the lines of a compost heap did not withstand a closer scientific analysis of dumpsites. The presentation argues that, for the case of waste disposal, we need to consider a third dimension next to faith and hope to find a cost-effective “technological fix”, namely that of ignorance. The latter lead actors to propose disposal methods of which they must have known that they would lead to new problems.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(VHD) Informationsveranstaltung mit: -Torsten Fischer, DFG -Sybille Wüstemann,
Überblick
(VHD)
Informationsveranstaltung mit:
-Torsten Fischer, DFG
-Sybille Wüstemann, Gerda-Henkel-Stiftung
-Tina Rudersdorf, Max Weber-Stiftung
-Johanna Brumberg, Volkswagen-Stiftung
-Christa Engel, EU-Rahmenprogramm/EU-Förderung
-Christopher Wertz, BMBF-Förderung
-Nicola Staeck, Alexander von Humboldt-Stiftung
Moderation: Ulrike Ludwig, Dresden
Welche Förderinstrumente stehen jungen Historikerinnen und Historikern zur Verfügung, um eine Promotion oder ein Nachfolgeprojekt durchzuführen? Was muss ich bei der Antragstellung beachten? Welche Projekte werden grundsätzlich (nicht) gefördert? Wie sind die Chancen für die Bewilligung meines Projektes? Welche Voraussetzungen muss ich für eine Förderung mitbringen?
Diese und weitere Fragen werden von Vertreterinnen und Vertreter der DFG, der Gerda-Henkel-Stiftung, der Max Weber Stiftung, der Volkswagen-Stiftung, des BMBF/ Nationale Kontaktstelle Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Alexander-von-Humboldt-Stiftung durch eine kurze Vorstellung ihrer Institution und bei der sich anschließende Diskussion mit dem Publikum beantwortet.
Dieses Panel ist eine Informationsveranstaltung für Absolventen und Absolventinnen eines Geschichtsstudiums, die eine Promotion anstreben, sowie promovierte und habilitierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ein Postdoc-Projekt planen. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir keine Anträge im Detail besprechen können.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
Hörsaal B
Hauptgebäude
Überblick
VHD Gerda-Henkel-Stiftung Körber-Stiftung Podiumsdiskussion Moderation: Gerhard Gnauck, Warschau • Thomas
Überblick
VHD
Gerda-Henkel-Stiftung
Körber-Stiftung
Podiumsdiskussion
Moderation: Gerhard Gnauck, Warschau
• Thomas Mergel, Berlin
• Heidemarie Uhl, Wien
• Adam Krzeminski, Warschau
• Thomas Serrier, Frankfurt/ Oder
• Kiran Klaus Patel, Maastricht
• Karin Priester, Münster
Nicht nur in Europa geht das Gespenst des Populismus um. Dabei ist es nicht einfach, „Populismus“ zu definieren. Populismus kann auch als Kampfbegriff verwendet werden, um legitime Ansprüche in der Demokratie abzuwehren. Doch ist der Anspruch, das „wahre“ Volk zu vertreten, zu einer Signatur einer Reihe von Bewegungen geworden, welche die Zurückweisung repräsentativer Demokratie mit antipluralistischen Einstellungen verbinden. Dies macht den Kern von Populismus aus, der in der Podiumsdiskussion „Von Haider bis Brexit“ auch als Problem der Europäischen Union diskutiert werden soll, deren supranationale Ordnung von populistischen Bewegungen attackiert wird.
Das international besetzte Podium nimmt sich dieses Themas auf dem 51. Deutschen Historikertag in Kooperation mit der Veranstaltungsreihe „History@Debate“ an. „History@Debate“ wird von der Gerda Henkel Stiftung und der Körber-Stiftung durchführt.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal A
Hauptgebäude
Überblick
(Heike Bungert, Münster) Jana Weiß, Wisconsin-Madison: »Celebrating
Überblick
(Heike Bungert, Münster)
Jana Weiß, Wisconsin-Madison:
»Celebrating One Nation Under God«: Feiertage als zivilreligiöse Inklusionsinstrumente
Heike Bungert, Münster:
Zwischen Integration und Legitimation: Zivilreligion in Inaugurationen US-amerikanischer Präsidenten
Ulrike Stedtnitz, Münster:
Die »City on a Hill« als »City of Refuge«: Zivilreligion in der evangelikalen Debatte um Flüchtlings- und Einwanderungspolitik in den USA
Rolf Schieder, Berlin:
Zivilreligiöse Rituale in Deutschland: Leisten sie einen Beitrag zur Integration?
Abstracts (scroll down for English version):
Gerade im Kontext der gegenwärtigen Flüchtlingskrise scheint die Frage nach dem Zusammenhalt des Staates und damit auch nach dem „Glauben“ an die Mission der eigenen Nation hoch aktuell. In der amerikanischen Sozialwissenschaft werden die enge Verbindung von Religion und Politik und der Glaube an die US-amerikanischen Werte seit Robert Bellahs einflussreichem Aufsatz von 1967 unter dem Begriff der Zivilreligion gefasst, als „a genuine apprehension of universal and transcendent religious reality (…) revealed through the experience of the American people“. Zivilreligion verbindet Bürger und Gesellschaft mit einem transzendenten Referenzpunkt, verleiht dem politischen Leben der Gemeinschaft sakrale Bedeutung und stiftet Einheit. Während zivilreligiöse Vorstellungen durch ihre religiöse Interpretation der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Einzelnen in die heterogene, konstruierte US-amerikanische Gemeinschaft integrieren können, sind sie zugleich Ausdruck zeitbedingter Kontexte und können die jeweilige politische Agenda legitimieren. Darüber hinaus kann Zivilreligion eine kritisch-prophetische Funktion erfüllen, indem sie moralische Normen vorgibt und eine spezifische Verantwortung von US-Amerikanern als Gottes auserwähltes Volk voraussetzt. Die Sektion fragt danach, welche Möglichkeiten und Grenzen das Konzept von Zivilreligion birgt. Ziel ist es, die internationale, interdisziplinäre Diskussion über Zivilreligion anhand von Vorträgen von Historikerinnen und Theologen einem deutschen Publikum vorzustellen. Einerseits wird das jeweilige Konzept von Zivilreligion in allen Vorträgen dargelegt bzw. eingeordnet, sowohl für die Geschichtswissenschaften, für welche insbesondere die Fluidität des Konzepts wichtig ist, als auch für die Religion(spolitik) in zunehmend multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften. Andererseits werden Akteure, Praktiken und Funktionsweisen von Zivilreligion in Fallbeispielen aus den USA und Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert untersucht.
Jana Weiß, Wisconsin-Madison:
»Celebrating One Nation Under God«: Feiertage als zivilreligiöse Inklusionsinstrumente
Die US-amerikanische Zivilreligion manifestiert sich insbesondere an nationalen Feiertagen wie dem Independence Day, dem ältesten Feiertag in Gedenken an die Gründung der Nation am 4. Juli 1776, und dem Memorial Day, dem Feiertag, der dem Gedenken an die Kriegsgefallenen seit dem Bürgerkrieg (1861-1865) dient. Als fester Bestandteil der zivilreligiösen Liturgie werden die Feiertage jährlich zu öffentlichen Schauplätzen, an denen zivilreligiöse Vorstellungen in Ritualen aktiviert, die nationale Identität und Mission bekräftigt, die Einheit der Nation heraufbeschworen und tagespolitische Entwicklungen debattiert, aber auch legitimiert werden.
Insbesondere in Kriegszeiten nutzen US-amerikanische Politiker eine zivilreligiöse Deutungsbrille, welche die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Nation in einen transzendenten Sinnzusammenhang setzt und die Nation „under God“ vereinen soll. Dabei behandelt der Vortrag die Nutzung der Feiertage als Inklusionsinstrumente im Zuge des Kalten Kriegs, insbesondere während des Vietnamkriegs, der einen historischen Einschnitt markiert.
Exemplarisch für die Spaltung der Nation wird die Friedensbewegung untersucht, die einerseits den Gebrauch zivilreligiöser Symbole durch das politische Establishment kritisierte, andererseits die gleichen Symbole für sich selbst reklamierte und diese umdeutete, um den Kriegseinsatz zu delegitimieren.
Der kritische Diskurs an den Feiertagen über die Bedeutung und das Inklusionspotenzial der Zivilreligion zeigt, dass diese an die jeweiligen historischen Umstände und das Selbstverständnis der Nation sowie verschiedener Gruppierungen innerhalb dieser angepasst werden kann. Dementsprechend kann Zivilreligion die Gesellschaft integrieren, muss dies aber nicht zwangsläufig mit mehrheitlich-konsensfähigen Inhalten tun.
Heike Bungert, Münster:
Zwischen Integration und Legitimation: Zivilreligion in Inaugurationen US-amerikanischer Präsidenten
Amtseinführungen US-amerikanischer Präsidenten sind eines der wichtigsten Rituale der US-amerikanischen Zivilreligion. Sie haben drei Funktionen: Die Macht in einer Demokratie friedlich zu übertragen, dem neu gewählten Präsident und seinem politischen Programm Legitimität zu verleihen und nach einem harten Wahlkampf die Nation wieder zu einen. Für all diese drei Funktionen ist Zivilreligion notwendig.
Nach einer kurzen Einleitung zu Zivilreligion und den Funktionen wird der Vortrag zivilreligiöse Elemente in den einzelnen Teilen von Inaugurationen untersuchen, von den Vorfeiern über die Gebete und Gottesdienste bis hin zu den Inaugurationsreden, gemeinsamen Mahlzeiten, Paraden und Bällen. Hier werden einerseits Tradition, andererseits Unterschiede und Regenerationen im Laufe der Zeit und durch verschiedene Präsidenten analysiert. Auch die Nutzung zivilreligiöser Aspekte durch Demonstranten bei einzelnen Inaugurationen wird eine Rolle spielen.
Ulrike Stedtnitz, Münster:
Die »City on a Hill« als »City of Refuge«: Zivilreligion in der evangelikalen Debatte um Flüchtlings- und Einwanderungspolitik in den USA
In einem offenen Brief an Präsident Obama sowie an die Abgeordneten des amerikanischen Kongresses vom 1. Oktober 2015 forderte eine Gruppe bekannter evangelikaler Christen die Erhöhung der Aufnahmequoten von Flüchtlingen in die USA. Samuel Rodriguez, Präsident der größten Organisation latino-evangelikaler Christen (National Hispanic Christian Leadership Conference), appellierte an die „‚city on a hill’ to shine the light of compassion once again“. José Garcia von Bread for the World forderte: „As a nation ‚under God’ we have the faith and moral imperative to become the hands and heart of God by reaching out and welcoming the stranger.“ US-amerikanische Christen greifen in der aktuellen Flüchtlingsdebatte – wie schon in vergangenen Debatten um die Aufnahme von Flüchtlingen, zum Beispiel aus Vietnam – auf das korrektive Element der prophetischen Funktion von Zivilreligion zurück. Sie appellieren an Werte, die sich aus einer besonderen Verantwortung und Mission des Landes ergeben und kritisieren auf dieser Grundlage empfundene gesellschaftliche Missstände. Dieser Sektionsbeitrag soll danach fragen, wie amerikanische evangelikale Christen in aktuellen und vergangenen Debatten zur Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik den US-amerikanischen Staat imaginierten: An welche Werte appellierten sie, wenn sie auch in den eigenen Reihen um die Aufnahme von Flüchtlingen warben oder das Bleiberecht nicht dokumentierter Einwanderer diskutierten? Und wie stellten sie die Flüchtlinge und Einwanderer dar – zwischen Gesetzesbrechern und idealen Staatsbürgern? Welche Rückschlüsse lassen diese frames über den evangelikalen Glauben an die amerikanische Nation zu?
Rolf Schieder, Berlin:
Zivilreligiöse Rituale in Deutschland: Leisten sie einen Beitrag zur Integration?
Eine strikte Trennung von Staat und Kirche gibt es in Deutschland nicht. Auch nach der Wiedervereinigung setzt Deutschland auf ein Modell der Kooperation des Staates mit den Religionsgemeinschaften. Das wird im Blick auf das enorme Engagement des Staates bei der religiösen Bildung seiner heranwachsenden Bürgerinnen und Bürger evident. Alle Parteien des deutschen Bundestages befürworten die Einrichtung eines eigenen islamischen Religionsunterrichtes mit dem Ziel, durch eine enge Kooperation mit den islamischen Verbänden die Integration heranwachsender junger Muslime zu fördern.
Aber nicht nur auf Gebiet der religiösen Bildung setzt der Staat auf die Kooperation mit den Religionsgemeinschaften – auch bei Inszenierung zivilreligiöser Rituale kooperieren deutsche staatliche Behörden eng mit den Religionsgemeinschaften. Bei Katastrophen, die das Gemeinwesen in seinen Grundwerten erschüttern, finden seit einigen Jahren nicht nur „Staatsakte“ statt, bei denen man sich der gemeinsamen Grundlagen versichert, vielmehr geht dem Staatsakt immer ein Gottesdienst am gleichen Ort voraus, so dass Staatsakt und Gottesdienst entweder in einer protestantischen oder einer katholischen Kirche mit besonderer Strahlkraft stattfinden – ein Vorgang, der etwa in Frankreich undenkbar wäre. Am Beispiel des Staatsaktes (und des diesem vorausgehenden Gottesdienstes) im Kölner Dom am 17. April 2015 anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Absturzes einer Germanwings-Maschine soll der besondere Charakter zivilreligiöser Rituale in Deutschland erhoben werden und die Frage nach der Integrationsfähigkeit dieser Rituale angesichts zunehmender religiöser Pluralisierung in Deutschland gestellt werden.
Abstracts (English version):
In the context of the present refugee crisis the question of the cohesion of society and hence of “faith” in the mission of one’s own nation seem particularly relevant. Since Robert Bellah’s influential 1967 essay, U.S. social scientists have summarized the close connection between religion and politics as well as the faith in American values in the term civil religion, meaning “a genuine apprehension of universal and transcendent religious reality (…) revealed through the experience of the American people”. Civil religion links citizens and society to a transcendent reference point, confers sacral meaning to the political life of the community and creates unity among the different members of society. While civil religious beliefs in general are able to integrate the individual into the heterogeneous, constructed U.S.-American society by their religious interpretation of the past, present, and future, they are also an expression of the context of the time and thus are able to legitimate political agendas. Moreover, civil religion can serve a critical-prophetic function by defining moral norms and by assuming a specific responsibility for U.S. Americans as God’s chosen people.
This section analyzes the possibilities and limitations of the concept of civil religion. Its goal is to present the international, interdisciplinary discussion about civil religion to a German audience via papers by historians and theologians. On the one hand, the concept of civil religion will be explained and defined in all papers, both for historians, for whom the fluidity of the concept is of particular importance, and for religion (and religious policies) in increasingly multicultural and multi-religious societies. On the other hand, agents, practices and modes of operation of civil religion will be analyzed in case studies from the United States and Germany in the 20th century.
Jana Weiß, Wisconsin-Madison:
‚Celebrating One Nation Under God‘: Holidays as Civil Religious Instruments of Inclusion
U.S. American civil religion especially manifests itself on national holidays such as Independence Day, the oldest holiday in commemoration of the founding of the nation on July 4, 1776, and Memorial Day, the holiday which is to remember the fallen soldiers since the Civil War (1860-1865). As part of the civil religious liturgy, these holidays are public arenas where civil religious beliefs and rituals are activated, and in turn, the national identity and mission are affirmed, the unity of the nation evoked and political agendas discussed, but also legitimized.
Especially in times of war, U.S.-American politicians use a civil religious interpretation to contextualize the past, present and future of the nation within a transcendent framework in order to unify the nation “under God”. Hence, this paper will address the use of holidays as civil religious instruments of inclusion during the Cold War, in particular the Vietnam War which marked a historic turning point. On the one hand, the peace movement (as an example for the division of the nation) criticized the government for its use of civil religious symbolism. On the other hand, it used the same civil religious symbols and reinterpreted them in order to delegitimize the war.
Overall, the critical discourse on the meaning and inclusive potential of U.S.-American civil religion shows that civil religion can be adapted to the changing historical circumstances and the nation’s self-perception as well as adjusted by different groups within the nation. Accordingly, civil religion can unite society but not necessarily with generally agreed-upon agendas.
Heike Bungert, Münster:
Between Integration and Legitimation: Civil Religion in Inaugurations of U.S. Presidents
Inaugurations of U.S. presidents are one of the most important rituals in U.S. civil religion. They serve three functions: To transfer power peacefully in a democracy, to bestow legitimacy on the newly elected president and his political program, and to unify the nation after a controversial election campaign. Civil religion is necessary for all three aspects.
After a short introduction on civil religion and its functions, the paper will look at civil religious elements in the individual parts of inaugurations, from the pre-inaugural celebrations via the prayers and services to the inaugural addresses, the joint dinners, parades, and inaugural balls. On the one hand, the talk will analyze the maintenance of traditions, on the other hand, it will address changes and regenerations over the course of time and different presidents. The use of civil religious aspects by protesters at individual inaugurations will also be investigated.
Ulrike Stedtnitz, Münster:
The ‘City on a Hill’ as a ‘City of Refuge’: Civil Religion in the Evangelical Debate on Immigration and Refugee Policy in the United States
In October 2015, a group of well-known evangelical leaders penned an open letter to President Obama and members of the U.S. Congress. They asked the Obama administration and Congress to increase significantly the number of refugees to be admitted in the next fiscal year. Samuel Rodriguez, president of the largest Hispanic evangelical organization (National Hispanic Christian Leadership Conference) called on the “‘city on a hill’ to shine the light of compassion once again.” José Garcia of Bread for the World urged: “As a nation ‘under God’ we have the faith and moral imperative to become the hands and hearts of God by reaching out and welcoming the stranger.” In the current debate on refugee admissions, evangelical leaders are using the corrective element of the prophetic function of civil religion. They invoke values derived from a special responsibility and mission of the country, and on this basis criticize perceived social injustices – a practice that goes back to previous refugee crises, such as the Southeast Asian refugee crisis in the 1970s and 1980s.
This talk probes the question how U.S. evangelical Christians have imagined the American nation in current and past debates on immigration and refugee policy. Which values did they invoke when they recruited refugee sponsors among their own congregants or when they discussed pathways to citizenship for undocumented immigrants in their churches? How did they frame refugees and undocumented immigrants – between lawbreakers and ideal Americans? And what do these frames tell us about the evangelical faith in the American nation?
Rolf Schieder, Berlin:
Civil Religious Rituals in Germany: Do They Contribute to Integration?
In Germany, there is no strict separation of church and state. Even after reunification, Germany opted for a model of cooperation between the state and religious communities. This becomes evident in view of the immense involvement of the state in the religious education of its adolescent citizens. All parties of the German Bundestag support the implementation of separate Islamic religious education by means of a close cooperation with the Islamic organizations with the aim of encouraging the integration of young adolescent Muslims.
However, not only in the field of religious education does the state opt for cooperation with religious communities – even in the enactment of civil religious rituals, German governing authorities cooperate closely with religious communities. In case of disasters which shake the fundamental values of the community, for the past few years, not only state ceremonies have taken place, in which shared basic values are reaffirmed; these ceremonies are always preceded by a religious service in the same place, so that state ceremony and religious service are celebrated either in a Protestant or a Catholic church with an exceptional charisma – a procedure, which, for instance, would be unthinkable in France.
Using the example of the state ceremony (and the religious service preceding it) in the Cologne Cathedral on April 17, 2015, in commemoration of the victims of a Germanwings plane crash, the special character of civil-religious rituals in Germany will be analyzed and the ability of these rituals to integrate will be explored in light of an increasingly religious pluralization in Germany.
Überblick
(Harriet Rudolph, Regensburg) Harriet Rudolph, Regensburg: Viktimisierung
Überblick
(Harriet Rudolph, Regensburg)
Harriet Rudolph, Regensburg:
Viktimisierung als interdisziplinäres Forschungskonzept
Norman Housley, Leicester:
Opfer der Gewalt als politisches Argument im spätmittelalterlichen Kreuzzugsdiskurs
Margit Kern, Hamburg:
Entangled Histories. Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
Joanna Simonow, Zürich:
Die mediale Inszenierung indischer Hungersnotleidender in politischen und humanitären Diskursen der 1940er Jahre
Ger Duijzings, Regensburg:
Viktimisierung im Kontext der militärischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien im 20. Jahrhundert
Abstracts (scroll down for English version):
Harriet Rudolph, Regensburg:
Viktimisierung als interdisziplinäres Forschungskonzept
In den medialen Diskursen der Gegenwart sind Opfernarrative und Opferbilder allgegenwärtig: Opfer von Krieg, Hunger, Terror, Kriminalität, sozialer Diskriminierung, politischer und religiöser Verfolgung prägen die Berichterstattung in starkem Maße. Sie können als Elemente von Prozessen der Fremd- und Selbstzuschreibung begriffen werden, die mit Blick auf ihre Eigendynamik, ihre Entstehungskontexte und ihre Rückbezüge auf tradierte Opferimaginationen (sacrificium/victima) bislang unzureichend untersucht worden sind. Im Gegensatz zum Begriff „Opfer“ betont das Konzept der Viktimisierung das Prozesshafte der Vorgänge, durch die Opferschaft im Empfinden der Betroffenen selbst, aber auch von Institutionen und Öffentlichkeit hergestellt wird. Entscheidend für die Analyse von Viktimisierung ist damit weniger ein dem Opfersein – tatsächlich oder vermeintlich – zugrundeliegender Akt der Gewalt als vielmehr dessen Deutung durch die geschädigten Individuen und deren Umwelt. Der Beitrag plädiert zudem dafür, den Opferbegriff im Rahmen der Analyse von Viktimisierungsprozessen seiner aktuell stark moralisierenden Bedeutungsdimensionen zu entledigen: Opfer sind weder per se unschuldig, ohnmächtig, bedauernswert, moralisch überlegen oder benachteiligt. Historiker und Historikerinnen können nicht das Opfersein als eine existentielle, als solche kaum historisierbare Erfahrung untersuchen. Sie können jedoch histories of victimhood (Jensen/Ronsbo 2014) im Sinne des Sprechens über, des Erinnerns an und des sozialen Aushandelns von Opfervorstellungen innerhalb einer oder auch zwischen Generationen, Gesellschaften und Kulturen erarbeiten und dabei gängige Deutungsmuster wie die „Säkularisierung/Resakralisierung“ oder „Nationalisierung/ Globalisierung“ des Opfers in der Neuzeit hinterfragen. Sie können die politics of victimhood (Jeffery/Candea 2006), verstanden als in bestimmten Kontexten präferierte Handlungsmuster politischer Eliten im Umgang mit Opferschaft, analysieren und dies ohne Rücksicht auf politisch gewünschte Deutungen.
Norman Housley, Leicester:
Opfer der Gewalt als politisches Argument im spätmittelalterlichen Kreuzzugsdiskurs
Seit dem ersten Kreuzzug waren die Brutalität der Feinde Christi, und das Leid, das diese über unschuldige Menschen brachten, Themen von zentraler Bedeutung in den Kreuzzugspredigten. Sie harmonierten nicht nur perfekt mit der auf das Martyrium Christie bezogenen Andacht, welche die crucesignati motivieren sollte, sondern auch mit den Werten der christlichen Nächstenliebe sowie mit der feudalen Lehensverpflichtung als weiteren Predigtinhalten, mit welchen die Kreuzzugsprediger erfolgreich auf die Vorstellungskraft einer kämpfenden Elite Europas einwirkten. Das Opfertum, und die hochgradig emotionalen Reaktionen, welche seine Darstellung in Bild und Text bei den Rezipienten zeitigen konnte, förderten nicht nur die Bereitschaft zum Selbstopfer, sondern auch zu Vergeltung und Blutvergießen. Im 15. Jahrhundert war die Bevölkerung Europas keineswegs immun gegenüber solcher Rhetorik der Gewalt. Wie schon ihre Vorfahren konnte auch sie durch anschauliche Berichte über grausame Gewalttaten zu Zorn und Trauer bewegt werden, auch wenn ihre Reaktion auf solche Nachrichten nun meist in Geldspenden und nicht mehr in einer persönlichen Dienstverpflichtung bestand. Dabei waren es vor allem drei Gruppen, die man als Feinde des Glaubensbegriff. Die wichtigste Gruppe verkörperten die osmanischen Türken, deren sprichwörtliche und systematische Grausamkeit eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Türkenbildes in Zentral- und Osteuropa spielte. Zweitens wurden die in das Deutschordensgebiet einfallenden Russen durch Vertreter dieses Ordens als nicht weniger brutal dargestellt. Und schließlich wurde das durch die hussitischen „Häretiker“ verursachte Leid der böhmischen und deutschen Katholiken in Texten und Bildern dargestellt, welche den Versuch einer gewaltsamen Unterdrückung der Hussiten durch die Kirche zwischen 1420 und 1431 legitimieren sollte. Das Fortwirken der Kreuzzugsidee im 15. Jahrhundert führte im frühneuzeitlichen Europa zu einem wirkmächtigen Vermächtnis von Opferschaft, auch wenn dessen Bedeutungsgehalte vielfältiger waren als jene früherer Kreuzzüge.
Margit Kern, Hamburg:
Entangled Histories. Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
Die Berichte von Menschenopfern bei den Mexica erregten von Anfang an große Aufmerksamkeit in Europa. Die im 16. Jahrhundert in diesem Zusammenhang erzeugten Fremdbilder indigener Gewalt erscheinen als eine regelrechte Obsession, die bis heute im kulturellen Gedächtnis nachwirkt. Eine eingehendere Betrachtung der Quellen offenbart jedoch, dass dieses Faszinosum auch deshalb so große Anziehungskraft entwickeln konnte, weil die Bilder aus der „Neuen Welt“ eine Eindeutigkeit in der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt versprachen, die in der Gewalterfahrung der Religionskriege des 16. beziehungsweise 17. Jahrhunderts in Europa nicht immer so leicht herzustellen war, weder im Alltag noch in der medialen Aufbereitung des Tötens in Flugschriften und illustrierten Einblattdrucken. Den Wandel vom religiös legitimierten (sacrificium) und zum illegitimen Opfer (victima) diskutierten bereits antike Quellen, die im 16. Jahrhundert intensiv aufbereitet wurden. Im Zentrum des Vortrags soll ein prominentes Beispiel stehen: das gesteigerte Interesse der Zeit an antiken Gladiatoren als eine Form von antikem Menschenopfer mit religiöser Funktion, wobei ein Verlust an religiöser Sinnstiftung – die Entwicklung hin zum banalen, öffentlichkeitswirksam als Spektakel inszenierten Morden – bereits in der Antike zu beobachten ist. Die eingehende Untersuchung von frühneuzeitlichen Texten sowie Bildquellen dokumentiert, dass die intensive Beschäftigung mit antiken Gladiatoren Teil eines transkulturellen Aushandlungsprozesses war. Die Antike diente als Vergleichsort, um die Erfahrungen in den Kolonien zu reflektieren. Antike Imaginationen ermöglichten die Abgrenzung vom amerikanischen Anderen und offenbarten doch gerade indirekt in ihrer transkulturellen Reformulierung die Existenz einer Verflechtungsgeschichte zwischen Amerika und Europa. Diese Verflechtung rief ein Bewusstsein von Nähe und Vergleichbarkeit der Gewaltkonzepte hervor, das anschließend wieder unterdrückt und marginalisiert werden musste.
Joanna Simonow, Zürich:
Die mediale Inszenierung indischer Hungersnotleidender in politischen und humanitären Diskursen der 1940er Jahre
Der Vortrag widmet sich der Analyse von Darstellungen des Hungers in Indien in den 1940er Jahren, die unter Gebrauch verschiedener Medienformen und -arten in und ausserhalb Indiens produziert und verbreitet wurden. Der Großteil dieser ‚Zeugnisse‘ entstand im Zusammenhang der bengalischen Hungersnot von 1943, in deren tragischem Verlauf Millionen von Menschen durch Hunger und Krankheit ihr Leben verloren. Anhand einer vergleichenden Analyse zielt der Vortrag darauf ab, Formen und Funktionen der Darstellung von Opferschaft zu erörtern und somit den Gebrauch visueller und verbaler Bilder des ‚indischen Hungers‘ im Nexus politischer und humanitärer Diskurse zu besprechen. In der politisch angespannten Lage der 1940er Jahre avancierte der Hunger in Indien zum Politikum: Durch die Erstarkung der indischen Nationalbewegung und der zunehmenden Ausbreitung des Faschismus befand sich das British Empire an gleich mehreren Fronten ‚im Krieg‘. Obgleich England und die Sowjetunion Alliierte im Kampf gegen das faschistische Deutschland waren, sah sich ersteres weiterhin bedroht durch die wachsende Einflusssphäre des Bolschewismus: Durch ihre offizielle Kriegsunterstützung nach 1941 war es den kommunistischen Parteien Englands (CPGB) und Indiens (CPI) möglich ein grösseres Publikum zu erreichen und, auf diese Weise, das Ziel einer antiimperialen Revolution weiterhin zu verfolgen. Trotz der wirksamen Pressezensur durch die britische Regierung gelang es engagierten Einzelpersonen sowie sozialen und politischen Gruppen, auf die Not in Indien aufmerksam zu machen, Spenden zu akquirieren und das politische Establishment anzuklagen. Der Vortrag richtet seinen Blick auf eine Auswahl dieser Akteure, die an der medialen Inszenierung des Hungers beteiligt waren und diskutiert die öffentliche Ausgestaltung der ‚Opferschaft‘ der von Hunger betroffenen Bevölkerung. Durch Bezugnahme auf visuelle Darstellungen des Hungers in anderen regionalen und historischen Kontexten soll darüber hinaus eine versuchsweise Einordnung der Darstellungsformen und Funktionen indischer Hungersnot in einen überregionalen und transepochalen Kontext erfolgen.
Ger Duijzings, Regensburg:
Viktimisierung im Kontext der militärischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien im 20. Jahrhundert
Der Beitrag diskutiert die starken Traditionen von Viktimisierungsnarrativen im serbischen Nationalismus mit seinen vielfältigen Rückbezügen auf die Schlacht auf dem Amselfeld (1389) und den Völkermord durch die ultranationalistische Ustasha gegen die serbische Bevölkerung im unabhängigen Staat Kroatien im Zweiten Weltkrieg. Opfererzählungen mit Bezug auf das Amselfeld wurden zunächst durch die serbische orthodoxe Kirche kultiviert, welche sich selbst seit dieser Zeit als leidende Kirche begriff. Im 19. Jahrhundert wurde dieses religiös definierte Leiden in einen aufkommenden serbischen Nationalismus integriert, welcher die anhaltende Viktimisierung Serbiens als Nation zu einer Schlüsselidee der eigenen Selbstbeschreibung erhob. Sie bildete die ideologische Grundlage eines Programms der territorialen Expansion und der nationalen „Wiederherstellung“ Serbiens im serbischen Befreiungskampf, der als Vergeltung für den Verlust des Kosovo und als Wiederauferstehung des mittelalterlichen serbischen Reiches verstanden werden sollte. Der Beitrag spürt den ideologischen und politischen Aktualisierungen und Reenactments der Idee der „Serben als ewige Opfer“ während der Kriege des 20. Jahrhunderts (Balkankriege, Erster und Zweiter Weltkrieg) nach. Der Hauptteil beschäftigt sich jedoch mit den neuesten Versionen des Kosovo Mythos während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren. Er analysiert die wirkmächtigen lokalen Versionen des serbischen religiösen Nationalismus, welche in der Serbischen Republik in Bosnien als ideologische Grundlage für Akte der Vergeltung, so beim Massaker von Srebrenica (1995), gegenüber der muslimischen Bevölkerung dienten. In Anlehnung an Michael Fischers Terminologie in Bezug auf den Kerbela Mythos im schiitischen Islam charakterisiere ich General Mladics Appell eine siegreiche Armee zu schaffen, den er in einer Rede einige Tage vor diesem Massaker äußerte, als Beispiel für die Vorstellung eines „Amselfeld in the active mood“: als Aufruf historisches Unrecht zu korrigieren, den degradierenden Status des Opfers abzuschütteln und den Muslimen eine „Endlösung“ aufzuzwingen, die den Serben gleichermaßen „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ und „Wiedergutmachung“ bringen sollte.
Abstracts (English Version):
Harriet Rudolph, Regensburg:
Victimization as a Research Concept in Historiography
In current mass media, the victim is omnipresent. We are confronted by narratives and images of victims of war, starvation, terror, crime, social discrimination, and political as well as religious persecution. They represent elements of victimization processes that historians have so far not sufficiently investigated with regard to their media-related dynamics, their historical context and their references to older imaginations of the victim (sacrificium/victima). In contrast to the term ‘victim’, the concept of ‘victimization’ emphasizes that victimhood might be considered the result of complex attribution processes in which victims, institutions or else the public in general participate in various ways. If we analyse processes of victimization, we should not only look at violent acts which may have been understood as the origin of victimization but also concentrate on perceptions and interpretations of the respective individuals and their surroundings. In my lecture, I argue that we should discard moral and emotional semantics of the term ‘victim’ while researching victimization. We should not consider victims innocent, powerless, pitiable, or else morally superior human beings. In addition, they do not necessarily belong to underprivileged minorities. Historians are hardly able to investigate victimhood as an existential experience. However, they may trace and compare histories of victimhood (Jensen/Ronsbo 2014). They may examine how people spoke about victims, how people remembered experiences of victimhood, and how generations and societies tried to negotiate imaginations and roles of the victim in the past. At the same time historians should question interpretive patterns such as the secularization/resacralization or else the nationalization/globalization of the victim in modern times. Historians should also explore the politics of victimhood (Jeffery/Candea 2006): the preferred strategies of political elites in dealing with victimhood at a certain time. In doing so, they should certainly not make allowances for any interpretation which may either be favoured or considered inexpressible by representatives of mass media and politics.
Norman Housley, Leicester:
Victims of violence in the discourse of crusading, c. 1400-1500
From the First Crusade onwards the brutality of the enemies of Christ, and the suffering which they inflicted on the innocent and vulnerable, were themes of central significance in the preaching of crusades. They harmonized perfectly with the Christological devotion which motivated crucesignati, as well as with the values of Christian charity (caritas) and feudal obligation which enabled crusade preachers to capture the imagination of Europe’s fighting elite. Victimhood, and the heightened emotional response which its depiction could generate, gave rise not just to self-sacrifice but also to darker expressions including vengeance and blood lust. The inhabitants of fifteenth-century Europe were not immune to such rhetoric. Like their ancestors they could be moved to anger and sorrow by accounts of atrocities, even if their response more often took the shape of financial donations than of personal service. The enemies of the faith fell principally into three groups. The main group was of course the Ottoman Turks, and their proverbial and systematic cruelty played a substantial part in the formation of their image in Central and Eastern Europe. Secondly, the invading Russians were depicted by the Teutonic Order in Prussia and Livonia as no less brutal than the Turks. Lastly, the sufferings of Czech and German Catholics at the hands of the Hussite heretics were depicted in graphic terms in the course of the Church’s attempt to suppress the Hussites by force between 1420 and 1431. The prolongation of crusading into the fifteenth century bequeathed to early modern Europe a potent legacy in terms of victimhood, albeit one that was more diverse than that of the earlier period of crusading.
Margit Kern, Hamburg:
Entangled Histories: Transcultural Imaginations of Ssacrifice and Victimhood in the Early Modern Reception of Antiquity
From the outset, reports of human sacrifice among the Mexica were a source of fascination in Europe. The images of the “other” that were produced in this connection during the 16th century appear to be a veritable obsession that has survived to this day in Europe’s cultural memory. Yet closer perusal of the sources reveals that the topic owed part of its appeal to the fact that the images from the ‘New World’ offered a clear distinction between legitimate and illegitimate violence – one not so readily found in perceptions of violence during the religious wars in 16th- and 17th-century Europe, whether in everyday life or in the images of killing published in pamphlets and illustrated broadsheets. The shift from religiously legitimised sacrifice to illegitimate victimhood had been debated in ancient sources that were closely studied in the 16th century. The lecture will focus on one prominent example: the increased interest at the time in ancient gladiators as a form of ancient human sacrifice with a religious function, in which a loss of religious meaning and a shift towards killing staged as crude public spectacle could already be observed in antiquity. Careful study of early modern texts and pictorial sources shows that this close interest in ancient gladiators was part of a transcultural negotiation process. Antiquity provided a point of comparison for reflecting on experiences in the colonies. Ancient imaginations allowed a demarcation with the American ‘other’; and yet, indirectly, their transcultural reformulation revealed the existence of historical entanglements between America and Europe. These entanglements created an awareness of closeness and similarity between the concepts of violence – which then had to be suppressed and marginalised once more.
Joanna Simonow, Zürich:
Framing the ‘Indian victim of hunger and starvation’ in political and humanitarian discourses of the 1940s
The paper explores verbal and visual images of hunger and starvation in India in the 1940s, which were produced and disseminated in different media types in- and outside of India. Most of these depictions were created during and after the Bengal famine of 1943 which induced severe human suffering and, ultimately, led to the death of millions. Comparing the varying forms and functions attached to depictions of victimhood in this particular context, the paper sheds light on the extent to which images of famine-affected populations were embedded into political and humanitarian discourses. In the politically charged context of the 1940s, famine in India evolved as an issue of political contention and as a palpable instrument in the hands of the Raj’s enemies. With the acceleration of Indian demands of national self-determination and the global expansion of fascism, the British Empire saw itself ‘at war’ on multiple fronts. Although Britain and the Soviet Union were allied in the battle against fascist Germany, the perceived threat of an expanding Bolshevist sphere of influence remained: Declaring their support of the British war effort after 1941, the Communist Party of Great Britain (CPBG) and India (CPI) could reach out to a wider audience and, hence, continue to aim for an anti-imperialist revolution. Notwithstanding British press censorship that severely limited the reach and form of information about the crisis, a diverse set of social and political groups exploited verbal and visual accounts of the ravaging famine to solicit donations and to incriminate the government. The paper will highlight the contribution of a selected number of these actors who participated in the staging of famine in India and, thereby, in the construction of notions of victimhood. Building upon visual depictions of hunger in other regional and historical contexts, the paper will further attempt to place the forms and functions evident in the depictions of Indian famine within a larger transregional and trans-epochal perspective.
Ger Duijzings, Regensburg:
Victimization Narratives in the Context of Military Conflicts in the Former Yugoslavia in the Twentieth Century
This paper will discuss the strong tradition of victimization narratives in Serbian nationalism, with its references to the Kosovo Battle (which Serb forces lost against the Ottoman armies in 1389) and the genocide committed by the ultranationalist (Croatian) Ustashe against the Serbian population in the Independent State of Croatia during World War Two. The victimization narratives related to the lost Kosovo Battle were initially cultivated in the Serbian Orthodox Church, which saw itself ever since as a suffering church. In the nineteenth century, this religiously defined suffering was integrated into an emerging Serbian nationalism, which proclaimed the continuous victimization of the Serbs as a nation into a key ideological premise. It was harnessed to a program of territorial expansion and recovery, providing the ideological underpinnings of Serbia’s liberation struggle, that is, the revenge for Kosovo’s loss and the resurrection of the medieval Serbian empire. The paper will trace the ideological and political reactivations and re-enactments of the ‘Serbs-as-eternal-victims’ idea during the wars of the twentieth century (the Balkan Wars, and the First and Second World War). The main part of the paper, however, will focus on the recent permutations of the Kosovo Myth during the Wars of Yugoslav Succession, analyzing particularly the powerful ‘local’ version of Serbian religious nationalism that emerged in the Republika Srpska (the Serbian Republic in Bosnia) which offered fertile ideological ground, moral justification and (church) legitimacy to acts of revenge against the Muslim population, such as in the case of the Srebrenica massacre (1995). Borrowing from M. Fischer’s terminology in respect of Shi’ite Islam, I characterize general Mladić’s plea to create a ‘winning army’, uttered in a speech to his troops days before the attack on Srebrenica, as an example of Kosovo in the active mood, a call to undo historical injustices, throw off the negative and degrading status of ‘the victim’, and impose a ‘final solution’, bringing ‘justice’, ‘liberation’, and ‘redemption’.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Johannes Hahn, Münster, Sabine Ullmann,
Überblick
(Johannes Hahn, Münster, Sabine Ullmann, Eichstätt)
Sabine Ullmann, Eichstätt:
Einleitung
Johannes Hahn, Münster:
‚Wo steht der Feind?‘ Konversion(en), anti-jüdischer Diskurs und der Zusammenbruch des ‚market place‘ der Religionen im 4. Jahrhundert n. Chr.
Wolfram Drews, Münster:
Die Kontroverse zwischen dem Proselyten Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus von Córdoba: Ein jüdisch-christlicher Disput über die Glaubwürdigkeit von Konversionen im umayyadischen Spanien des 9. Jahrhunderts
Yosef Kaplan, Jerusalem:
Converts or Returnees to the Bosom of Judaism? How the Western Sephardic Diaspora Dealt with Marranos who Adopted the Jewish Faith
Thomas Kaufmann, Göttingen:
Proselytenmacherei‘ als antijüdisches Narrativ. Beobachtungen zur Reformationszeit
Christine Magin, Greifswald:
Schlusskommentar und Moderation
Abstract (scroll down for English version):
Die jüdisch-christliche Geschichte im vormodernen Europa ist von einer Dialektik zwischen Polemiken und Konfrontationen einerseits sowie gegenseitigen Anleihen und Einflussnahmen andererseits geprägt, die sich in lokal bzw. regional spezifischen Kontakt- und Konfliktzonen realisierten. Daraus erwuchsen religiös-kultische Annäherungen, Missionsbemühungen bzw. -konkurrenzen bis hin zu Konversionen. Während meist die freiwilligen wie unfreiwilligen Wege vom Judentum zum Christentum fokussiert werden, stellen dagegen die Teilnehmer dieser Sektion den umgekehrten Weg in den Mittelpunkt und fragen nach der historischen Faktizität und Narrativität eines jüdischen Proselytismus. Welche explizite wie implizite Anziehungskraft entwickelte die jüdische Religion in verschiedenen räumlichen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten vor dem Beginn der Moderne? Wann galt eine Konversion zum Judentum den Zeitgenossen als glaubwürdig und wie wurde die (neue) religiöse Identität wahrgenommen? In welcher Weise wurde ein möglicher Religionswechsel Gegenstand antijüdischer Propaganda und damit Teil eines kontroversen interreligiösen Diskurses?
Das Thema wird in einer epochenübergreifenden Perspektive von der Spätantike (Johannes Hahn) bis in das 17. Jahrhundert hinein (Yosef Kaplan) behandelt und umspannt damit den Zeitraum vom Aufstieg des Christentums zu einer Mehrheitsreligion bis an die Schwelle der in Europa einsetzenden Aufklärungsbewegung, die den Religionen einen anderen sozialen Ort zuwies. Der geographische Rahmen reicht von der östlichen Mittelmeerregion und Nordafrika über das muslimische Spanien (Wolfram Drews) bis zum frühneuzeitlichen Reich (Thomas Kaufmann). Obwohl die christlich-jüdische Kontroverse dabei als Leitfaden dient, liegt der Fokus nicht nur auf der Anziehungskraft, die das Judentum in christlichen Gesellschaften ausüben konnte, sondern berücksichtigt wird auch die Bedeutung dieser religiösen Auseinandersetzung in pagan geprägten Gesellschaften der Spätantike sowie in islamischen Herrschaftsgebieten.
Abstract (English version):
Jewish-Christian history in pre-modern Europe is marked by polemical and antagonistic dialectic on the one hand, and by mutual borrowing and influence on the other, which took place in local and regional contact and conflict zones. Originating from that are forms of religious-cultic rapprochement and missionary effort or competition, as well as conversions. Voluntary and compulsory transitions from Judaism to Christianity have often been analyzed. The panel, however, intends to focus on the reverse process and will investigate the historical reality and literary discourse of Jewish proselytism.
Which explicit and implicit forces of attraction did the Jewish religion develop in different regional contexts and at different times in the pre-modern period? When was conversion to Judaism seen as credible by contemporaries and how was the (new) religious identity perceived? And in what ways did the possibility of changing one’s religion become an issue of anti-Jewish propaganda and thus part of interreligious controversy?
The topic will be dealt with across epochs, from late antiquity (Johannes Hahn) to the 17th century (Yosef Kaplan). Thus it covers the time span from the rise of Christianity as a majority religion to the beginning of the Enlightenment in Europe, when religions came to be allocated a different social place. Geographically, the discussion encompasses the Eastern Mediterranean and North Africa, Muslim Spain (Wolfram Drews) and the early modern German Empire (Thomas Kaufmann). Although the panel concentrates on Christian-Jewish controversy, emphasis is not placed solely on the attraction that Judaism had in Christian societies. Similar consideration is given to the importance of this religious conflict in the pagan societies of late antiquity and in territories dominated by Islam.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal J
Hauptgebäude
Überblick
(Andreas Bähr, Berlin, Jan-Friedrich Missfelder,
Überblick
(Andreas Bähr, Berlin, Jan-Friedrich Missfelder, Zürich)
Andreas Bähr, Jan-Friedrich Missfelder:
Einführung
Anna Kví alová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Deafness, Disability and Hardness of Hearing in Reformation Geneva
Jan-Friedrich Missfelder, Zürich:
Der Geisterhörer. Gespensterkommunikation in der Reformation
Andreas Bähr, Berlin:
Innere Stimmen und göttliches Getöse. Zur divinatorischen Macht des Akustischen im 17. Jahrhundert
Lyndal Roper, Oxford:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version)
Ein bis heute wirkmächtiges Narrativ will es, dass die Moderne ihr Wissen über das Sehen gewinnt. Das zeichne sie als fortschrittlich gegenüber einer Vormoderne aus, die sich noch weitgehend auf Hören und Hörensagen verließ und so über das Glauben, im Sinne des bloßen Meinens, nicht hinausgekommen sei. Bestätigung bezieht das Theorem etwa aus dem lutherischen Paradigma des fides ex auditu: aus dem protestantischen Gedanken, dass nicht nur innerweltliches Wissen, sondern vor allem auch der religiöse Glaube sich im Entscheidenden aus dem Hören speiste – und zu speisen hatte. Das zugrundeliegende Geschichtsbild verlässt sich auf modernisierungs- und säkularisierungstheoretische Vorannahmen und ist als great divide theory in die Geschichte (der Sinne) eingegangen. In dieser Perspektive bleibt jedoch ungeklärt, welche spezifische epistemologische Bedeutung das Hören für religiöse und säkulare Wissensbestände ebenso wie für deren vielfältige Überschneidungen besaß.
Die Sektion fragt nach dem Stellenwert des Ohres als Erkenntnisorgan in der Frühen Neuzeit. Welche epistemologischen Funktionen kamen dem Hören bei der Gewinnung von Wissen ebenso wie bei seiner Verbreitung zu? Wie wurde die Differenz zwischen Glauben und Wissen sensorisch produziert? Die Beiträge fragen zunächst nach dem frühneuzeitlichen Wissen vom Hören, um damit zu erschließen, welches Wissen durch das Hören gewonnen wurde – und auf welche Weise dies geschah. Mit den auditiven Wegen zur Wahrheit und zum Heil diskutieren sie dann immer auch, wie sich in der Frühen Neuzeit das Verhältnis von Wissen und Glauben bestimmte sowie das Wissen über den Glauben gestaltete. Besondere Virulenz entfalten diese Fragen mit Blick auf die „Kanäle“, durch die sich göttliche und teuflische Mächte Gehör verschafften, ebenso wie in der Problematik der physiologischen Taubheit.
Anna Kvíčalová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Gehörlosigkeit, Behinderung und Schwerhörigkeit in Genf während der Reformationszeit
Obwohl Auseinandersetzungen mit der Reformationszeit oftmals deren Fokussierung auf das Hören und Sprechen religiöser Instruktionen betonen, wurde dem Thema Gehörlosigkeit in diesem Kontext bisher wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit dem Phänomen der Schwerhörigkeit im frühen Genfer Calvinismus und beleuchtet den damit einhergehenden Entstehungsprozess neuer sinnlicher Kommunikationsformen. Ein Blick auf die Stellung Schwerhöriger und Gehörloser in diesem neuen System der Verteilung religiösen Wissens erlaubt eine Vertiefung und Revision des Verständnisses von der Rolle des Hörens und Sprechens in der calvinistischen Epistemologie und hinterfragt damit zugleich das tiefsitzende historiographische Einverständnis, dass Gehörlose und Schwerhörige marginalisiert und vom Erlösungsversprechen im Europa des 16. Jahrhunderts ausgeschlossen waren. Zudem ermöglicht eine Analyse der Kategorien Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit eine eingehendere Betrachtung der Entstehung neuer Sinnes- und Körpernormierungen im calvinistischen Genf: Besonders hier wurde Gehörlosigkeit nie als eine rein körperliche Beeinträchtigung verstanden, sondern kann vielmehr als Resultat eines Wechselspiels zwischen dem physischen Körper und seiner sozialen Umwelt, repräsentiert durch neu geschaffene religiöse Normen, gesehen werden. In den Genfer Primärquellen steht Gehörlosigkeit für eine große Bandbreite an Hörbeeinträchtigungen und ist oft nicht zu unterscheiden von Eigenschaften wie Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit oder Intelligenzminderung. Dieser Beitrag möchte somit zeigen, dass Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit nicht nur eine spezifische Stellung innerhalb der calvinistischen Epistemologie einnahmen, sondern dass diese Phänomene hier gleichzeitig neu definiert und konstruiert wurden – und dies alles vor dem Hintergrund eines Regimes der Sinnesregulierung, in dem neue Regeln für die auditive Kommunikation religiösen Wissens und neue Normierungen des Zuhörens eingeführt wurden.
Andreas Bähr, Berlin:
Innere Stimmen und göttliches Getöse. Zur divinatorischen Macht des Akustischen im 17. Jahrhundert
Wer auf Basis auditiver oder visueller Erscheinungen Aussagen über künftiges Geschehen zu machen proklamierte, stand in der Frühen Neuzeit unter großem Beglaubigungsdruck; denn Göttliches war stets von Natürlichem und – wichtiger noch – von Teuflischem zu unterscheiden. Dies gilt bereits für das 16. Jahrhundert, das selbsternannten Propheten mit zunehmendem Misstrauen begegnete; erst recht aber gilt es für das 17. Jahrhundert, in dem eine erfahrungsbezogene Medizin ihren Deutungsanspruch auszubauen begann und eine vermehrte Pathologisierung des Stimmenhörens und divinatorischen Träumens zu beobachten ist. In diesem Horizont konnten nonverbale akustische Phänomene epistemologische „Verstärker“-Funktionen entfalten. Dies zeigt sich beispielsweise in pietistischen Konversionserzählungen, in denen innerliches Glockengeläut und „Rumoren“ die Göttlichkeit herzenszerknirschender Bekehrungsaufforderungen unterstreicht und so als buchstäblicher „Buß-Wecker“ fungiert. Es zeigt sich aber auch am anderen Ende des konfessionellen Spektrums: in der Autobiographie des Jesuiten Athanasius Kircher, den 1631 in Würzburg ein innerliches Getöse aus dem Schlaf gerissen habe, um sein Ordenskolleg – vermittelt über eine angeschlossene Wachvision – vor dem bevorstehenden Angriff Gustav Adolfs von Schweden zu warnen. Kircher, der sich nicht nur intensiv mit akustischen Verstärker-Systemen beschäftigte, sondern auch mit der körperlichen Macht und Gewalt von Tönen, Klängen und Geräuschen, ist ein besonders signifikantes Beispiel für das divinatorische Potential des Auditiven im 17. Jahrhundert. Dieses wiederum lässt nicht auf einen frühneuzeitlichen Primat des Hörens gegenüber dem Sehen schließen, sondern auf deren spezifisches und komplementäres Verhältnis.
Abstracts (English version)
According to one of the most enduring and powerful meta-historical narratives, knowledge in modernity is obtained through the sense of sight. Premodern times were, on the contrary, allegedly charactarised by the reliance upon hearing and hearsay leading, rather, to belief and stagnation instead of knowledge and progress. In the religious sphere, the Lutheran maxim fides ex auditu informed the Protestant dogma that faith exclusively depended upon hearing the word of God. In the history of the senses, this contradiction resulted in the infamous great divide theory with its strong undercurrents of modernisation and secularisation theory linking sight to (scientific) reason and, instead, hearing to religious faith. What is largely ignored in this perspective is the specific epistemological status of hearing with respect to both religious and secular knowledge and their various overlaps.
Our panel seeks to investigate the role of the ear as an organ and instrument of knowlegde in the early modern period. We ask for its epistemological functions in the process of gaining and distributing religious and scientific knowledge. How was the difference between knowledge and belief produced sensorially? We are equally interested in forms of knowledge about hearing as in the ways in which knowledge was produced through hearing. By tracking the auditive paths to truth and salvation alike, the papers seek to analyse the specifically early modern relations between faith and knowledge as well as the early modern ways of knowledge about (religious) faith. In this resepct, the auditory „channels“ and media of knowledge through which God and the devil made themselves heard deserve particular attention: preachers’ voices, inner voices and ghosts’ voices demanding close historical listening.
Anna Kvíčalová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Deafness, Disability and Hardness of Hearing in Reformation Geneva
Despite the Reformation often being associated with the centrality of hearing and spoken religious instruction, the topic of deafness has received only marginal scholarly attention in this context. This paper proposes to put hearing disability at the center of research on early Calvinism in Geneva, arguing that it allows us to observe the process by which new patterns of sensory communication were fashioned after the Reformation. On the one hand, attending to the position of the deaf and hard of hearing in the new system of distribution of religious knowledge deepens and revises our understanding of the role of hearing and speaking in Calvinist epistemology, and challenges the ingrained historiographical notion that the deaf and hard of hearing were marginalized and generally excluded from salvation in sixteenth-century Europe. On the other hand, exploring the parameters of the categories of deafness and hardness of hearing brings us to the heart of the process by which new norms of bodily conduct and sense perception were fashioned in Calvinist Geneva. Especially as regards this second aspect, deafness is never understood as a purely physical impairment but may be interpreted as result of the interplay between the physical body and its social environment, the latter in this case most clearly represented by the newly constructed religious norms. In the Genevan primary sources deafness stands for a wide range of hearing disabilities and is often indistinguishable from characteristics such as forgetfulness, inattention, or lack of intelligence. This paper thus argues that deafness and hardness of hearing not only occupied a specific place in Calvinist epistemology, but also were defined and constructed afresh in the new regime of the management of the senses, where new rules for the auditory communication of religious knowledge and standards of listening were introduced.
Andreas Bähr, Berlin:
Hearing God’s Noise: On the Divinatory Power of Sounds in the Seventeenth Century
In the early modern era, those proclaiming to know the future from auditory or visual apparitions were under significant pressure to authenticate their assertions, as divine messages were considered to be categorically different from natural occurrences and, more importantly, diabolical instigations. This was true already of the sixteenth century when contemporaries were becoming suspicious of „false prophets“. It was even more the case, however, in the seventeenth century, when theologians were increasingly losing ground against physicians who pathologised those who believed to hear divine voices and to dream divinatory dreams. Against this background, nonverbal acoustic phenomena could serve as epistemological „amplifiers“. For example, in Pietist conversion narratives, bells heard only by the believers themselves were considered to be a call to do penance. In a similar vein, the Jesuit Athanasius Kircher wrote how in Würzburg in 1631 he was woken by an inner noise which warned him and his confreres of the imminent attack by the Swedish forces led by Gustavus Adolphus. The works of Kircher, who took a peculiar interest not only in acoustic amplification but also in the physical power and violence of sounds, are particularly indicative of the divinatory potential of auditory phenomena in the seventeenth century. This is not to say, however, that, in terms of historical epistemology, the early modern ear was more important than the eye, but that the two senses were seen to complement each other.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal K
Hauptgebäude
DON22SEP11:15- 13:15Im Gespräch mit den DFG-Fachkollegiaten11:15 - 13:15 Hörsaal B
Überblick
(VHD) Das Fachkollegium 102 (Geschichtswissenschaften) der
Überblick
(VHD)
Das Fachkollegium 102 (Geschichtswissenschaften) der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist ein von allen Historikerinnen und Historikern an Universitäten und außeruniversitären Instituten für jeweils vier Jahre gewähltes Gremium mit zwölf Mitgliedern, die auf ehrenamtlicher Basis arbeiten. Das Fachkollegium tritt mehrmals jährlich zusammen, um über Anträge auf Förderung in der Mittelalterlichen Geschichte, der Geschichte der Frühen Neuzeit, der Neueren und Neuesten sowie der Wissenschaftsgeschichte (die Alte Geschichte, aber auch die Wirtschaftsgeschichte sind anderen Fachkollegien zugeordnet) zu beraten, die zuvor bereits von Gutachterinnen und Gutachtern bewertet wurden – die endgültige Entscheidung trifft der Hauptausschuss der DFG. Dem Fachkollegium ist eine Geschäftsstelle zugeordnet, die auch der Beratung von Antragstellern dient. Die Sektion soll die Transparenz des Verfahrens erhöhen und die Kommunikation zwischen Fachkollegium und Historiker-Community intensivieren. Es besteht die Gelegenheit, mit Mitgliedern des Fachkollegiums sowohl über systemische und strategische Fragen der Förderung als auch über praktische Probleme des gesamten Verfahrens zu diskutieren.
Podiumsdiskussion
Dirk van Laak, Geißen
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg
Joachim von Puttkamer, Jena
Andreas Ranft, Halle an der Saale
Peter Burschel, Wolfenbüttel
Andreas Rödder, Mainz
Guido Lammers, DFG/Bonn
Torsten Fischer, DFG/Bonn
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
Hörsaal B
Hauptgebäude
Überblick
(Heidi Hein-Kircher, Marburg) Heidi Hein-Kircher, Marburg: Einführung Steven
Überblick
(Heidi Hein-Kircher, Marburg)
Heidi Hein-Kircher, Marburg:
Einführung
Steven Seegel, Colorado:
Spatial Politics, Religion, and Identity: Uses and Abuses of Antemurale
Vanessa Conze, Gießen:
»… ein Bollwerk christlicher Kultur gegen heidnisches Chaos.« Das »Abendland« im Kalten Krieg
Paul Srodecki, Gießen/Ostrava:
»Bollwerke Europas« – Die Bollwerksrhetorik reloaded. Antemurale-Topoi vor dem Hintergrund der aktuellen Ukraine und Flüchtlingskrise
Guido Hausmann, München:
Bollwerk(e) gegen die ausländische Gefahr: Historische Kontinuitäten gegenwärtiger Geschichtsbilder in der Ukraine
Liliya Berezhnaya, Münster:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Ausgehend von der Feststellung, dass gegenwärtig die Errichtung von Grenzzäunen gegen die Flüchtlingsströme auch symbolischen Charakter annimmt, führt die Einleitung knapp in die historische Mythosforschung ein. Diese Perspektive erlaubt es, Bedrohungsszenarien und Sicherheitsversprechen als politischen Mythos zu interpretieren, durch den sich die Vergangenheit mit der Gegenwart und letztlich auch mit Zukunftsvorstellungen verbinden lässt. Gerade letzteres ist die eigentliche Botschaft von solchen Bollwerkvorstellungen, weil gerade „Sicherheit“ zu den diskursiv vermittelten politisch-gesellschaftlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen mit einem erheblichen Mobilisierungspotential gehört.
Guido Hausmann, München:
Bollwerk(e) gegen die ausländische Gefahr: Historische Kontinuitäten gegenwärtiger Geschichtsbilder in der Ukraine
Vor 1991 grenzte sich die Ukraine kulturgeographisch und politisch vor allem nach Westen ab. Von 1991 bis heute kam es dann zu einem Wandel mit einer wachsenden Abgrenzung nach Osten hin, gegenüber Russland. Diese Abgrenzung hat sich 2013-15 durch die Gewalterfahrung aus Russland beschleunigt. Im Mittelpunkt des Vortrags wird die Frage stehen, auf welche geschichtspolitischen und -kulturellen Ressourcen dabei mit welchen neuen Narrationen Bezug genommen wurde.
Vanessa Conze, Gießen
„… ein Bollwerk christlicher Kultur gegen heidnisches Chaos.“ Das `Abendland´ im Kalten Krieg.
Der Sektionsbeitrag wird sich mit der „Abendland“-Idee auseinandersetzen, die in Zeiten des Kalten Krieges zum elementaren Bestandteil des Gesamtkomplexes einer konservativ-katholischen westdeutschen Sicherheitskonzeption gehörte. Sie bezog sich weniger auf außenpolitisch-militärische Dimensionen von Sicherheit, sondern verwies auf eine christliche Wertegemeinschaft, die der Bedrohung durch den „heidnischen Osten“ als „geistiges Bollwerk“ entgegenwirken und die Verteidigungskraft Europas auch in ideeller Hinsicht stärken sollte. Beispielhaft sollen diese Zusammenhänge dargestellt werden an den Jubiläumsfeierlichkeiten, die 1955 in Augsburg zur Erinnerung an die „Schlacht auf dem Lechfeld“ 955 stattfanden und bei denen Kampf Kaiser Ottos I. gegen die Ungarn tausend Jahre zuvor gleichgesetzt mit der Situation des Kalten Krieges. An den Augsburger Feierlichkeiten lassen sich zentrale Komponenten der in der Sektion im Mittelpunkt stehenden „Bollwerks“-Metapher exemplarisch auffächern. Und in Zeiten von Pegida ist das Thema auch nicht ohne Gegenwartsbezug.
Paul Srodecki, Gießen/Ostrava:
„Bollwerke Europas“ – Die Bollwerksrhetorik reloaded. Antemurale-Topoi vor dem Hintergrund der aktuellen Ukraine- und Flüchtlingskrise
Der Vortrag soll kurz die in den letzten Jahren stark zu beobachtende „Reaktivierung“ der in Ostmitteleuropa seit spätestens dem ausgehenden Mittelalter weit verbreiteten, auf Alteritäts- und Alienitätskonstruktionen aufbauenden antemurale-Topoi skizzieren. Dass die ostmitteleuropäischen Bollwerksdiskurse vor allem in Polen und Ungarn nichts an ihrer Aktualität verloren haben, zeigen sowohl die jüngsten Ereignisse in der Ukraine als auch insbesondere die im Zuge des Syrienkonflikts aufgekommene „Flüchtlingskrise“ 2015/2016. Vor dem Hintergrund der angespannten politischen Situation an den östlichen und südöstlichen Grenzen der Europäischen Union wurde bzw. wird auch das Bollwerksargument als breitenwirksames Propagandamittel von den jeweiligen Konfliktparteien und politischen Akteuren zusehends bemüht.
Steven Seegel, Greely, Col.:
“Das geheime Leben von Karten: Entschlüsselung von Religion und Geopolitik in modernen Antemurale-Diskursen”
Karten waren ein integraler Bestandteil der Projekte ostmitteleuropäischer Zivilisatoren. Einmal publiziert, entwickelten sie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch die Verschränkung von Geschichte mit Kartografie und von Geografie mit Geopolitik ein institutionelles Eigenleben. Dieser Beitrag untersucht das „geheime Leben“ von Karten von ihrer Produktion und Publikation bis zu ihrer Verbreitung im Leben professioneller Geografen; Männer, die für die Konstruktion von Mythen des Schutzes in den umstrittenen/ Räumen transnationaler Grenzgebiete verantwortlich sind. Durch die Untersuchung der Biografien von fünf Kartografen, die in einem grenzübergreifenden Netzwerk durch persönliche Korrespondenz miteinander in Verbindung standen – Isaiah Bowman, Albrecht Penck, Eugneniusz Romer, Pál Teleki, and Stepan Rudnyts’kyi – kontextualisiert der Vortrag die Intensität solcher Mythen und ihrer Mediatoren und zeigt deutlich die geschlechtsspezifischen Ängste hinter der visual history und (visuellen) Praktiken.
Abstracts (English version)
Starting with the diagnosis, that the building of border fences against the current flow of refugees also gets a symbolic character, the paper introduces shortly into the historical research on political myths. Through that perspective, it is possible to interpret threat scenarios and security promises as political myths, which tie up past, present and future. In effect, that connection is the message and fundament of bulwark-notions, because „security“ belongs to the discursively mediated political and social values and order notions with an eminent potential of social mobilization.
Guido Hausmann, München:
Bulwark(s) Against the Foreign Danger: Historical Continuities of Present Historical Consciousness in Ukraine
Ukraine largely distanced itself from the west before 1991. As a national state however a steady change occurred after 1991 replacing the west with the east – Russia. The cultural geographical and political change was dynamized in 2013-15 with the new experience of violence and war. The paper explores in more detail the historical and cultural roots and narrations of this process.
Vanessa Conze, Gießen:
„… a Bulwark against Pagan Disorder.“ The Occident in the Cold War
This paper sets its focus on the idea of the „Abendland“ [the English words ‘occident’ and ‘West’ do not convey the specific Catholic-European dimensions of the German term ‘Abendland’], which played an important role in a conservative-catholic West-German security policy in the 1950s. The “Abendland” was less a foreign-policy or military term, but a reference to a Christian order in Europe, that could – for its advocats – become a bulwark against the “godless East” and protect Europe in a spiritual sense. The paper will use the example of the festivities in Augsburg 1955, remembering the 1000 jubilee of the “Schlacht auf dem Lechfeld” in 955. Here, the fight of emperor Otto I. against the Hungarians 1000 years before was compared to the situation of the Cold War. By analysing the “Lechfeld”-memory, important elements of the “Bollwerk”-metaphore will be demonstrated. And in times of Pegida the concept “Abendland” ist not without current interest
Paul Srodecki, Gießen/Ostrava:
“Bulwarks of Europe” – The Bulwark Rhetoric Reloaded. Antemurale Topoi Against the Background of the Contemporary Ukraine and Refugees Crises
This paper will briefly outline the notable reactivation in recent years of the East Central European antemurale topoi, the roots of which can be traced back to the outgoing Middle Ages, and which are built on constructions of alterity and alienity. Contemporary events in Ukraine and, above all, the so-called “refugee crisis” of 2015/2016 demonstrate that the East Central European bulwarks discourses have lost none of their relevance, particularly in Poland and Hungary. Against the background of the tense political situation at the Eastern and South-Eastern borders of the European Union, the bulwark argument continues to be used as a widespread instrument for propaganda by particular political actors and parties in the conflict.
Steven Seegel, Greely, Col.
„Secret Lives of Maps: Decoding Religion and Geopolitics in Modern Antemurale Discourses“
Maps were integral to the projects of East Central Europe’s civilizing men. Once published, the maps took on institutional lives of their own by entangling history with cartography, and geography with geopolitics in the late 19th and early 20th century. This paper examines the “secret lives” of maps, from production to publication to circulation, in the lives of professional geographers, men responsible for engineering myths of protection in the contested spaces of transnational borderlands. By examining biographically five cases of “map men” within a cross-border network of experts in personal correspondence with each other — Isaiah Bowman, Albrecht Penck, Eugneniusz Romer, Pál Teleki, and Stepan Rudnyts’kyi, the paper contextualizes the intensity of such myths and their mediators and demonstrates sharply the gendered anxieties behind visual history and practices.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
HWF-221
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
(Andreas Gestrich, London, Eckhardt Fuchs,
Überblick
(Andreas Gestrich, London, Eckhardt Fuchs, Braunschweig)
Podiumsdiskussion
-Neeladri Bhattacharya, Delhi
-Janaki Nair, Delhi
-Daniel Lindmark, Umea (angefragt)
-Miranda Johnson, Sidney (angefragt)
Abstract:
A panel discussion jointly organised by the German Historical Institute London and the Georg Eckert Institute for International Textbook Research.
This panel discussion will look at contemporary textbook controversies focusing the issue of an adequate representation of ethnic, regional or religious minorities or lower casts in text books. At the same time and intertwined with many of these issues, the panel will discuss the problems arising in this context from a critical historical assessment of the validity of many regional – frequently oral – traditions and/or religious texts. The panel will include examples of recent textbook controversies from Australia, Europe and India.
Zeit
(Donnerstag) 12:15 - 13:45
Ort
PHIL-G
Philosophenturm