September
Überblick
(Renate Dürr, Tübingen, Irene van
Überblick
(Renate Dürr, Tübingen, Irene van Renswoude, Den Haag/Utrecht)
Irene van Renswoude, Den Haag:
What Not to Read. Lists of »Suspicious« Books Before the Index (500–1500)
Carine van Rhijn, Utrecht:
»A Good Day to Move your Bees«. Early Medieval Prognostic Texts Between Fabula and Pastoral Care.
Martin Mulsow, Gotha:
Unter der Oberfläche der Gewissheit: »katholische« Lehre um 1700
Eric Jorink, Den Haag:
The Ark and the Temple. Visualizing Biblical Constructions in the Dutch Republic (17th century)
Renate Dürr, Tübingen:
War Noah ein Chinese? Heterodoxie im christlichen Universalismus jesuitischer Weltchroniken des 17. und 18. Jahrhunderts
Abstracts (scroll down for English version)
Angesichts der Rhetorik, mit der man nicht nur in der Vormoderne versucht hat, gesichertes Wissen von hypothetischem, Wahrheit von Betrug, Rechtgläubigkeit von Häresie zu unterscheiden, erscheinen sich Glaubensfragen schnell in der Gegenüberstellung von richtig oder falsch zu erschöpfen. Was als rechtgläubig zu gelten hat und worin gesichertes Wissen besteht, erscheint nach dieser Rhetorik eindeutig definierbar und damit klar abgrenzbar von Häresie oder Phantasterei. Folgt man dieser Rhetorik und fragt nach der jeweils anerkannten kodifizierten Wahrheit, dann reproduziert man zum einen die spezifische Lesart einer spezifischen Zeit und Gesellschaft, auch dann, wenn man sich für die jeweils andere Seite interessiert. Zum anderen impliziert diese Rhetorik von Gewissheit zumindest die Idee von ewiger oder grundsätzlicher Gültigkeit. Insofern verbindet sich mit dem Konzept von Orthodoxie gerade nicht die Frage nach deren gesellschaftlicher Konstruiertheit, nach den Prozessen von Adaptation und Überformung, nach Uneindeutigkeiten und dem Zusammenspiel mit dem, was jeweils für heterodox gehalten wurde. Wandel ist in Glaubensfragen eigentlich nicht vorgesehen. Wandel erscheint dann als Bruch mit alten Traditionen oder als wissenschaftliche Revolution, jedenfalls als etwas, das die Rhetorik der Gewissheit von außen erschütterte. Nicht nur in modernisierungstheoretisch angehauchten Erklärungsmodellen wird eine solche Rhetorik der Gewissheit für ein typisches Moment der Vormoderne gehalten.
Mit dem Konzept des „Wissens“ verbindet sich häufig ebenfalls nicht die Idee der Vorläufigkeit. Denn auch der Begriff „Wissen“ scheint als Gegenbegriff zu Glauben und Nicht-Wissen grundsätzliche Gültigkeit zu beanspruchen – jedenfalls aus Perspektive der jeweiligen Akteure. Dass dies stets eine Illusion darstellt, haben wissenssoziologische wie auch wissenshistorische Forschungen seit geraumer Zeit herausgestellt. Auch aus der Vormoderne gibt es Hinweise darauf, dass man sich der Vorläufigkeit des Wissens bewusst sein konnte. Zur Rhetorik der Gewissheit gehörte jedoch die Evokation einer klaren Gegenüberstellung von kodifiziertem und verworfenem Wissen. Dagegen interessieren wir uns für die Implikationen des „apokryphen“ Wissens, das trotz oder vielleicht sogar wegen ihres apokryphen Status rezipiert wurde. Was dies für die Konzeption von Wissen überhaupt bedeutet, wird in der neueren Wissenschafts-und Ideengeschichte manchmal unter Rückgriff auf den Begriff „prekäres Wissen“ diskutiert, den Martin Mulsow (2012) für bestimmte Wissensstränge und bestimmte Wissensträger in der Frühen Neuzeit geprägt hat, der allerdings vielleicht auch dazu dienen kann, „Wissen“ überhaupt „dynamisch“ zu fassen.
Irene van Renswoude, Den Haag:
Nicht lesen! Listen ‘verdächtiger’ Bücher vor dem Index (500-1500)
Lange vor dem Index verbotener Bücher (1559) zirkulierten Kataloge und Listen empfehlenswerter und abzulehnender Bücher. Was aber bedeuteten Klauseln wie ‚abzulehnen‘ oder ‚nicht aufzunehmen‘ in mittelalterlichen Buchlisten genau? Unterlagen solche Bücher, die als häretisch, apokryph oder auf andere Weise verdächtig klassifiziert wurden, tatsächlich einem Leseverbot? Sollten sie vernichtet werden? Oder wurde ihnen eher ein besonderer Status zugewiesen? Dieser Vortrag nimmt die Kommentare und Anmerkungen von Lesern an den Rändern abgelehnter Texte in den Fokus, um herauszufinden, wie die Vorschriften in präskriptiven Buchlisten bezüglich nicht zu lesender Bücher interpretiert und in die Praxis umgesetzt wurden. Tatsächlich, so die These des Vortrags, war der Übergang zwischen akzeptierter und abgelehnter Lektüre fließend und verhandelbar.
Carine van Rhijn, Utrech:
‚Ein guter Tag, um deine Bienen umzusiedeln‘. Frühmittelalterliche Prognostiken zwischen fabula und Seelsorge
Prognostische Texte, die beispielsweise dem Zyklus der Woche oder des Mondes folgen, um alltägliche Dinge wie die Ernte, die Bedeutung von Träumen, die Aussichten, eine Krankheit zu überleben, oder den Charakter eines Neugeborenen vorherzusagen, sind für die Zeitspanne von der ausgehenden Antike bis in die Frühe Neuzeit in beachtlicher Anzahl überliefert. Meist wurden sie als Texte interpretiert, die sich außerhalb der religiösen Sphäre im engeren Sinne bewegten, entweder als Volksglaube, Aberglaube, heidnisches Überbleibsel oder sogar Magie. Auf der Basis einer Fallstudie aus der karolingischen Zeit (8./9. Jhdt.) soll dagegen aufgezeigt werden, dass diese Texte vielmehr Teil der frühmittelalterlichen religiösen Kultur waren und ihnen eine wichtige Rolle in der Seelsorge spielen konnten, wenn sie sich in den ‚richtigen‘ Händen befanden. Das Beispiel einer Handschrift führt in die Welt ländlicher Laiengemeinschaften, in denen solche Texte eine Brücke zwischen den Idealen christlichen Verhaltens und den Anforderungen des alltäglichen Lebens bauen konnte, für die das Christentum keine konkrete Orientierung bot.
Martin Mulsow, Gotha:
Unter der Oberfläche der Gewissheit: „katholische“ Lehre um 1700
Unter „doctrina catholica“ verstand man im 17. Jhdt. nicht nur die römische Konfession, sondern konnte sich auch auf die noch „allumfassende“ Lehre der Kirchenväter vor dem Konzil von Nizäa beziehen. Die Autorität dieser Väter war ungebrochen – dennoch wurde ihre Logostheologie inzwischen heiß diskutiert. Es war umstritten, ob die subordinatianische Trinitätstheologie nur „noch nicht“ ganz orthodox, aber auf dem Wege dahin war, oder ob sie „nicht“ orthodox war und den Antitrinitariern in die Hände spielte. Eine Vermittlungsposition entwickelte der Engländer George Bull, und an ihm orientierte sich der preußische Theologe Johann Georg Wachter, der eine nie veröffentlichte „Theologia martyrum“ schrieb und die Logoslehre mit Spinoza und der Kabbala assoziierte. Was war Wachter nun? Ein Freidenker, der langsam katholisch wurde, oder ein patristisch gebildeter Theologe, der auf den Abweg des Spinozismus geriet? Dass Wachter seine „Theologia Martyrum“ nicht veröffentlichen konnte, zeigt, dass die Dynamik des Wissens ihn ins Prekäre geführt hatte.
Eric Jorink, Den Haag:
Die Arche und der Tempel. Visualisierungen biblischer Konstruktionen in der Niederländischen Republik (17. Jhdt.)
Frühneuzeitliche Gelehrte waren davon fasziniert, im Anschluss an frühe Bibelkommentare Gebäude und andere Konstruktionen auf der Basis der biblischen Berichte zu visualisieren – z.B. den Turm zu Babel. Oft aus religiösen Motiven begonnen, brachten diese Vorhaben erhebliche Schwierigkeiten mit sich, neben philologischen Details v.a. hinsichtlich der Einbindung mathematischer Berechnungen, neuer empirischer Befunde und Vernunftüberlegungen. Der Vortrag konzentriert sich auf Willem Goeree (1636-1711), einen zu seiner Zeit berühmten niederländischen Architekten, Theologen, Sammler und selbsternannten Gegner von Spinoza, Adriaan Koerbagh, Isaac Vossius und anderen Bibelkritikern. Er wollte von den künstlerischen Fantasien über biblische Geschichten wegkommen und stattdessen die Wahrheit des wörtlichen Schriftsinns belegen, indem er die relevanten Textstellen sowohl mit seiner eigenen orthodoxen Sichtweise als auch mit dem Wissen der Antike und der Völker des Orients in Einklang zu bringen suchte. Dennoch geriet er mit seinen Rekonstruktionen der Arche und des Tempels in gefährliche Nähe zu radikalen Bibelkritikern.
Renate Dürr, Tübingen:
War Noah ein Chinese? Heterodoxie im christlichen Universalismus jesuitischer Weltchroniken des 17. und 18. Jahrhunderts
Im Mittelpunkt des Vortrages soll eine Chronologie des Grazer Jesuiten Joseph Stöcklein stehen, die er im Jahre 1729 in dem von ihm herausgegebenen „Neuen Welt=Bott“ veröffentlicht hatte. Stöcklein war der erste, der die gestellte Frage, ob Noah ein Chinese war, klar mit „ja“ beantwortete, insofern er sämtliche alttestamentlichen Patriarchen mit chinesischen Kaisern aus der Frühzeit der Überlieferung gleichsetzte. Die Frage selbst lag allerdings spätestens seit der ersten lateinischen Geschichte Chinas von 1658 des Jesuiten Martino Martini in der Luft. Das Wissen um die Geschichte und Kultur in China (und Ägypten) forderte die europäischen Gelehrten darum nun schon seit Jahrzehnten heraus. Welche Methoden erlauben Gewissheit über das Alter von Kulturen, wurde gefragt? Wie ist Gewissheit über die unterschiedlichen Versionen der biblischen Geschichte zu erlangen? Und: Sind nicht vielleicht doch verschiedene Anfänge der Menschheitsgeschichte anzunehmen? Von grundsätzlicher Bedeutung waren all diese Fragen, weil mit diesem Wissen aus anderen Kontinenten die Idee des christlichen Universalismus, der konfessionsübergreifend die Vorstellung von Welt und Geschichte bis dahin prägte, zunehmend brüchiger wurde. Joseph Stöckleins Antwort auf diese Fragen liest sich nun als ein besonders eloquentes Plädoyer für diesen christlichen Universalismus – ein Universalismus allerdings, der sich unter der Hand als ein chinesischer entpuppt.
Abstracts (English version)
Rhetorics of Certainty – Dynamic Knowledge: Negotiating Faith and Certainty in Premodern Europe
Could statements in matters of knowledge only be either right or false? Premodern rhetorical attempts to define certain knowledge, truth, and orthodoxy and to distinguish them from fantasy, fraud, and heresy convey this impression. From a modern viewpoint, this concept of certainty, implying eternal and fundamental validity, is often considered to be characteristic of the premodern era. The concept of ‘orthodoxy’ is inherently incompatible with the notion of truth as a social construct. It leaves no room for processes of adaptation and transformation, for ambiguity or even interaction with what was regarded as heterodoxy. In matters of knowledge, to put it briefly, change seems impossible. It can only appear as a breach with tradition or scientific revolution, hence a blow from outside against the rhetoric of certainty.
Similarly, the concept of ‘knowledge’ does not convey the idea of something preliminary. As the opposite to belief and unknowing, ‘knowledge’ seems to claim fundamental validity, too, at least from the perspective of those involved. Research into the sociology and history of knowledge have revealed these claims as illusory. Nevertheless, the rhetoric of certainty involved the evocation of a clear juxtaposition of codified and rejected knowledge. But what were the implications of declaring certain knowledge as ‘apocryphal’, which was received despite or perhaps because of this status? And what did this categorization mean for the concept of knowledge in general? In 2012, Martin Mulsow has proposed the term ‘precarious knowledge’ for certain strands of knowledge and its protagonists in the early modern period. This panel intends to demonstrate that this term has the potential to interpret ‘knowledge’ as dynamic.
Irene van Renswoude, Den Haag:
What not to Read. Lists of ‘Suspicious’ Books before the Index (500-1500)
Catalogues and lists that prescribed which books were good to read and which ones should be rejected circulated long before the Index of Forbidden books (1559). But what did the clause ‘to be rejected’ or ‘not to be received’ in medieval book lists precisely imply? Were those books that were classified as heretical, apocryphal or otherwise suspicious, actually banned from being read? Were they meant to be destroyed? Or were they rather allotted a special status? This paper will discuss the comments and annotations of readers in the margins of rejected texts, to see how the regulations in prescriptive book lists on ‘what not to read’ were interpreted and put into practice. It will demonstrate that the line between acceptable and unacceptable reading was in fact fluid and open to discussion.
Carine van Rhijn, Utrecht:
‚A good day to move your bees‘. Early Medieval Prognostic Texts between Fabula and Pastoral Care.
Prognostic texts, which follow for instance the cycle of the week or the moon to ‚predict‘ every-day matters such as the harvest, the verity of dreams, the chances of surviving disease, or the character of a new-born child, survive in respectable quantities from Late Antiquity up into the Early Modern Period. Generally they have been interpreted as texts that move outside the realm of ‚real‘ religion, either as folk belief, as superstition, as pagan remnants or even as magic. This paper is a case study set in the Carolingian period (s.VIII/IX), in which I would like to argue that, quite to the contrary, these texts were part of early medieval religious culture, and that they played a role in pastoral care if in the hands of the right people. The case of one manuscript will take us to the world of rural, lay communities, in which these texts may have functioned as a bridge between ideals of good Christian behaviour and the many demands of daily life for which Christianity had no fitting format.
Martin Mulsow, Gotha:
Under the Surface of Certainty: ‘Catholic’ Doctrine around 1700
In the 17th century, ‘Doctrina catholica’ did not only mean the Catholic confession, but could also refer to the ‘all-encompassing’ teachings of the church fathers before the council of Nicaea. The authority of the church fathers remained unquestioned; their theology of ‘logos’, though, had by then become a matter of hot debates. Catholic theologians argued over whether the subordinatian version of trinitarian theology could be regarded as merely ‘not yet’ orthodox but on the way towards it, or whether it was in fact unorthodox and a played into the hands of the antitrinitarians. The Englishman George Bull developed a compromise, which had an influence on the Prussian Theologian Johann Georg Wachter, who in his unpublished ‘Theologia martyrum’ associated the teaching of ‘logos’ with Spinoza and the Cabbala. What do we make of Wachter? Was he a libertine who slowly turned into a Catholic, or a theologian well-versed in patristic teaching, who went astray into Spinozism? The fact that he refrained from publishing his ‘Theologia Martyrum’ shows that the dynamics of knowledge led him into precarious terrain.
Eric Jorink, Den Haag:
The Ark and the Temple. Visualizing Biblical Constructions in the Dutch Republic (17th Century)
Elaborating on the work of the early commentators of the Bible, early modern scholars were increasingly fascinated by visualizing buildings and constructions as described in the Bible, such as for example the tower of Babel. However, what often started as deeply religious enterprise, turned out to be fraught with difficulties, both with regard to philological detail as well as to mathematics, new empirical data and sound reason. I will focus on Willem Goeree (1636-1711) a little known, but then famous Dutch architect, theologian, collector and self-appointed enemy of Spinoza, Adriaan Koerbagh, Isaac Vossius and other biblical critics. Goeree wanted to get rid of artistic fancy concerning biblical stories and, instead, tried to demonstrate the truth of the literal reading. His aim was to make the surveying ground texts consistent with his own orthodox views as well as with his great knowledge of the ancient peoples and of the Middle East. However, his reconstruction of the Ark and the Temple brought him dangerously close to the radical biblical critics.
Renate Dürr, Tübingen:
Was Noah Chinese? Heterodoxy in the Christian Universalism of Jesuit World Chronicles of the 17th and 18th Centuries
This paper focuses on a chronological essay of the Jesuit Joseph Stöcklein from Graz, which he published in 1729 in his journal New World Messenger. Stöcklein was the first to answer the question as to whether Noah was Chinese with a clear yes, for he equated all Old Testament patriarchs with Chinese emperors from the earliest tradition. The question itself had been debated at least since the publication of the first history of China by Martino Martini in 1658; for decades, knowledge about the history and culture of China and Egypt had been a challenge to European scholars. Which methods offered certainty about the age of cultures? How could one make sense of the different versions of biblical history? And: Does one need to assume several origins of human history instead of one? Questions like these proved fundamental because the increasing input of knowledge from other continents threatened the concept of Christian universalism that had dominated notions of the world and of history across the confessions. Stöcklein’s answer seems to be a particularly eloquent plea for this Christian universalism –one which, as a by-product, also emerged as Chinese.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg, Matthias Pohlig,
Überblick
(Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg, Matthias Pohlig, Münster)
Thomas Kaufmann, Göttingen:
»Konfessionskultur« in der Perspektive der Kirchengeschichte
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg:
»Konfessionskultur« in der Perspektive der Kulturgeschichte
Matthias Pohlig, Münster:
Was ist lutherische Konfessionskultur?
Günther Wassilowsky, Innsbruck:
Was ist katholische Konfessionskultur?
Christophe Duhamelle, Paris:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Während die Konfessionalisierungsdebatte der 1980er und 1990er Jahre v.a. die sozialen und politischen Effekte der konfessionellen Formierung des 16. und 17. Jahrhunderts im Blick hatte und auf strukturgeschichtliche Parallelen zwischen den drei großen Konfessionen Katholizismus, Luthertum und Calvinismus abhob, konzentriert sich die jüngere Forschung stärker auf Bruchstellen der Konfessionalisierung und auf deren kulturelle Dimension und Konsequenzen. In diesem Zusammenhang hat Thomas Kaufmann in den 1990er Jahren am Beispiel des Luthertums den Begriff der „Konfessionskultur(en)“ lanciert. Verstanden als „Formungsprozeß einer bestimmten, bekenntnisgebundenen Auslegungsgestalt des christlichen Glaubens in die vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen und Kontexte hinein“, interessiert sich das Konzept der Konfessionskultur wieder stärker für die spezifischen, nicht nur religiösen, sondern auch sozialen und kulturellen ‚Propria’ der einzelnen Konfessionen, ihre Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung.
Im Zeichen der kulturalistischen Wende hat der Begriff der Konfessionskultur das Konfessionalisierungsparadigma nahezu abgelöst. Allerdings – und dies ist der Ausgangspunkt der Sektion – ist das Konzept definitorisch und konzeptionell unterbestimmt. So ist etwa zu fragen, wie das Konzept mit dem Spannungsverhältnis von Binnenpluralität und Identität (‚Propria‘) umgeht, wie Prozesse längerer Dauer unter dem Label der Kultur erfasst werden können und in welchem Verhältnis der Begriff zu anderen „pluralisierenden“ Konzepten der Religionsgeschichte (z.B. religiöse Ambiguität) steht.
Es scheint also an der Zeit, das theoretische Potential wie den empirischen Nutzen dieses Konzepts näher zu bestimmen. Ob, inwieweit und in welcher konzeptionellen Zuspitzung „Konfessionskultur“ geeignet ist, die Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit neu und anders zu beschreiben, möchte die Sektion im Gespräch zwischen Historikern und Kirchenhistorikern unterschiedlicher Konfessionen diskutieren.
Thomas Kaufmann, Göttingen:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kirchengeschichte
Das Konzept der Konfessionskultur ist als Kontrast- und Komplementärbegriff zum Konfessionalisierungsparadigma entwickelt worden. Während die Konfessionalisierungsforschung primär Gemeinsamkeiten der frühneuzeitlichen Konfessionen beschrieb, interessiert sich die konfessionskulturelle Perspektive stärker für die spezifischen, nicht nur religiösen, sondern auch sozialen und kulturellen ‚Propria’ der einzelnen Konfessionen, ihre Selbstwahrnehmungen und Selbstdeutungen. Die mit dem Konzept der Konfessionskultur indizierte Zuwendung zu den konfessionellen Propria ging mit einer Kritik an der Funktionalisierung von Religion im Konfessionalisierungsparadigma einher und stellte auf die Vermittlung zwischen einer bekenntnisgebundenen Auslegung des christlichen Glaubens einerseits, einer Vielzahl lebensweltlicher Kontexte andererseits ab. Theologische wie auch religiöse Pluralität ist im Begriff der Konfessionskultur angelegt; das konzeptionelle Problem besteht eher darin, in der Pluralität noch eine Einheitlichkeit auszumachen. Für die lutherische Konfessionskultur, für die der Begriff anfangs entwickelt worden ist, ist die hohe Bedeutung der universitären Theologie und die theologische Kontroverse als Moment der konfessionellen Identitätsbestimmung charakteristisch. Der Vortrag soll das Konzept der Konfessionskultur vorstellen und die wichtigsten konzeptionellen Probleme benennen und diskutieren. Schließlich soll danach gefragt werden, ob und wie der Begriff auch für andere konfessionelle Formationen als das Luthertum produktiv gemacht werden kann.
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kulturgeschichte
Wie müsste ein Konzept beschaffen sein, das die frühneuzeitliche Religionsgeschichte dezidiert kulturgeschichtlich begreift, ohne dabei hinter den Impulsen und Erkenntnissen der Konfessionalisierungsdebatte zurückzubleiben? Einerseits müsste es die Vorzüge des „klassischen“ Konfessionalisierungsparadigmas übernehmen: die konfessionsvergleichende Perspektive, die Offenheit für strukturelle Gemeinsamkeiten gerade mit Blick auf Mittel, Medien und Instanzen, das Interesse an Wandlungsprozessen auch langer Dauer und nicht zuletzt die Integration von Politik-, Sozial- und Kirchengeschichte zu einer religiös informierten Gesellschaftsgeschichte.
Andererseits hätte das gesuchte Konzept aber auch die „kulturalistische“ Kritik ernst- und daher weitere Aspekte aufzunehmen: den akteurszentrierten Blick auf die Menschen und ihre Praktiken, die Symbolisierungsleistungen und Internalisierungseffekte der praxis pietatis, die Bedeutung von Raum und Klang, von Routinen und Ritualen, von Körper und Performanz.
Da diese perspektivischen Erweiterungen neben die Makroprozesse und Strukturen das Denken, Deuten und Verhalten der Menschen und die Vielfalt konfessioneller Formationen gerückt haben, liegt es nahe, von Konfessionskulturen zu sprechen: Der Begriff der Kultur vermittelt zwischen Makro- und Mikroebene, bietet Raum sowohl für Parallelen wie für Unterschiede und ist geeignet, die vielfältigen Felder des sozialen Lebens konzeptionell zu integrieren. Der Begriff der Konfession hingegen scheint den Kern dessen zu benennen, was eine Kultur zu einer distinkten, von anderen abgrenzbaren Konfessionskultur macht. Hier aber beginnen die Probleme. So ist nach wie vor offen, wie wir die ‚Propria‘ der Konfessionen und ihrer Kultur(en) bestimmen wollen, ohne die die Rede von Vielfalt, Ambiguität und Abweichung ins Leere liefe. Überdies bleibt zu klären, wie wir teleologische Meistererzählungen vermeiden, gleichwohl aber Wandel beschreiben können. Und schließlich ist zu überdenken, wie die Dynamiken von Macht und Herrschaft ohne etatistische Verengung integriert werden können.
What would a historiographic concept that understands early modern religious history from a cultural history perspective have to look like if it is not to stay behind the impulses and findings of the confessionalization paradigm?
On the one hand, it would have to adopt the benefits of the “classic” confessionalization paradigm: the cross-confessional comparative perspective; the openness for structural similarities with special regard towards means, media, and instances of confessionalization; the interest for processes of change, even of long duration; and last but not least the integration of political, social, and ecclesiastical history to a religiously informed history of society.
On the other hand, the concept we are looking for should take “culturalistic” criticism seriously and therefore include further aspects: the actor-centered focus on humans and their practices; the praxis pietatis with its symbolizations and effects of internalization, the significance of space and sound, of routines and rituals, of body and performance.
As these increments in perspective put humans’ thoughts, interpretations and actions as well as the plurality of confessional formations next to macro processes and structures, it is self-evident to speak of confessional cultures: the notion of culture mediates between the macro level and the micro level; it leaves space for parallels and differences alike; finally, it is suitable for conceptual integration of the various fields of social life. The notion of confession seems to denote the core of what renders a culture a distinct, identifiable confessional culture. This is where problems begin to occur, however. It is still unsettled, for instance, how historians could identify the ‘propria’ of the individual confessions and their cultures. Without identifying idiosyncrasies, however, all the talk about diversity, ambiguity, and deviation would be void and pointless. What is more, it needs to be clarified how we as historians avoid constructing teleological master narratives, while remaining able to describe processes of change nevertheless. And finally, one has to reconsider how dynamics of power and authority can be integrated without ‘etatistic’ or statist reduction.
Matthias Pohlig, Münster:
Was ist lutherische Konfessionskultur?
Das Luthertum bietet sich in besonderem Maße an, um über konzeptionelle und empirische Probleme des Begriffs der Konfessionskultur nachzudenken – weil der Begriff von Thomas Kaufmann (allerdings relativ stark auf theologische Sachverhalte bezogen) zuerst für die lutherische Konfession geprägt wurde, aber auch, weil über das Luthertum besonders viele konfessionskulturelle Klischees kursieren, die weder ganz falsch noch komplett richtig sind (die Prägekraft des lutherischen Pfarrhauses, die unpolitische Obrigkeitshörigkeit, die lutherische „Unmodernität“ und die steckengebliebene Reformation, die „verknöcherte“ Orthodoxie, die lutherische Wortfixierung). In der Untersuchung einzelner ausgewählter Phänomene der lutherischen Konfessionskultur kann einerseits im Anschluss an die jüngere Forschung ein differenzierteres Bild gezeichnet werden. Andererseits kann so plausibel gemacht werden, dass der Begriff der Konfessionskultur in gewisser Weise als Nachfolger der klassischen religionssoziologischen Diskussion über religiöse „Prägungen“ und religiöse Motivationen von „Lebensführung“ fungieren kann. Ging es der älteren Religionssoziologie um die Erklärung einzelner Probleme der ‚Lebensführung‘ aus Religion heraus, fragt die Konfessionskulturforschung nach der Diffusion obrigkeitlicher Vorgaben in soziale und kulturelle Kontexte. Beide Forschungsrichtungen gehen aber von konfessionsspezifischen Handlungs- und Denkräumen aus, die auf ein dogmatisches Zentrum bezogen bleiben, in ihm allerdings schon deshalb nicht aufgehen, weil neben intendierten auch nicht-intendierte kulturprägende Wirkungen stehen können. Eine entscheidende konzeptionelle Frage ist daher: Welche Phänomene kann ein Begriff wie (lutherische) Konfessionskultur eigentlich noch ausschließen?
Günther Wassilowsky, Innsbruck:
Was ist katholische Konfessionskultur?
Auch wenn konfessionelle Identität in wechselnden Konstellationen stets aufs Neue präsent gemacht werden muss, macht es nur Sinn, von Konfessionalität zu sprechen, wenn in einer Vielzahl von menschlichen Lebensäußerungen auch eine Reihe von spezifischen und Identität konstituierenden Eigenheiten zu identifizieren sind. Ohne unterscheidende Propria ist der Konfessionsbegriff leer und sinnlos. Mögen die regional-lebensweltlichen und theologisch-spirituellen Diversitäten innerhalb einer Konfession noch so stark sein, so muss es doch ein Set von gewissen übergreifenden Charakteristika geben, die eine religiöse Gruppierung überhaupt erst als Konfession erkennbar machen.
Um dieses Distinkte des Konfessionellen einerseits und die Vielfalt, das Kontextuelle und Ephemere der konfessionellen Lebensformen andererseits gleichermaßen berücksichtigen zu können, spricht einiges dafür, den engen Begriff der Konfession und den weiten Begriff der Kultur in einem einzigen Begriff „Konfessionskultur“ zu verbinden. Das Konzept „Konfessionskultur“ könnte das Konfessionalisierungsparadigma ablösen, ohne dass damit die grundlegenden und bleibend gültigen Einsichten der Konfessionalisierungsforschung (wie etwa die strukturanalog in allen Konfessionen von kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten angewandten Sozialtechniken zur Normierung und Homogenisierung der Religion) keine Berücksichtigung mehr fänden. Innerhalb des Konzeptes „Konfessionskultur“ erschiene dann aber das Konzil von Trient nicht mehr alleine als ein Faktor im Prozess der Sozialdisziplinierung. Vielmehr könnte in einer solch konfessionskulturellen Perspektive wahrgenommen werden, wie variabel das Tridentinum in den unterschiedlichen Regionen und Handlungsebenen angeeignet, umgedeutet, implementiert worden ist und wie sehr insbesondere der „Mythos Trient“ einen orientierenden und stabilisierenden Referenzpunkt zur Formierung der distinkten Praktiken des Denkens, Deutens und Verhaltens frühneuzeitlicher Katholiken bildete.
Der Vortrag wird solche identitätskonstruierende, übergreifende Charakteristika im frühneuzeitlichen Katholizismus erheben und der Frage nach der Rolle des Tridentinums und seiner Mythologisierung für die Formierung katholischer Konfessionskultur nachgehen.
Abstracts (English version)
In the 1980s and 1990s, the academic discussion of the confessionalization paradigm focused mainly on the social and political effects of 16th and 17th century confessional formation and the identification of structural parallels between the three great confessions Catholicism, Lutheranism and Calvinism. Recent studies in the field, however, keenly investigate the various points of rupture in the process of confessionalization and its cultural dimensions and ramifications. Using the example of Lutheranism, it was Thomas Kaufmann who, in the 1990s, first spoke of “confessional culture(s)” in this context. Seen as “a formation-process of a specific, confession-based exegesis of the Christian faith which informed numerous aspects and contexts in social life”, this concept is again more interested in the specific – not only religious, but also social and cultural – idiosyncrasies (‘Propria’) of the individual confessions, as well as their self-perception and self-interpretation.
In the wake of the cultural turn, the concept of confessional cultures has virtually replaced the confessionalization paradigm. The concept, however, – and this is the starting point of this section – lacks a clear definition and is conceptually under-determined.
What needs to be discussed is, for instance, how the concept deals with the strong contrast between internal plurality and identity (the aforementioned ‘Propria’), how processes of longer duration can be gathered under the label of culture, and how the concept relates to other “pluralizing” concepts of religious historiography (e.g. religious ambiguity).
Time has come, it seems, to further determine the concept’s theoretical potential as well as its empirical benefit. In a dialogue between historians and church historians of diverse confessions, this section will discuss whether, to what extent, and in which form “confessional culture” is practical to describe religious history of the early modern era in a new and different way.
Thomas Kaufmann, Göttingen:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kirchengeschichte
The concept of confessional culture has originally been developed as a contrastive and complementary term for the confessionalization paradigm. Whereas confessionalization research primarily focussed on parallel developments within early modern confessional groups, the perspective of confessional culture concentrates on the religious, but also social and cultural specifics of Lutheranism, Calvinism and Catholicism. It also focusses on confessional self-descriptions and self-interpretations. Moreover, this research agenda implied a critique of confessionalization’s functionalist view of religion. The confessional culture perspective takes an interest in the mediation between a theological programme and the numerous every day contexts which this theological programme aimed to affect and to change. Theological and religious plurality within one confessional group is central to this perspective; conceptually, the hardest problem these days seems to find a rest of unity within religious plurality. The term confessional culture was originally coined for Lutheranism. Academic theology and religious controversy lie at the heart of Lutheran confessional culture. The paper aims at presenting the concept of confessional culture and discusses the conceptual problems of the term. The most interesting question is if and how the concept of confessional culture can also be used as a productive research perspective for the other confessional groups.
Birgit Emich, Erlangen-Nürnberg:
„Konfessionskultur“ in der Perspektive der Kulturgeschichte
What would a historiographic concept that understands early modern religious history from a cultural history perspective have to look like if it is not to stay behind the impulses and findings of the confessionalization paradigm?
On the one hand, it would have to adopt the benefits of the “classic” confessionalization paradigm: the cross-confessional comparative perspective; the openness for structural similarities with special regard towards means, media, and instances of confessionalization; the interest for processes of change, even of long duration; and last but not least the integration of political, social, and ecclesiastical history to a religiously informed history of society.
On the other hand, the concept we are looking for should take “culturalistic” criticism seriously and therefore include further aspects: the actor-centered focus on humans and their practices; the praxis pietatis with its symbolizations and effects of internalization, the significance of space and sound, of routines and rituals, of body and performance.
As these increments in perspective put humans’ thoughts, interpretations and actions as well as the plurality of confessional formations next to macro processes and structures, it is self-evident to speak of confessional cultures: the notion of culture mediates between the macro level and the micro level; it leaves space for parallels and differences alike; finally, it is suitable for conceptual integration of the various fields of social life. The notion of confession seems to denote the core of what renders a culture a distinct, identifiable confessional culture. This is where problems begin to occur, however. It is still unsettled, for instance, how historians could identify the ‘propria’ of the individual confessions and their cultures. Without identifying idiosyncrasies, however, all the talk about diversity, ambiguity, and deviation would be void and pointless. What is more, it needs to be clarified how we as historians avoid constructing teleological master narratives, while remaining able to describe processes of change nevertheless. And finally, one has to reconsider how dynamics of power and authority can be integrated without ‘etatistic’ or statist reduction.
Matthias Pohlig, Münster:
Was ist lutherische Konfessionskultur?
Lutheranism seems to be an ideal test case to reflect the conceptual and empirical problems of „confessional culture“ – because the term was coined by Thomas Kaufmann for Lutheranism in the first place (albeit with relatively close ties to theological discourse), but also because of a number of cultural stereotypes about Lutheranism which are neither completely wrong nor absolutely right (the importance of the parsonage, Lutheranism’s unpolitical authoritarianism, its antimodernity, the ‚interrupted‘ Reformation, a ‚sclerotic‘ orthodoxy and an obsession with ‚the word‘). By examining certain select phenomena within Lutheran confessional culture, it can be shown on the one hand that Lutheran confessional culture is more complicated and more sophisticated than these stereotypes suggest. On the other hand, it might be argued that the concept of „confessional culture“ can legitimately be seen as succeeding the classical debates within the sociology of religion about religious imprints and religious motivations for a specific life conduct. Whereas the older sociology of religion tried to explain certain social and cultural phenomena with respect to religion, the concept of confessional culture is operating the other way round: It is analyzing the diffusion of elite theological demands into specific social and cultural settings. But both strands of historical research reflect about confession-specific systems of thought and action that are tied to a dogmatic center but cannot be reduced to the dogmatic side of confession/religion. One problem, however, is that the term confessional culture tries to integrate intentional as well as non-intentional effects. It is a decisive conceptual question, therefore, if the concept of (Lutheran) confessional culture is able to exclude any phenomena at all.
Günther Wassilowsky, Innsbruck:
Was ist katholische Konfessionskultur?
Yet even if one’s confessional identity must always be concretised in newly changing constellations, it only makes sense to speak of confessionality if, within a plurality of human life manifestations, a series of specific identity constituting qualities may also be identified. Without distinct fundamental characteristics, the concept of confession is empty and senseless. As stark as diversities within a confession may be – in terms of regional ways of life (Lebenswelt) and theological-spiritual dimensions – there must still be a set of certain and more comprehensive characteristics that make a religious group recognizable as such as a confession.
In order to be able to account equally for this distinct feature as regards the confessional dimension on the one hand, and the great variety, the contextual, and the ephemeral of confessional ways of life on the other, quite a number of things might be said in favour of consolidating the narrow term confession with the broad concept of culture into one single concept: “confessional culture.” The concept of “confessional culture” might supplant the paradigm of confessionalisation without entailing having to omit from consideration the fundamental and continuously valid insights of confessionalisation research (such as the techniques of social control that aim at standardizing and homogenizing the religion, used in all confessions by ecclesiastical and secular authorities in a structurally analogous way). Within the concept of “confessional culture,” the Council of Trent would no longer appear merely as a factor in the process of social disciplining. Rather, in such a confessional cultural perspective one could discern how variably the Tridentinum was appropriated, reframed and implemented in different regions and according to diverse levels of action, and how much particularly the “myth of Trent” represented an orientating and stabilising reference point for the formation of the distinctive practices of the thinking, interpreting and behaving of early modern Catholics.
The lecture will identify a series of specific identity constituting qualities in the early modern Catholicism. It further examines the role of Trent and his mythologization for the formation of the catholic confessional culture.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
Hörsaal J
Hauptgebäude
Überblick
(Philip Hahn, Anne Mariss, Tübingen) Bridget
Überblick
(Philip Hahn, Anne Mariss, Tübingen)
Bridget Heal, St. Andrews:
Lernen ein Lutheraner zu sein – Bildliche Darstellungen und die Formierung eines konfessionellen Bewusstseins in deutschen Bibeln
Anne Mariss, Tübingen:
»Gott suchen in allen Dingen«. Jesuitische Frömmigkeitspraxis in der Frühen Neuzeit
Philip Hahn, Tübingen:
Alles eine Frage der Wahrnehmung? Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf »Glaubensfragen« in der Frühen Neuzeit
Ruth Slenczka, Berlin:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version)
Ausgehend von drei unterschiedlichen Themengebieten geht es in der zweistündigen Sektion um methodologische Zugriffsmöglichkeiten auf ›Glaubensfragen‹ in der Frühen Neuzeit. Über die Trias Medialität, Materialität und Sinnlichkeit geht das Panel der Frage nach, wie Glauben und religiöses Wissen produziert wurde und somit auch, auf welche Art und Weise Menschen in der Frühen Neuzeit geglaubt haben.
In Anlehnung an neuere Ansätze innerhalb einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Religionsgeschichte begreifen die Vorträge der Sektion Wissen und Religion nicht als Gegensätze. Vielmehr lassen sich mit Hilfe des Konzepts ›religiösen Wissen‹ historiographisch überkommene Dichotomien von Glauben und Wissen in der Vormoderne aufheben. Religiöses Wissen, das heißt solches Wissen, das aus der Auseinandersetzung mit der Offenbarung entstand, wurde von den historischen Akteuren immer wieder angeeignet und in andere Kontexte transferiert. Religiöses Wissen wird somit als Produkt komplexer Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Akteuren verstanden. Da es sich hierbei längst nicht nur um textbasierte Wissensbestände handelte, sondern auch um Wissen, das durch das Anschauen von Bildern, das sinnliche Wahrnehmen und buchstäbliche Begreifen von Dingen generiert und handlungsleitend gemacht wurden, ist es erforderlich, diese Prozesse aus unterschiedlichen methodischen Blickwinkeln zu betrachten.
Die drei Vorträge nehmen jeweils bewusst Aspekte in den Blick, die quer zu herkömmlichen religionsgeschichtlichen Narrativen gelagert sind. Heal analysiert Illustrationen lutherischer Bibelausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts, die in ihrer exegetischen Bedeutung nicht so recht in das Bild eines wortzentrierten Luthertums zu passen scheinen. Die Bedeutung bildlicher Darstellungen für die jesuitische Frömmigkeitspraxis ist hingegen ein fächerübergreifend etablierter Forschungsgegenstand – deren Einbettung in eine spezifisch jesuitische materielle Kultur, der sich Mariss zuwendet, ist bislang jedoch unterbelichtet geblieben. Den Befund jüngerer Forschungen, dass sich die spätmittelalterliche Frömmigkeit sowie die frühneuzeitlichen Konfessionskulturen hinsichtlich ihrer sinnlichen Profile nicht so leicht voneinander abgrenzen lassen wie traditionell angenommen, nimmt Hahn zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: Wie lässt sich die Bedeutung der Sinne in ›Glaubensfragen‹ in der Frühen Neuzeit aus einer sinnesgeschichtlichen Perspektive neu interpretieren?
Bridget Heal, St. Andrews:
Lernen ein Lutheraner zu sein: Bildliche Darstellungen und die Formierung eines konfessionellen Bewusstseins in deutschen Bibeln
Die volkssprachliche Bibel bildet den Kern der protestantischen Kultur und leistete dem Wandel des religiösen Lebens im 16. Jahrhundert Vorschub; ihre Texte sind vielfach studiert und gerühmt worden. Von Beginn an übernahmen aber nicht nur die Texte, sondern auch die Bilder eine wichtige Funktion, indem sie die Rezeption der Texte durch Gelehrte und Laien beeinflusste. Dies zeigt sich eindrucksvoll in den Illustrationen der Apokalypse in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments vom September und Dezember 1522/23 von Lucas Cranach d. Ä. Die Bilder waren oft mehr als nur bloße Illustrationen: sie fungierten als visuelle Exegese, die ähnlich wie Glossen die Interpretation biblischer Erzählungen mitbestimmten.
Vor diesem Hintergrund untersucht der Vortrag verschiedene Traditionen der lutherischen Bibelillustration im 16. und 17. Jahrhundert. Dabei werden nicht nur sogenannte Vollbibeln herangezogen, sondern auch günstigere und damit besser zugänglichere Formen der visuellen Pädagogik wie etwa Bilderbibeln und Kinderbibeln. Heal wird vor allem der Frage nachgehen, warum eine Konfession, die ihre Bedeutung von der Verbreitung von Gottes Wort ableitete (sola scriptura), Bildern eine so zentrale Rolle in der Vermittlung religiösen Wissens sowie der Herausbildung konfessioneller Identität beimaß.
Anne Mariss, Tübingen:
„Gott suchen in allen Dingen“. Jesuitische Frömmigkeitspraxis in der Frühen Neuzeit
In dem Vortrag von Anne Mariss geht es um die Frage, welche Bedeutung Dingen bei der Vermittlung von ‚Glaubensfragen‘ in der Frühen Neuzeit zukam. Materielle Kultur spielte eine zentrale Rolle in der Formierung und Vermittlung religiösen Wissens und war ein zentraler Bestandteil vormoderner Frömmigkeitspraktiken. Von der Forschung wird daher verstärkt auf die Bedeutung der Kategorie der religiösen Materialität verwiesen. Sinnlichkeit und Ästhetik, das Anschauen und Begreifen von Dingen spielten – entgegen älterer Forschungspositionen – sowohl im Katholizismus als auch im Protestantismus eine signifikante Rolle für die Formierung und Konturierung der eigenen konfessionellen Spiritualität.
Der Vortrag richtet den Blick darauf, welchen Objekten eine zentrale Bedeutung für jesuitische Frömmigkeitspraktiken zukam. Jesuitische Spiritualität basierte schon beim Ordensgründer Ignatius von Loyola in hohem Maße auf der Erfahrung und Auseinandersetzung mit der Welt. Es galt sprichwörtlich, Gott in allen Dingen zu suchen, zu entdecken und zu erfahren. Dies ist von der Forschung bisher vor allem für den Bereich der wissenschaftlichen Aktivitäten der Jesuiten in den außereuropäischen Missionen beachtet worden, nicht so jedoch die Bedeutung dieser Herangehensweise an die Welt der Dinge für die Frömmigkeit und Spiritualität der Jesuiten und ihre daraus resultierende materielle Kultur.
Philip Hahn, Tübingen:
Alles eine Frage der Wahrnehmung? Sinnesgeschichtliche Perspektiven auf ‚Glaubensfragen‘ in der Frühen Neuzeit
Die jüngere Forschung zur „christlichen Materialität“ und zu den Sinnesregimes und -praktiken der frühneuzeitlichen Konfessionen haben gewohnte Zuordnungen infrage gestellt: Die spätmittelalterliche Frömmigkeit war längst nicht so ‚sinnlich‘ wie traditionell angenommen, das Luthertum nicht allein auf das ‚Hör-Reich‘ zentriert, und die reformierten Kirchen nicht grundsätzlich sinnesfeindlich. Sinnesgeschichtliche Arbeiten haben zudem gezeigt, dass die religiösen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts noch unter dem Einfluss antiker und mittelalterlicher Vorstellungen von der Funktionsweise der Sinne standen, die erst im Lauf des 17. Jahrhunderts allmählich von neuen Theorien verdrängt wurden.
Hahn plädiert in seinem Vortrag dafür, nicht bei diesen revisionistischen Dekonstruktionen der sinnlichen Aspekte der Epochengrenze Mittelalter/Neuzeit sowie des Konfessionalisierungsparadigmas stehenzubleiben, sondern das Potenzial des sinnesgeschichtlichen Ansatzes auszuschöpfen, um das Verhältnis von Wahrnehmung und Glaubensfragen in der Frühen Neuzeit zu interpretieren. Das bedeutet vor allem, die Eigenlogik sinnlicher Wahrnehmung ernst zu nehmen, statt diese wie bislang als ein Symptom religiöser Kultur zu betrachten. Am Beispiel einer frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft skizziert der Vortrag die Wechselwirkungen zwischen religiösen Sinneskulturen und anderen Einflussfaktoren auf die Geschichte der Sinne wie naturphilosophischer, medizinischer, hygienischer und ästhetischer Vorstellungen. Denn einerseits strahlte die Inanspruchnahme der Sinne als ‚Glaubensfrage‘ weit über die religiöse Sphäre hinaus, andererseits blieb die Generierung religiösen Wissens nicht davon unberührt, wie eine Gesellschaft die Frage beantwortete, inwiefern man den Sinnen Glauben schenken konnte.
Abstracts (English version)
This panel explores the potential of different methodological approaches to ‚matters of faith‘ by looking at the media of instruction, the material culture, and the senses that could be employed in the process of producing ‚religious knowledge‘. In this way, we hope to contribute to explaining how people in the early modern period believed.
The concept of ‚religious knowledge‘ transcends traditional – and anachronistic – notions of a dichotomy between faith and knowledge in the premodern period. People produced ‚religious knowledge‘, i.e. knowledge derived ultimately from revelation, by constant re-appropriation, negotiation and transferral to new contexts. It could not only be acquired from texts, but also by looking at images, by the touching of objects, and by means of sensory perception in general. This means that the production of ‚religious knowledge‘ has to be interpreted from various methodological angles.
All three papers focus on aspects that do not fit into traditional narratives of religious history. Bridget Heal will analyse the exegetical role of illustrations in Lutheran editions of the Bible, which seems to disagree with the alleged word-centredness of Lutheranism. The importance of images for Jesuit pious practice, by contrast, is well known, but is generally ignored that they were embedded in a specific Jesuit material culture, as Anne Mariss will argue. Philip Hahn’s paper departs from the observation that late medieval sensory culture exerted a strong influence on early modern confessional cultures, and will ask how the role of the senses in ‚matters of faith‘ can be reinterpreted by employing a sensory historical approach.
Bridget Heal, St. Andrews:
Learning to be Lutheran: Visual Images and the Creation of Confessional Consciousness in German Bibles
Bridget Heal will focus in her Vortrag on the role that Biblical images played in transmitting religious knowledge. The vernacular Bible lay at the heart of Protestant confessional culture. It was the engine that drove the transformations in religious life that occurred during the sixteenth century, and its texts have been much studied and celebrated. Yet from 1522/23 onwards, when Lucas Cranach the Elder illustrated the Apocalypse in Luther’s September and December New Testaments, images played an important role in shaping both the learned and the popular reception of those texts. The images were often much more than mere illustrations: they functioned as visual exegesis, determining, like glosses and other para-textual material, the interpretation of particular stories. Heal’s Vortrag will examine traditions of Lutheran Bible illustration during the sixteenth and seventeenth centuries, looking not only at Vollbibeln but also at cheaper and more accessible experiments in visual pedagogy such as Bilderbibeln and Kinderbibeln. It will ask why a confession that derived its significance from the promulgation of God’s word came to accord images such an important role in the transmission of religious knowledge and creation of confessional consciousness.
Anne Mariss, Tübingen:
„Finding God in All Things“: Jesuit Practices of Piety in the Early Modern Period
Anne Mariss focusses on the question of how things played a role in early modern matters of faith. Material culture was central to the development, the formation and mediation of religious beliefs and pious practices. Therefore, recent research has emphasized the importance of a specific religious materiality: sensuousness, aesthetics and haptics were – contrary to older assumptions – important factors in processes of confession-building and the formation of spirituality in Catholicism as well as in Protestantism.
In her talk, Mariss examines which sorts of objects played a crucial role in Jesuit practices of piety. Since Ignatius of Loyola, the founder of the fraternity, Jesuit piety was based on worldly experiences. To seek and find God in all things lay at the core of Jesuit spirituality and piety. So far, research has primarily paid attention to the scientific activities of the Jesuits in their missions in different parts of the world, but has neglected the meaning of things and material culture within this religious approach.
Philip Hahn, Tübingen:
Sensible Faith. Towards a Sensory History of ‚Matters of Faith‘ in the Early Modern Period
Recent research into the ‚Christian materiality‘ and the sensory regimes and practices of early modern confessional cultures has blurred established stereotypes: Late medieval piety was not as ‚sensual‘ as traditionally assumed, Lutheranism was not only focussed on hearing, and the Reformed churches were not principally anti-sensual. Sensory historical research has, moreover, revealed that the sixteenth-century religious upheavals were influenced by ancient and medieval notions of the functioning of the senses, which were gradually superseded by newer theories in the course of the seventeenth century.
Rather than just confining oneself to a revisionist deconstruction of the sensory side of the transition from medieval to early modern times, though, one could take advantage of the sensory historical approach’s potential to reinterpret the relationship between perception and ‚matters of faith‘ in the early modern period. Above all, this means to acknowledge the inner logic of sensory perception instead of interpreting it as a symptom of religious culture. By means of a case study of an early modern town in the Holy Roman Empire, the paper will demonstrate the interplay between religious sensory cultures and other factors that influence the history of the senses like natural philosophical, medical, hygienic, and aesthetic ideas. For on the one hand, regarding the senses as ‚matters of faith‘ had an impact beyond the religious sphere, but on the other hand, the production of religious knowledge was influenced by the extent to which a society regarded the senses as reliable.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal H
Hauptgebäude
Überblick
(Dominik Fugger, Franziska Turre, Erfurt,
Überblick
(Dominik Fugger, Franziska Turre, Erfurt, Paola von Wyss-Giacosa, Zürich)
Yann Dahhaoui, Lausanne:
Los primeros padres se conformaron con las çerimonias de los gentiles. Comparing Pagan and Christian rites in Early Modern Spain
Franziska Turre, Erfurt:
Heidenstereotype in der konfessionellen Auseinandersetzung des 16. und 17. Jahrhunderts
Sergio Botta, Rom:
Towards a Global Theory of Polytheism in Fray Juan de Torquemada’s Monarquía Indiana
Paola von Wyss-Giacosa, Zürich:
Vielgötterei und Feuerkult. Der Blick des britischen Geistlichen Henry Lord auf die Religionen Indiens
Dominik Fugger, Erfurt:
Das Eigene und das Andere zugleich: Frühneuzeitliche Blicke auf das germanische Heidentum
Heidentum oder Heidentümer? Frühneuzeitliche Perspektiven auf den Polytheismus
Gelehrte der europäischen Frühen Neuzeit hatten vielerlei Anlass, sich mit dem Polytheismus auseinanderzusetzen. Sie fanden Heidentum einerseits in der historischen Überlieferung, der europäischen wie der alttestamentlichen, und andererseits in ihrer Gegenwart, indem die europäische Expansion im Zuge von Mission und Handelskontakten immer neue Nachrichten über die Religionen der Welt erzeugte. Zwar ist der Standpunkt der Gelehrten notwendigerweise ein christlicher; doch tatsächlich entwickelt sich seit dem 16. Jahrhundert eine Vielzahl an Perspektiven, die man auf das Heidentum einnehmen konnte. Neben den universalistischen Blick auf „das Heidentum“ tritt das Interesse an einer genaueren Beschreibung geographisch, historisch oder ethnographisch bestimmter „Heidentümer“. Auch der Blick auf „den Heiden“ ist keinesfalls immer derselbe, sondern bewegt sich in einer weiten Spannbreite. Die hiermit vorgeschlagene Sektion will diese Landschaft anhand ausgewählter Beispiele schlaglichtartig beleuchten.
So soll etwa gefragt werden, welchen Einfluss die Entstehungsvorstellungen von Heidentum auf das Verhältnis haben, in das der Polytheismus, den die Zeitgenossen in ihrer Gegenwart oder in historischen Quellen vorfanden, zur christlichen Religion gesetzt wird. Die Tatsache, dass man sich Heidentum nicht anders denn als Abfall von der Offenbarung denken konnte, schafft Nähe und Distanz zugleich. Tatsächlich ist der Heide, anders als der Gottlose, keine ausschließlich negativ besetzte Figur: Die Quellen kennen ihn auch als frommen Heiden, weisen Heiden oder wilden Heiden.
Weiter kann man fragen, ob sich die Prinzipien, nach denen Heidentum klassifiziert und bewertet wird, unterschieden, je nachdem ob man das historisch überwundene oder der gegenwärtig noch bestehende Heidentum in den Blick nahm. Die Frage, ab wann sich der theologische, historische und ethnographische Blick voneinander differenzieren, gehört ebenso in diesen Zusammenhang. Schließlich: Welche Rolle spielen tatsächliche oder erdachte religiöse Praktiken bei der Differenzierung der heidnischen Religionen; welche Rolle spielen religiöse Vorstellungen, welche Rolle ethnographische Konzepte?
Die Sektion möchte ausgewählte Perspektiven auf das Heidentum in diesem Sinne vergleichend zusammenbringen. Dabei sollen das für die Zeitgenossen bereits historische europäische und das ihnen gegenwärtige außereuropäische Heidentum etwa gleichgewichtig repräsentiert sein. Jeweils ein Vortrag ist der Wahrnehmung indischen und mexikanischen Heidentums gewidmet, zwei Beiträge zeigen verschiedene Perspektiven auf das antike, besonders römische Heidentum, und ein weiterer Vortrag behandelt das germanische Heidentum in den Augen der Zeitgenossen.
Yann Dahhaoui, Lausanne:
Los primeros padres se conformaron con las çerimonias de los gentiles.Der Vergleich heidnischer und christlicher Riten im frühneuzeitlichen Spanien
Sowohl der vermeintliche Argwohn der Katholischen Kirche gegenüber allem Heidnischen als auch die Suche nach „Übereinstimmungen“ zwischen dem Katholizismus und antiken heidnischen Kulten bei protestantischen Kontroverstheologen mit dem Ziel, Kontinuitäten zu beweisen, haben dazu geführt, dass Historiker, die sich mit antiken Religionen beschäftigen, ihre Vorgänger eher unter protestantischen als unter altgläubigen Gelehrten gesucht haben. Ein Gutachten eines Kaplans und Griechischprofessors an der Universität von Toledo, Alvar Gómez de Castro, über den Stand und die Ursprünge der Vestalinnen, das 1562 auf eine Anfrage einer doña María de Mendoza hin entstand, beweist, dass das Interesse an diesem Themenkreis die konfessionellen Grenzen überschritt. Das Werk bringt verschiedene liturgische Bräuche ausdrücklich mit heidnischen Vorgängern in Verbindung. Dabei geht es dem Autor weniger darum, die dargestellten Bräuche zu verurteilen, als darum, durch den erkannten Zusammenhang moralische Lehren aus der paganen Vergangenheit für die christliche Gegenwart zu gewinnen.
Franziska Turre, Erfurt:
Heidenstereotype in der konfessionellen Auseinandersetzung des 16. und 17. Jahrhunderts.
Die Formierung und Abgrenzung der Konfessionen verlieh den gelehrten Vorstellungen über das historische Heidentum eine besondere Aktualität, insofern als die Frage nach der Reinheit und Authentizität der christlichen Praxis mit der Freiheit von heidnischen „Missbräuchen“ (Abgötterei) zusammengedacht wurde. Daraus folgte notwendigerweise eine Abgrenzung des eigenen christlichen Verständnisses von jeglicher heidnischen Praxis, was sich besonders an kontroverstheologischen Schriften in dieser Zeit zeigen lässt. Der Fokus soll bei der Untersuchung dieses Phänomens auf volkssprachlichen Quellen liegen, um damit jene Bilder in den Blick zu bekommen, die breiteren Bevölkerungskreisen von „dem Heidentum“ und „den Heiden“ vermittelt wurden.
Sergio Botta, Rom:
Anfänge einer globalen Polytheismus-Theorie in Fray Juan de Torquemadas Monarquía Indiana.
Ziel des Vortrags ist eine Untersuchung der Anwendung westlicher Vorstellungen „polytheistischer Götter“ innerhalb des mesoamerikanischen Kontextes. Polytheismus soll dabei nicht nur als gebräuchliche Kategorie der Religionswissenschaft begriffen werden, sondern auch als Erzeugnis eines kolonialen Diskurses. Die Monarquía Indiana von Fray Juan de Torquemada, 1615 in Sevilla veröffentlicht, stellt einen der bedeutendsten Versuche dar, indigene Religionen innerhalb einer interpretativen globalen Sicht religiöser Diversität einzugliedern. Das Werk von Torquemada, Produkt eines modernen Prozesses von “Mondialisierung”, enthält Überlegungen zum Wesen mesoamerikanischer Götter aus einer bahnbrechenden Perspektive. Der Franziskaner entwickelte die von Missionaren während der frühen Phase kolonialer Geschichte eingesetzten Methoden und Strategien wesentlich fort. Im Kontext moderner religionsgeschichtlicher Diskurse stellt das Werk Torquemadas nicht nur einen „ethnographischen“ Versuch dar, die Komplexität indigener Religionen zu erfassen, um deren Evangelisierung weiter zu treiben. Die Überlegungen des Missionars über indigene Gottheiten sind vielmehr als entscheidender Schritt innerhalb der modernen Konstruktion einer globalen Polytheismus-Theorie zu begreifen.
Paola von Wyss-Giacosa, Zürich:
Vielgötterei und Feuerkult. Der Blick des britischen Geistlichen Henry Lord auf die Religionen Indiens.
In den auf die Gründung der britischen East India Company im Jahr 1600 folgenden Jahrzehnten wurde eine ganze Reihe von Werken englischer Autoren veröffentlicht, die einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis Indiens, vor allem des Mogulreichs und Gujarats, leisteten. Das wohl bedeutendste ist A Display of two Forraigne Sects in the East Indies des protestantischen Geistlichen Henry Lord. Der Autor des 1630 erschienenen Buches war fünf Jahre lang, von 1624 bis 1629, als Kaplan in Surat tätig, wo man die erste Handelsniederlassung der East India Company gegründet hatte. Einer biblischen Ordnung entsprechend, mit den hinduistischen Vorstellungen der Schöpfung der Welt und des Menschen beginnend, stellt der schmale Band einen frühen Versuch dar, die Glaubensinhalte der Hindus wie auch der Parsen jenseits der reinen Beobachtung mit einer vergleichenden Methodik systematisch zu studieren. Entsprechend ergiebig erscheint diese Quelle für eine Untersuchung wiederkehrender und neuer, spezifischer und allgemeiner Vorstellungen zu einem indischen Heidentum.
Dominik Fugger, Erfurt:
Das Eigene und das Andere zugleich: Frühneuzeitliche Blicke auf das germanische Heidentum
Die Beschäftigung mit dem germanischen Heidentum ist für die mittel- und nordeuropäischen Gelehrten von einer besonderen Spannung geprägt: Als Christen (nicht selten als ausgebildete Theologen) schrieben sie über religiöse Zustände, deren Überwindung zu den wesentlichen Elementen ihres Selbstverständnisses gehörte. Das Heidentum erscheint in dieser Perspektive als die notwendige Kontrastfolie, ohne die das religiöse Eigene nicht erkennbar wird. Zugleich aber war das Heidentum als Glaube und Tun der eigenen Vorfahren Teil der eigenen Geschichte und wurde damit auch als Teil des eigenen geschichtlichen Seins wahrgenommen. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das die Beschäftigung mit dem historisch zurückliegenden Heidentum die gesamte Frühe Neuzeit hindurch prägt und dem der Vortrag anhand ausgewählter Beispiele aus der nördlichen Religionsgeschichtsschreibung nachgehen möchte.
Abstracts (English version):
Paganism or paganisms? Early-modern Views of Polytheism
Scholars in early-modern Europe had many occasions to concern themselves with polytheism. They could find it not merely in the historical record, relating both to Europe and to the Old Testament but also in their own day, in that the expansion of Europe constantly produced information about the religions of the world in the course of missionizing and trade. These scholars naturally viewed all this from the Christian point of view, but in the course of the sixteenth century several different approaches to paganism did indeed emerge: in addition to an universalising perspective on ‘paganism’, we also find an interest in describing different ‘paganisms’ in greater detail, be it with regard to geography, history or ethnography. Nor were views of ‘heathens’ by any means always the same, but likewise covered a broad span. The aim of this Section is to throw some light on this landscape by focusing on a small number of examples.
One question might focus on the influence that views of the emergence of paganism had upon the way that the relation between polytheism, whether contemporary or as known from historical sources, and Christianity was represented. The fact that paganism was necessarily constructed as a deviation from revelation allowed both distance and nearness: unlike the godless, the pagan was a by no means exclusively negative figure. The sources view him variously as the pious pagan, the wise pagan, or the savage pagan. Moreover, one can ask whether the principles according to which paganism is classified and evaluated vary, depending on whether the object in view is a purely historical paganism of the past, or a contemporary, still living paganism. In this connection, one can also ask when theological, historical and ethnographic perspectives begin to diverge from one another. Finally, what role did real or merely imaginary religious practices play in this process of differentiation between pagan religions: what was the role of religious ideas as against ethnographic concepts?
The aim of the Section is to compare selected views of paganism along these lines. Cases involving already past paganisms in Europe are intended ideally to balance those involving contemporary non-European examples. One presentation each is thus devoted to perceptions of Indian and Mexican paganism, two offer different perspectives on ancient, mainly Roman, paganism, and a fifth discusses German paganism as viewed by contemporaries.
Yann Dahhoui, Lausanne:
Los primeros padres se conformaron con las çerimonias de los gentiles. Comparing Pagan and Christian Rites in Early Modern Spain
Both the supposed distrust of the Catholic Church in everything pagan and the gathering of “conformities” between Catholicism and ancient pagan cults by Protestant polemists (for the purpose of proving continuity between them) have led historians of ancient religions to look for forerunners among scholars who embraced Reformation rather than among those who remained true to the “old faith”. The expert report On the order and origins of the Vestals virgins written in 1562 in response to the request of a doña María de Mendoza by Alvar Gómez de Castro, a chaplain and professor of Greek at the University of Toledo, shows that interest in such matters extended beyond the confessional boundaries. Keeping condemnation of the customs described to a minimum, the work explicitly links several Christian liturgical customs with pagan antecedents and uses these links to draw moral lessons for the Christian present from the pagan past.
Franziska Turre, Erfurt:
Stereotypes of Paganism in the Confessional Debates of the Sixteenth and Seventeenth Centuries.
Learned ideas of historical paganism were highly pertinent during the period of the formation and mutual self-differentiation of the confessions, since the issue of the purity and authenticity of Christian practice was closely bound up with the licence of pagan ‘malpractice’ (idolatry). The inevitable consequence, well illustrated by the contemporary culture of theological debate, was a determination to separate one’s own Christian practice from all suspicion of paganism. The main focus of this study is upon sources in the vernacular, so as to provide an understanding of the image of ‘paganism’ and ‘heathens’ that was conveyed to lay folk beyond the circle of the learned
Sergio Botta, Rom:
Towards a Global Theory of Polytheism in fray Juan de Torquemada’s Monarquía Indiana
The aim of this paper is to examine the application of the Western idea of “polytheistic god” within the Mesoamerican context and to observe polytheism not only as a conventional category of Religious studies, but also as a product of a colonial discourse. The Monarquía Indiana – published in Seville in 1615 by Fray Juan de Torquemada – represented one of the most significant efforts to incorporate Indigenous religions within an interpretative global vision of religious diversity. As a product of a modern process of “mondialisation”, the work of Torquemada reflected on the nature of Mesoamerican gods from a ground breaking point of view. The Franciscan produced an evolution of the missionary methods and strategies used during the first part of colonial history. In the context of modern discourses on religion, the work of Torquemada does not represent only an „ethnographic“ attempt to understand the complexity of Indigenous religions in order to promote evangelization. On the contrary, the missionary reflection on Indigenous gods established a key stage in the modern construction of a global theory of polytheism.
Paola von Wyss-Giacosa, Zürich:
Polytheism and Fire Cult – the British Minister’s Henry Lord Perspective on Indian Religions
In the centuries following the establishment of the British East India Company in the year 1600 several works by English authors were published that offered an important contribution to the knowledge of India, and more specifically of the Mogul Empire and Gujarat. A Display of two Forraigne Sects in the East Indies, authored by the Protestant minister Henry Lord, must probably be considered the most outstanding among these books. For five years, from 1624 to 1629, Lord had served as a chaplain in Surat, where the very first commercial settlement of the East India Company had been founded. The small volume, organized like the Bible and starting with the Hindu notions of the creation of the world and of men, is a point in case for an early attempt to study the Hindu as well as the Parsee religious beliefs not merely by pure observation but in a systematic manner and by means of a comparative approach. Accordingly, Lord’s book may be regarded as a fruitful source for an investigation of recurring as well as new, both general and more specific notions on an Indian paganism.
Dominic Fugger, Erfurt:
“Are they like us or not?” Early-Modern Views of Germanic Paganism
Discussion of Germanic paganism was especially problematic for scholars in central and northern Europe. As Christians ‒ and not infrequently trained theologians ‒ they were writing about religious modalities whose rejection constituted a significant part of their self-understanding. From this perspective, paganism offered a constrastive foil without which their own religion lacked specific contours. At the same time, paganism, i.e. the beliefs and practice of peoples these scholars viewed as their ancestors, was also part of their own history and thus understood as part of their own historical being. This tension can be traced throughout the entire early-modern discussion of historical paganism in central and northern Europe, as the presentation will seek to demonstrate on the basis of selected examples from the relevant scholarly texts.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-C
Philosophenturm
Überblick
(Andreas Bähr, Berlin, Jan-Friedrich Missfelder,
Überblick
(Andreas Bähr, Berlin, Jan-Friedrich Missfelder, Zürich)
Andreas Bähr, Jan-Friedrich Missfelder:
Einführung
Anna Kví alová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Deafness, Disability and Hardness of Hearing in Reformation Geneva
Jan-Friedrich Missfelder, Zürich:
Der Geisterhörer. Gespensterkommunikation in der Reformation
Andreas Bähr, Berlin:
Innere Stimmen und göttliches Getöse. Zur divinatorischen Macht des Akustischen im 17. Jahrhundert
Lyndal Roper, Oxford:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version)
Ein bis heute wirkmächtiges Narrativ will es, dass die Moderne ihr Wissen über das Sehen gewinnt. Das zeichne sie als fortschrittlich gegenüber einer Vormoderne aus, die sich noch weitgehend auf Hören und Hörensagen verließ und so über das Glauben, im Sinne des bloßen Meinens, nicht hinausgekommen sei. Bestätigung bezieht das Theorem etwa aus dem lutherischen Paradigma des fides ex auditu: aus dem protestantischen Gedanken, dass nicht nur innerweltliches Wissen, sondern vor allem auch der religiöse Glaube sich im Entscheidenden aus dem Hören speiste – und zu speisen hatte. Das zugrundeliegende Geschichtsbild verlässt sich auf modernisierungs- und säkularisierungstheoretische Vorannahmen und ist als great divide theory in die Geschichte (der Sinne) eingegangen. In dieser Perspektive bleibt jedoch ungeklärt, welche spezifische epistemologische Bedeutung das Hören für religiöse und säkulare Wissensbestände ebenso wie für deren vielfältige Überschneidungen besaß.
Die Sektion fragt nach dem Stellenwert des Ohres als Erkenntnisorgan in der Frühen Neuzeit. Welche epistemologischen Funktionen kamen dem Hören bei der Gewinnung von Wissen ebenso wie bei seiner Verbreitung zu? Wie wurde die Differenz zwischen Glauben und Wissen sensorisch produziert? Die Beiträge fragen zunächst nach dem frühneuzeitlichen Wissen vom Hören, um damit zu erschließen, welches Wissen durch das Hören gewonnen wurde – und auf welche Weise dies geschah. Mit den auditiven Wegen zur Wahrheit und zum Heil diskutieren sie dann immer auch, wie sich in der Frühen Neuzeit das Verhältnis von Wissen und Glauben bestimmte sowie das Wissen über den Glauben gestaltete. Besondere Virulenz entfalten diese Fragen mit Blick auf die „Kanäle“, durch die sich göttliche und teuflische Mächte Gehör verschafften, ebenso wie in der Problematik der physiologischen Taubheit.
Anna Kvíčalová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Gehörlosigkeit, Behinderung und Schwerhörigkeit in Genf während der Reformationszeit
Obwohl Auseinandersetzungen mit der Reformationszeit oftmals deren Fokussierung auf das Hören und Sprechen religiöser Instruktionen betonen, wurde dem Thema Gehörlosigkeit in diesem Kontext bisher wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit dem Phänomen der Schwerhörigkeit im frühen Genfer Calvinismus und beleuchtet den damit einhergehenden Entstehungsprozess neuer sinnlicher Kommunikationsformen. Ein Blick auf die Stellung Schwerhöriger und Gehörloser in diesem neuen System der Verteilung religiösen Wissens erlaubt eine Vertiefung und Revision des Verständnisses von der Rolle des Hörens und Sprechens in der calvinistischen Epistemologie und hinterfragt damit zugleich das tiefsitzende historiographische Einverständnis, dass Gehörlose und Schwerhörige marginalisiert und vom Erlösungsversprechen im Europa des 16. Jahrhunderts ausgeschlossen waren. Zudem ermöglicht eine Analyse der Kategorien Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit eine eingehendere Betrachtung der Entstehung neuer Sinnes- und Körpernormierungen im calvinistischen Genf: Besonders hier wurde Gehörlosigkeit nie als eine rein körperliche Beeinträchtigung verstanden, sondern kann vielmehr als Resultat eines Wechselspiels zwischen dem physischen Körper und seiner sozialen Umwelt, repräsentiert durch neu geschaffene religiöse Normen, gesehen werden. In den Genfer Primärquellen steht Gehörlosigkeit für eine große Bandbreite an Hörbeeinträchtigungen und ist oft nicht zu unterscheiden von Eigenschaften wie Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit oder Intelligenzminderung. Dieser Beitrag möchte somit zeigen, dass Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit nicht nur eine spezifische Stellung innerhalb der calvinistischen Epistemologie einnahmen, sondern dass diese Phänomene hier gleichzeitig neu definiert und konstruiert wurden – und dies alles vor dem Hintergrund eines Regimes der Sinnesregulierung, in dem neue Regeln für die auditive Kommunikation religiösen Wissens und neue Normierungen des Zuhörens eingeführt wurden.
Andreas Bähr, Berlin:
Innere Stimmen und göttliches Getöse. Zur divinatorischen Macht des Akustischen im 17. Jahrhundert
Wer auf Basis auditiver oder visueller Erscheinungen Aussagen über künftiges Geschehen zu machen proklamierte, stand in der Frühen Neuzeit unter großem Beglaubigungsdruck; denn Göttliches war stets von Natürlichem und – wichtiger noch – von Teuflischem zu unterscheiden. Dies gilt bereits für das 16. Jahrhundert, das selbsternannten Propheten mit zunehmendem Misstrauen begegnete; erst recht aber gilt es für das 17. Jahrhundert, in dem eine erfahrungsbezogene Medizin ihren Deutungsanspruch auszubauen begann und eine vermehrte Pathologisierung des Stimmenhörens und divinatorischen Träumens zu beobachten ist. In diesem Horizont konnten nonverbale akustische Phänomene epistemologische „Verstärker“-Funktionen entfalten. Dies zeigt sich beispielsweise in pietistischen Konversionserzählungen, in denen innerliches Glockengeläut und „Rumoren“ die Göttlichkeit herzenszerknirschender Bekehrungsaufforderungen unterstreicht und so als buchstäblicher „Buß-Wecker“ fungiert. Es zeigt sich aber auch am anderen Ende des konfessionellen Spektrums: in der Autobiographie des Jesuiten Athanasius Kircher, den 1631 in Würzburg ein innerliches Getöse aus dem Schlaf gerissen habe, um sein Ordenskolleg – vermittelt über eine angeschlossene Wachvision – vor dem bevorstehenden Angriff Gustav Adolfs von Schweden zu warnen. Kircher, der sich nicht nur intensiv mit akustischen Verstärker-Systemen beschäftigte, sondern auch mit der körperlichen Macht und Gewalt von Tönen, Klängen und Geräuschen, ist ein besonders signifikantes Beispiel für das divinatorische Potential des Auditiven im 17. Jahrhundert. Dieses wiederum lässt nicht auf einen frühneuzeitlichen Primat des Hörens gegenüber dem Sehen schließen, sondern auf deren spezifisches und komplementäres Verhältnis.
Abstracts (English version)
According to one of the most enduring and powerful meta-historical narratives, knowledge in modernity is obtained through the sense of sight. Premodern times were, on the contrary, allegedly charactarised by the reliance upon hearing and hearsay leading, rather, to belief and stagnation instead of knowledge and progress. In the religious sphere, the Lutheran maxim fides ex auditu informed the Protestant dogma that faith exclusively depended upon hearing the word of God. In the history of the senses, this contradiction resulted in the infamous great divide theory with its strong undercurrents of modernisation and secularisation theory linking sight to (scientific) reason and, instead, hearing to religious faith. What is largely ignored in this perspective is the specific epistemological status of hearing with respect to both religious and secular knowledge and their various overlaps.
Our panel seeks to investigate the role of the ear as an organ and instrument of knowlegde in the early modern period. We ask for its epistemological functions in the process of gaining and distributing religious and scientific knowledge. How was the difference between knowledge and belief produced sensorially? We are equally interested in forms of knowledge about hearing as in the ways in which knowledge was produced through hearing. By tracking the auditive paths to truth and salvation alike, the papers seek to analyse the specifically early modern relations between faith and knowledge as well as the early modern ways of knowledge about (religious) faith. In this resepct, the auditory „channels“ and media of knowledge through which God and the devil made themselves heard deserve particular attention: preachers’ voices, inner voices and ghosts’ voices demanding close historical listening.
Anna Kvíčalová, Berlin:
Creating Hearing Difference: Deafness, Disability and Hardness of Hearing in Reformation Geneva
Despite the Reformation often being associated with the centrality of hearing and spoken religious instruction, the topic of deafness has received only marginal scholarly attention in this context. This paper proposes to put hearing disability at the center of research on early Calvinism in Geneva, arguing that it allows us to observe the process by which new patterns of sensory communication were fashioned after the Reformation. On the one hand, attending to the position of the deaf and hard of hearing in the new system of distribution of religious knowledge deepens and revises our understanding of the role of hearing and speaking in Calvinist epistemology, and challenges the ingrained historiographical notion that the deaf and hard of hearing were marginalized and generally excluded from salvation in sixteenth-century Europe. On the other hand, exploring the parameters of the categories of deafness and hardness of hearing brings us to the heart of the process by which new norms of bodily conduct and sense perception were fashioned in Calvinist Geneva. Especially as regards this second aspect, deafness is never understood as a purely physical impairment but may be interpreted as result of the interplay between the physical body and its social environment, the latter in this case most clearly represented by the newly constructed religious norms. In the Genevan primary sources deafness stands for a wide range of hearing disabilities and is often indistinguishable from characteristics such as forgetfulness, inattention, or lack of intelligence. This paper thus argues that deafness and hardness of hearing not only occupied a specific place in Calvinist epistemology, but also were defined and constructed afresh in the new regime of the management of the senses, where new rules for the auditory communication of religious knowledge and standards of listening were introduced.
Andreas Bähr, Berlin:
Hearing God’s Noise: On the Divinatory Power of Sounds in the Seventeenth Century
In the early modern era, those proclaiming to know the future from auditory or visual apparitions were under significant pressure to authenticate their assertions, as divine messages were considered to be categorically different from natural occurrences and, more importantly, diabolical instigations. This was true already of the sixteenth century when contemporaries were becoming suspicious of „false prophets“. It was even more the case, however, in the seventeenth century, when theologians were increasingly losing ground against physicians who pathologised those who believed to hear divine voices and to dream divinatory dreams. Against this background, nonverbal acoustic phenomena could serve as epistemological „amplifiers“. For example, in Pietist conversion narratives, bells heard only by the believers themselves were considered to be a call to do penance. In a similar vein, the Jesuit Athanasius Kircher wrote how in Würzburg in 1631 he was woken by an inner noise which warned him and his confreres of the imminent attack by the Swedish forces led by Gustavus Adolphus. The works of Kircher, who took a peculiar interest not only in acoustic amplification but also in the physical power and violence of sounds, are particularly indicative of the divinatory potential of auditory phenomena in the seventeenth century. This is not to say, however, that, in terms of historical epistemology, the early modern ear was more important than the eye, but that the two senses were seen to complement each other.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal K
Hauptgebäude
Überblick
(Andreea Badea, Rom) Steven Vanden Broecke,
Überblick
(Andreea Badea, Rom)
Steven Vanden Broecke, Gent:
How (not) to be a Catholic Copernican after 1616: Evidence from the Low Countries
Andreea Badea, Rom:
Wahrheitsanspruch und Wissensautorität oder wer darf eine Geschichte der Kirche schreiben?
Marco Cavarzere, München:
Die plurale Wahrheit der frühneu- zeitlichen Rechtsverwaltung: Kasuistik und juristische Normen
Bruno Boute, Münster:
A Bureaucracy of Truth? Confessional Orthodoxy and Bureaucratic Truth in the 17th Century
Abstracts (scroll down for English version):
Die Sektion nimmt sich der Praktiken der Wissensbildung zwischen Konfrontation, Dissimulation und Anpassung im 17. Jahrhundert an und fragt nach den Formen der Wahrheitsgenerierung an Beispielen aus der Astronomie, Theologie, Jurisprudenz und Geschichtsschreibung. Wie konnten Überzeugungen und Erkenntnisse derart validiert werden, dass sie für wahr gehalten wurden und wie standen sie in Relation zu der vertretenen theologischen Wahrheit? Die Beiträge verfolgen die Herstellung von Glaubwürdigkeit innerhalb und in Abgrenzung von Religion im katholischen Kontext.
Steven Vanden Broecke, Gent:
Katholische Kopernikaner nach 1616? Die Niederlande als frühneuzeitliches Laboratorium
Auf das 17. Jahrhundert bezogen, behauptete Michel de Certeau, Wahrheit sei weniger das, was eine bestimmte Gruppe verteidige, als dasjenige, das sie benutzt, um sich selbst zu schützen. Im Falle der katholischen Haltung gegenüber dem Kopernikanismus findet diese These durchaus Bestätigung unter Historiker/innen.
Wie es scheint, war die antikopernikanische Polemik seit dem Dekret Pauls V. vom 5. März 1616 durchaus von den interkonfessionellen Debatten und von den Unterstützungsversuchen des Monopolisierungsanspruchs bezüglich der Bibelexegese durch Polemik motiviert worden. Doch belegen neue Forschungen zum Löwener Theologen Libertus Fromonduns (1587–1653), dass das katholische Verständnis von der Kopernikanischen Herausforderung komplexer war und dass De Certaus Forderung durchaus Interpretationsraum zulässt. Diesen wird der Vortrag mit einer Untersuchung des vielschichtigen Hintergrunds katholischer Stellungnahme zum Kopernikanismus in den Niederlanden neu abstecken.
Andreea Badea, Rom:
Wahrheitsanspruch und Wissensautorität oder wer darf eine Geschichte der Kirche schreiben?
Das Festhalten an der doppelten Wahrheit blieb auch im Jahrhundert der Kritik ein zentrales Charakteristikum römisch katholischer Geschichtsschreibung. Auf die historiographischen Selbstvergewisserungsarbeit von lutherischer Seite antwortete man aus Rom zwar unter Berücksichtigung neuer Methoden, doch stets der Ahistorizität verbunden. Eine vollkommene Identifizierung mit den papstnah geschaffenen Werken vermied man allerdings an der Kurie: Die Päpste vergaben keine offiziellen Geschichtsaufträge und enthielten sich so auch einer offiziellen Auslegung von Geschichte. Der Vortrag wird auf die Ambiguität zwischen dem römischen Anspruch auf universale Kontrolle und dem Verzicht auf historiographische Positionierung eingehen.
Marco Cavarzere, München:
Die plurale Wahrheit der frühneuzeitlichen Rechtsverwaltung: Kasuistik und juristische Normen
In der Frühen Neuzeit hatten Gesetzessammlungen eher den Charakter von Ausnahmensammlungen. Weder betrachteten Juristen „Normen“ als festgelegte Klassifikationen menschlichen Verhaltens, noch sahen sie das Recht als typisches Merkmal der Herrschaft. Im Gegenteil; Recht wurde als der Natur immanent wahrgenommen, weshalb auch die Beziehung zwischen Herrschaft und Recht eher als Einzelfallregulierung verstanden wurde. Dieses stark auf den Einzelfall fokussierte Denken war jedoch kein Spezifikum der Jurisprudenz, sondern weitläufig präsent im Bewusstsein der Zeitgenossen. Untersuchungen zur theologischen Kasuistik belegen solche Feststellungen auf eindrückliche Art und Weise. Besonders als sowohl die Staaten als auch die Kirchen ihr Monopol auf andere Formen politischer Beziehungen auszudehnen trachteten, wurde die Normierung des Einzelfalls immer dringender. Folgerichtig überschwemmte eine Flut an theologischen und juristischen practicae den Buchmarkt im Laufe der Frühen Neuzeit und brachte den Ruf nach Regulierung auf. Nur am Ende dieses so begonnenen Weges stand die sich im späten 18. Jahrhundert herausbildenden Vorstellung von der Ausnahme als Synonym des Anormalen. Der Vortrag will anhand von Quellen zeigen, wie Kasuistik ein wichtiges Element wurde, um die sowohl theologische als auch juristische Wahrheit zu verwalten.
Bruno Boute, Erlangen:
Eine Bürokratie der Wahrheit? Konfessionelle Orthodoxie und die bürokratische Wahrheit an der Universität Löwen im 17. Jahrhundert
Die plurale Welt des frühneuzeitlichen Katholizismus erschwerte es den Universitäten deutlich, ihren Anspruch auf Deutungshoheit in Fragen der Doktrin aufrecht zu erhalten.
Die Verteidigung dieses Anspruchs führte dazu, dass die Universität Löwen zu einer der am besten dokumentierten Institutionen im römischen Inquisitionsarchiv geworden ist.
Die Kardinäle des heiligen Offiziums und ihre Theologen erwogen wiederholt, die vom Heiligen Stuhl an die Akademiker gewährten Privilegien zurückzunehmen. Sie bedienten sich ähnlicher Strategien durchaus auch gegenüber Paris, dem anderen Unruheherd in theologischen Fragen.
Ein solches Vorgehen kann durchaus unterschiedlich gelesen werden, ob als Zwang bzw. Erpressung oder als Rechtsaushöhlung, es sind aber auch andere Lesarten möglich: Der Vortrag geht der Verwirkung von Wahrheit und Bürokratie nach, in den Kreisen der Bürokraten des Glaubens in Rom im gleichen Maße wie im gelehrten Mikrokosmos im Norden, das sich durch die Verwaltung seiner akademischen Privilegien stets reproduzieren konnte.
Abstracts (English version):
This Session wishes to explore different forms of Truth-making in the 17th Century amidst confessional confrontation, strategies of dissimulation, and tactics of adaptation. Feeding into examples drawn from the history of Astronomy, Theology, Law and Historiography itself, it focusses on the central problem of credibility: how could convictions and insights be verified, to the extent that they were considered „true“, i.e. real facts? And how did these different forms of knowledge relate to theological Truth? The contributions to this session seek to adress this problem both within and in confrontation with religious change in early modern Catholicism.
Steven Vanden Broecke, Gent:
How (not) to be a Catholic Copernican after 1616: Evidence from the Low Countries
In a classic essay on the relation between truth and social practices in the 17th century, Michel de Certeau claimed that in this period, “truth appears less as what the group defends and more as what it uses to defend itself” (De Certeau, The Writing of History, p. 127). This claim would certainly appear to hold true for 17th-century Catholic positions on Copernicanism. Beginning with the anti-Copernican Roman decree of 5 March 1616, such positions are usually held to have been determined by confessional polemics and the interests of maintaining a monopoly on Scriptural exegesis. However, recent research on Louvain theologians like Libertus Fromondus (1587–1653) suggests that their understanding of the Copernican challenge was far more complex, and that De Certeau’s claim –while not incorrect- requires careful interpretation and elaboration. This paper seeks to do this by presenting the case of Fromondus against a broader background of Catholic attitudes to Copernicanism in the Low Countries of this period“.
Andreea Badea, Rom:
The Claim to Truth and the Authority of Knowledge or Who is Allowed to Write a History of the Church?
Even in the time in which scholars questioned every written word, the Roman Catholic historiography still devoted itself to the double truth. In fact Roman historiographers answered the Protestant practices of self-assertion by adopting certain savant methods, while, however, still staying closely connected with an ahistorical view provided by their theological work. The Curia even refrained from identifying itself with the history books written by its own dignitaries. The Early Modern popes never authorized historical descriptions and abstained from making official statements on history. This paper aims to explain why an institution which seemed to govern every aspect of social, political and religious life never directed its own history.
Marco Cavarzere, München:
Plural Truth in Early Modern Jurisdiction: Casuistics and Juridical Norms
In early modern times, collections of laws usually took the shape of codes of exceptions. In fact, jurists did not intend “norms” as pre-determined classifications of the whole human behavior and did not consider law an attribute of sovereignty; on the contrary, law was seen as consubstantial to the natural reality. The connection between Herrschaft and law could thus be represented only by case-by-case norms.
Such “thinking by case” was not peculiar to jurisprudence, as theological “casuistry” clearly shows throughout the early modern period. At this time, the issue of mapping norms out of single cases became considerably urgent, since States and Churches sought then to impose their monopoly on other forms of political relationships. Consequently, a flood of theological and jurisprudential practicae invaded the book market, giving relief to the call for regulation. Only in the late eighteenth century, exception gradually became a synonym for abnormal.
This paper aims to understand the common elements between moral and political casuistries by analyzing some sources.
Bruno Boute, Erlangen:
A Bureaucracy of Truth? Confessional Orthodoxy and Bureaucratic Truth at the University of Louvain, 17th Century
In the immensely plural worlds of early modern Catholicism, universities faced considerable difficulties upholding their claims to a binding Magisterium or collective authority in doctrinal affairs. It is in similar circumstances that the University of Louvain ended op as one of the best documented institutions of Christianity in the Archives of the Inquisition in Rome. Interestingly, the Cardinals of the Holy Office and their theologians recurrently pondered revoking academic privileges granted by the Holy See in order to nudge stubborn Divines into compliance with papal decrees, a strategy that was also considered with respect to that other trouble spot, Paris. This might be considered just one another unsavory example of Might crushing Right, of strategies of coercion and blackmail that are difficult to reconcile with modern understandings of sound science management. Another approach is possible however. This paper will explore how such episodes can offer an excellent vantage point to explore the tangled nature of Truth and bureaucracy: among the Bureaucrats of the Faith in Rome as much as in learned microcosm in Flanders that lived by the bureaucratic practice of academic privilege.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
PHIL-C
Philosophenturm