September
Überblick
(Joachim von Puttkamer, Jena) Włodzimierz Borodziej,
Überblick
(Joachim von Puttkamer, Jena)
Włodzimierz Borodziej, Warschau/Jena, Maciej Górny, Warschau:
Einleitung: Der Krieg nach dem Kriege – Politische Visionen und Gewalt im Osteuropäischen Bürgerkrieg
Robert Gerwarth, Dublin:
Zwischen Restauration und Faschismus. Rechte paramilitärische Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg
Jochen Böhler, Jena:
Jenseits von Nationalstaat und Revolution. Gesinnung und Gewalt regulärer Streitkräfte gegen Zivilisten in Ostmitteleuropa, 1918–1921
Christopher Gilley, Hamburg:
Glaube an den allukrainischen/allrussischen Aufstand. Narrative der Verzweiflung im Russischen Bürgerkrieg
Patrick Houlihan, Chicago:
Katholizismus und der Große Krieg. Religion und Alltag in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg
Wolfgang Knöbl, Hamburg, Jörn Leonhard, Freiburg:
Kommentar: Gesinnung und Gewalt im Osteuropäischen Bürgerkrieg
Joachim von Puttkammer, Jena:
Moderation
Abstracts (scroll down for English version)
Jochen Böhler, Jena:
Jenseits von Nationalstaat und Revolution. Gesinnung und Gewalt regulärer Streitkräfte gegen Zivilisten in Ostmitteleuropa, 1918 – 1921
In Ostmitteleuropa bedeutete das offizielle Ende des Ersten Weltkrieges 1918 nicht das Ende der Gewalt. Die Niederlage der Mittelmächte und der Untergang des Zarenreiches mündeten vielmehr in einem Osteuropäischen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf sich die Nachfolgestaaten der Imperien konstituierten und die neuen Grenzverläufe in der Region untereinander ausfochten. Die Rote Armee, nationale Streitkräfte und paramilitärische Einheiten verübten dabei zahlreiche Gräueltaten gegen Zivilisten und Kriegsgefangene.
Mit Ausnahme von einigen wenigen Pogromen gegen polnische Juden, die auch seinerzeit international für Aufsehen sorgten, sind die Hintergründe dieser Gewalttaten bisher kaum erforscht worden. Ganz offenbar spielten bei Übergriffen gegen Juden, „Bolschewisten“ und „Konterrevolutionäre“ Weltbild, Glaube und Überzeugung der Täter – Antisemitismus, revolutionäres Fieber oder ein ultrakonservatives Weltbild – eine entscheidende Rolle. Doch bei ethnisch motivierter Gewalt, wie sie etwa Polen gegen Ukrainer oder Ukrainer gegen Polen im polnisch-ukrainischen Konflikt 1918/19 anwandten, ist die Frage der Motivation nicht so einfach zu beantworten.
Der Vortrag sucht daher nach Gründen für Gewalt gegen Unbeteiligte in Ostmitteleuropa zwischen 1918 und 1921 auch unterhalb der Ebene politischer Utopien und Ideologien. Monolithische Erklärungsversuche führen hier nicht weiter: Bei den Übergriffen kam vielmehr zumeist ein ganzes Bündel ideologischer und situativer Faktoren zum Tragen, wie es die Gewaltforschung zum Zweiten Weltkrieg bereits detailliert herausgearbeitet hat. Deren Ansätze sollen für die hier dargelegten Fallbeispiele fruchtbar gemacht werden.
Robert Gerwarth, Dublin:
Zwischen Restauration und Faschismus. Rechte paramilitärische Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg
Für die Wahrnehmung des „Bolschewismus“ durch seine Gegner auf der ganzen Welt spielte Gewalt eine zentrale Rolle. Sie war zugleich integraler Bestandteil ihrer “Antworten” auf die Bedrohung, selbst in Ländern, in denen eine kommunistische Revolution unwahrscheinlich war. Der russische Bürgerkrieg mit seinen mindestens 3,5 Millionen Toten war äußerst brutal, aber die Gerüchte über den Bolschewismus, die sich in Windeseile verbreiteten und nach Westen ausbreiteten, stellten dies noch in den Schatten: Geschichten von einer auf den Kopf gestellten öffentlichen Ordnung, von einem nie endenden Kreislauf von Verbrechen und Strafe inmitten des allgegenwärtigen moralischen Zusammenbruchs inmitten einer der ehemaligen europäischen Großmächte. „Westliche“ Werte, Glaubensmuster und Kultur, so schien es, waren in Gefahr.
Angesichts solcher Berichte aus Russland überrascht es nicht, dass die westlichen Medien sich gegenseitig darin überboten, möglich düstere Bilder der bolschewistischen Führung und ihren Unterstützern zu zeichnen. Die Apokalypse hatte plötzlich einen neuen Namen: „Russischen Bedingungen“ wurde zum stehenden Begriff, der eine Umkehrung aller moralischen Werte des „Westens“ zu beschreiben sollte. Politische Plakate der Rechten malten buchstäblich den Bolschewismus als Dämon oder Skelett mit blutigem Dolch zwischen den Zähnen an die Wand. Variationen dieses Plakat erschienen nicht nur in Frankreich und Deutschland, sondern auch in Polen und Ungarn.
Nicht unähnlich der Situation im späten achtzehnten Jahrhundert, als Europas herrschende Eliten entsetzt einen jakobinischen „apokalyptischen“ Krieg befürchteten, nahmen viele Europäer nach 1917 an, dass der Bolschewismus sich ausbreiten würde, um den Rest der alten Welt zu „infizieren“. Zwangsmobilisierung und die Einleitung von Maßnahmen gegen die wahrgenommen Bedrohung waren die Folge. Ultrakonservative militante Milieus vor allem in Mitteleuropa waren überzeugt, dass angesichts der Gefahr einer „bolschewistischen Ansteckung“ die Anwendung rücksichtsloser Gewalt gerechtfertigt war. Der Vortrag beschreibt und analysiert verschiedene Formen antibolschewistischer Gewalt und ihre Rechtfertigung in ganz Europa nach 1917.
Patrick J. Houlihan, Oxford:
Katholizismus und der Große Krieg. Religion und Alltag in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg
Die katholische Religion bestimmte die Herzen und Geister vieler Glaubenden während und nach dem Großen Krieg. In der Säkularisierungstheorie und im literarischen Modernismus wurzelnde kulturelle Konventionen verschleiern die quirligen religiös motivierten Prozesse auf dem Mittel- und Osteuropäischen Kriegsschauplatz, die weit über den 11. November 1918 hinaus nachwirkten. In dieser von der Historiographie weitgehend vernachlässigten Gegend stellten Katholiken bäuerlicher Herkunft die Mehrheit der historischen Akteure, geprägt von vielfältigen religiös verankerten Erfahrungen. Ihre religiöser Alltag während des Krieges macht es schwierig, das kulturelle Erbe des Großen Krieges in Standarderzählungen abzuhandeln.
Den engen nationalen Rahmen sprengend, beschäftigt sich der Vortrag mit einer länderübergreifenden katholischen Alltagserfahrung von Krieg und Revolution in Mittel- und Osteuropa und eröffnet damit neue Perspektiven auf scheinbare altbekannte Themen wie die Dolchstoß-Legende, den Völkerfrühling in Osteuropa und die bolschewistische Revolution von 1917 bis 1921. Er stützt sich auf Archivrecherchen aus dem Alltag historischer Akteure jenseits der Erzählungen von Bischöfen und Geistlichen über einen “gerechten Krieg”, indem er auch die Lebensgeschichten, Gedankenwelten und Weltbilder von Soldaten, Frauen und Kindern mit einbezieht. Er richtet den Blick gleich auf mehrere (persönliche, lokale, nationale, imperiale, grenzüberschreitende) Alltagsebenen in der unmittelbaren Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1922, insbesondere auf Seiten der “Kriegsverlierer” in Ost-Mitteleuropa, und hebt damit Kontinuitäten und Änderungen hervor, mit sowohl heilender als auch zerstörerischer Wirkung in den Nachfolgestaaten der deutschen und österreichisch-ungarischen Kaiserreiche. So untersucht der Vortrag religiöse Tradition in einem Brennpunkt der Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts, um zu einem besseren Verständnis europaweiten religiösen Lebens in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beizutragen.
Christopher Gilley, Hamburg:
Glaube an den allukrainischen/allrussischen Aufstand. Narrative der Verzweiflung im Russischen Bürgerkrieg
Waren die russischen Bauern politisch? Verteidigten sie lediglich ihre örtlichen und materiellen Interessen oder verfolgten sie weitergereichende ideologische Ziele? Das war lange Zeit eine der zentralen Fragen, die Historiker der Russischen Revolution und des Bürgerkrieges umtrieben. Neuere Arbeiten über die russischen Bauern nach 1917 heben hervor, dass diese mehr wollten als Land: sie hofften, engagierte Bürger innerhalb des neuen Staates zu werden. Zugleich haben in jüngster Zeit deutsche Historiker den Stellenwert politischer Ideen im Zusammenhang mit gewaltsamen Bauernaufständen heruntergespielt. Die Partisanen vergossen Blut, um innerhalb eines sozialen Gewaltraumes zu überleben und die Oberhand zu gewinnen.
Der Vortrag will diese unterschiedlichen Ansätze zusammenbringen, indem er aufzeigt, welche Narrative russische und ukrainische Bauern entwarfen, um ihren Kampf gegen vielerlei Akteure im Russischen Bürgerkrieg zu legitimieren. Die Aufständischen verbreiteten diese Narrative nicht nur in Broschüren, Flugblättern und Zeitungen, sondern auch in Liedern, Kostümen und Fotografien. Die Narrative beschrieben, wie die Bauern sich selber sahen; sie markierten die Gegner der Bauern, ihre missliche Lage und deren mögliche Abhilfe. Dabei übernahmen sie die Sprache der nationalen und sozialistischen Utopien der verschiedenen Konfliktparteien. Ein verbindendes Element war der Glaube an einen allukrainischen oder allrussischen Aufstand, in dessen Verlauf die Bolschewisten entmachtet würden. Dieser Glaube diente den Aufständischen sich und anderen gegenüber als Rechtfertigung, warum sie selbst in hoffnungsloser Lage den Kampf nicht aufgaben. Aus dieser Perspektive waren die politischen Ansichten der aufständischen Bauern eine Reaktion auf die Bedingungen des Bürgerkrieges. Sie waren oftmals lediglich zweckgebunden, doch bedeutet das nicht, dass sie für die Handlungen der Aufständischen keine Rolle spielten.
Der Vortrag untersucht diese Narrative anhand der Grigor’ev-Erhebung in der Ukraine und des Bauernaufstandes in Tambow/Russland.
Włodzimierz Borodziej, Warschau/Jena und Maciej Górny, Warschau:
Der Krieg nach dem Kriege – Politische Visionen und Gewalt im Osteuropäischen Bürgerkrieg
Im November 1918 war Europa überfüllt mit Erlösungsideen verschiedener Provenienz und Alters. Manche stammten aus dem Schatzkasten des Nationalgedankens des 19. Jahrhunderts, einige gewannen erst infolge des Großen Kriegs an Attraktivität. Alle bemühten sich, das Trauma eines nun offenbar sinnlosen Krieges durch Zukunftsentwürfe zu bewältigen. 1986 skizzierte Tibor Hajdu ein Tableau, das die in Ostmittel- und Südosteuropa häufigsten Varianten zu systematisieren versuchte: Dieser Teil des Kontinents sei etwa zur gleichen Zeit Schauplatz miteinander verwobener pazifistischer, sozialistischer, bäuerlicher und nationaler Revolutionen gewesen.
Die Thesen Hajdus bilden der Ausganspunkt des Impulsreferats. Dieser Ansatz steht in einem bewussten Widerspruch zu den traditionellen, nationalen Narrativen, die sich vor allem auf den eigenen Kampf um die Unabhängigkeit oder auf die transnationalen Gemeinsamkeiten der sozialen Revolutionen konzentrierten. Die Härten des Krieges an der Front, des hungernden Hinterlandes und der degradierenden Besatzung schufen eine Art offenen Raum für ganzheitliche Visionen, die den nunmehr zu Staatsbürgern aufgestiegenen, bisherigen Untertanen der Imperien erfolgreich eine grundsätzliche Wende ihrer Biographien versprachen. Dies fiel zusammen mit der Erfahrung von Gewalt als einem – nach vier Jahren Ausnahmezustand selbstverständlichen – legitimen Mittel der Austragung jeglicher Konflikte, die nach 1918 aus den dominierenden antiimperialen und revolutionären Strömungen resultierten.
Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Fragen, die eine traditionelle politische und Ideengeschichte mit Gewaltforschung zum Ersten Weltkrieg verbinden. Der ostmitteleuropäische Bürgerkrieg ist ohne diese Verknüpfung nicht zu verstehen.
Abstracts (English version)
Jochen Böhler, Jena:
Beyond the Nation State and Revolution: Sentiments and Violence of the Regular Armed Forces Against Civilians in Central and Eastern Europe, 1918 – 1921
In Central and Eastern Europe, the official end of the First World War in 1918 did not mark the end of violence. Rather, the defeat of the Central Powers and the downfall of Tsarist Russia resulted in an East European civil war, during which the successor states of empires emerged, fighting against one another along the new frontiers of the region. The Red Army, national armed forces and paramilitary units committed numerous atrocities against civilians and prisoners of war.
With the exception of a few pogroms against Polish Jews, which at that time caused an international stir, the background of these acts of violence has barely been explored. Quite obviously, attacks against Jews, „Bolsheviks“ and „counterrevolutionaries“ were largely motivated by the worldview, beliefs and convictions of the perpetrators: anti-Semitism, revolutionary fever or an ultra-conservative worldview. But in the case of inter-ethnic violence in the Polish-Ukrainian conflict of 1918/19 – Poles against Ukrainians and Ukrainians against Poles – the question of motivation is difficult to answer.
This paper, therefore, looks for the roots of violence against innocent bystanders in Central and Eastern Europe in 1918–1921 and further explores beneath the surface of political utopias and ideologies. Monolithic explanations are not getting us any further; rather, as research on violence in the context of the Second World War has shown in detail, such violations took place in a setting defined by ideological and situational factors. As such, these approaches shall be adapted to the case studies presented here.
Robert Gerwarth, Dublin:
Between Restoration and Fascism: Right-Wing Paramilitary Violence After the First World War
Violence was central to how “Bolshevism” was perceived by its opponents across the globe and integral to the response with which it was met even in countries in which a Communist revolution was unlikely. The Russian civil war was obviously very brutal, with at least 3.5 million people killed, but the rumours about Bolshevism that flourished and drifted westwards were even worse: stories of a social order turned upside down, of a never-ending cycle of atrocities and retribution amidst moral collapse in what had previously been one of the Great Powers of Europe. “Western” values, belief patterns, and culture, so it seemed, was in jeopardy.
Unsurprisingly, given the nature of reports emanating from Russia, the Western media competed in painting the bleakest possible image of the Bolshevik leadership and their supporters. The apocalypse suddenly had a new name: ‘Russian conditions’, a term commonly used to describe an inversion of all moral values of “the West”. Political posters of the right began to portray Bolshevism as a spectral or skeletal figure with a bloody dagger clamped between its teeth. Variations of this poster appeared not only in France and Germany, but also in Poland and Hungary.
Not dissimilar to the situation in the late eighteenth century when Europe’s horrified ruling elites feared a Jacobin “apocalyptic” war, many Europeans after 1917 assumed that Bolshevism would spread to “infect” the rest of the old world, prompting violent mobilization and action against the perceived menace. Ultra-conservative militant milieus in especially Central Europe were convinced that against the danger of a “Bolshevik contagion”, the application of ruthless violence was justified. This paper will describe and analyse different forms of anti-Bolshevik violence and their justification throughout Europe after 1917.
Patrick J. Houlihan, Oxford:
Catholicism and the Great War: Religion and Everyday Life in Eastern Europe after the First World War
The Catholic religion was a major factor in the hearts and minds of believers during and after the Great War. Cultural conventions grounded in secularization theory and literary modernism obscure the effervescence of the religiously motivated action that took place in Central and Eastern Europe, with legacies that continued long after 11 November 1918. In these historiographically underrepresented regions, Catholic believers from rural backgrounds were the majority of historical actors with a variety of religiously based experiences. Their religious everyday lives during war and revolution complicate the standard narratives of the Great War’s cultural legacy.
Transcending narrow national frameworks, this paper examines a transnational everyday Catholic experience of war and revolution across Central and Eastern Europe, offering new perspectives on such traditional themes as the “stab-in-the-back” myth, the “springtime of nations” in Eastern Europe, and the Bolshevik Revolutions of 1917–1921. This paper draws on archival research from the everyday lives of historical actors beyond the “just-war” narratives of bishops and clergy, incorporating the life stories, thought-worlds, and worldviews of soldiers as well as women and children. By looking at everyday life on multiple levels (personal, local, national, imperial, transnational) in the immediate interwar period from 1918–1922, especially from powers that „lost“ the war in East Central Europe, this paper stresses continuities as well as changes: with both healing and destructive effects in the successor states of the German and Austro-Hungarian empires. Thus, this paper critiques religious tradition at a focal point of twentieth-century history, leading to a better understanding of pan-European religious life in the aftermath of the Great War.
Christopher Gilley, Hamburg:
Faith in the All-Ukrainian / All-Russian Uprising: The Narrative of Despair in the Russian Civil War
Were the Russian peasants political? Did they only seek to defend their local and material interests or did they have broader ideological goals? This has long been one of the central questions posed by historians of the Russian Revolution and Civil Wars. Recent studies of the Russian peasantry after 1917 have sought to emphasise that peasants wanted more than just land: they hoped to become active citizens within the new state. At the same time, recent German-language accounts of peasant insurgent violence have downplayed the role of political ideas. The partisans’ bloodletting was a means of surviving and prospering within a social space dominated by violence.
This paper seeks to reconcile the differing approaches by examining how Russian and Ukrainian peasants constructed narratives to legitimise their insurgencies against the various warring parties of the Russian Civil Wars. The insurgents projected these narratives not only through brochures, leaflets and newspapers, but also in songs, costumes and photographs. The narratives described how the peasants viewed themselves; they identified the peasants’ enemies, set out their grievances and vaguely suggested possible remedies. They adopted the language of the nationalist and socialist projects proclaimed by the various sides of the conflict. One common element was the faith in an all-Russian or all-Ukrainian uprising that would sweep the Bolsheviks from power. This belief served to help the insurgents explain to themselves and others why they continued to fight even in hopeless conditions. Viewed from this perspective, the political views of the peasant partisans were responses to the conditions of the Civil Wars. They often only had an instrumental purpose, but that does not mean that they were incidental to the insurgents’ activity.
This paper investigates these narratives by looking at cases from the Hryhor’iev rising in Ukraine to the Tambov rebellion in Russia.
Włodzimierz Borodziej, Warschau/Jena und Maciej Górny, Warschau:
The War After the War – Political Visions and Violence in the Eastern European Civil War
In November 1918, Europe was overflowing with ideas of redemption that had their root in various origins and ages. Some stemmed from the treasure chest of nineteenth century ideas of nationalism while others only gained attraction in the course of the Great War. All of these attempts aimed at dealing with the trauma of a war – a war that had apparently become senseless – by formulating visions for the future. At roughly the same time, this part of the continent was a venue for interwoven pacifist, socialist, peasant and national revolutions. Based on these notions, Tibor Hajdu sketched a tableau in 1986 which attempted to systematize the most common variations in these visions of the future in Central and Southeastern Europe.
Hajdu‘s theses form the starting point of this opening paper. This approach stands in conscious opposition to traditional, national narratives that focused mainly on their own struggle for independence or on the transnational commonalities of social revolutions. The hardships of war at the front, the starving hinterland and the degrading occupation, created a sort of open space for holistic visions that promised a fundamental change in the biographies of the new-fledged citizens and former subjects of the empires. This coincided with the experience of violence – almost self-evident after four years of a state of emergency – as a legitimate means for dealing with any conflicts stirred up by the dominant anti-imperial and revolutionary currents after 1918.
This paper focuses on questions that combine a traditional, political and intellectual history with research on violence in the First World War. Without such a link, the Central European Civil War cannot be understood.
Überblick
(Birgit Schäbler, Erfurt) Birgit Schäbler, Erfurt: Ernest
Überblick
(Birgit Schäbler, Erfurt)
Birgit Schäbler, Erfurt:
Ernest Renan, the Muslims and the Islamization of Modernity
Angelika Neuwirth, Berlin:
Scared by History? »The Unthought in Islamic Thought«
Umar Ryad, Utrecht:
Salafism in Egypt in the 1920s–1930s: Between Elitism and Populism
Leif Stenberg, Lund:
History and the Islamization of Science
Abstract:
It has been a „matter of faith“ within European scholarship, especially in the 19th century, the century which has been classified as one that “transformed the world”, that „Islam“ was not and could not be „modern“. It is one of the ironies of history that at a time when scholars in Europe denied Middle Easterners and Islam thus access to what they defined as modernity, those scholars formulated their own answers to the challenges posed by the century in an ongoing debate with Europe. “Europe” here is Western Europe, specifically France, England and Germany, in a “hyperreal” sense (Dipesh Chakrabarty).
While Europe set out to conquer the globe, European societies themselves grappled with the effects which rapid change, acceleration of all walks of life and the colonial expansion, despite all the triumphalism that accompanied it, brought with them. In this situation, scholars were claiming science and “true scholarship” for Europe alone, hailing them as markers of modernity, devaluating “traditional”, i.e. historical forms of knowledge. European scholars especially in what were to become the humanities, Geisteswissenschaften, were absorbed with the „perfection of the human mind“. This noble aim implied a discovery of the “origins” and bases of the Occident and Christianity. In the process of finding and authenticating one’s own self it became important to differentiate Europe, the Occident, from its others, especially its closest neighbour and longstanding rival, the Orient and Islam. History and philology, especially Oriental philologies overlapped in this endeavor. In the process of defining the Occident „scientifically“, the Orient and Islam had to be analyzed equally „scientifically“. It is in the second half of the 19th and the first half of the 20th century that the interaction within these spheres of knowledge on the one hand and between Europe and the Muslim East on the other hand engendered processes and developments the effects of which we are still witnessing today.
For in the same time span elites in the Middle East were heavily preoccupied with very similar questions, yet under different auspices. They too were examining their „origins“, in order to find out the reasons why they had lost their ground vis-à-vis Europe. Their soul-searching in the face of European superiority in many cases went along, on the one hand, with accepting 19th century
(negative) European notions about the state of the art of all kinds of knowledge and its traditions in Muslim lands. This devaluation of their own history and traditions led to the essentialization of Islam that we are seeing today. On the other hand, European forms of knowledge were devaluated, too, in the eyes of Muslim modernists who positioned themselves flatly against “Europe” and its history, also in Islamic terms. In this sense modern Islam was formulated in an interaction and entanglement with Europe – as a part of global modernity. This panel seeks to untie some of the strands of this knot.
One important aspect is the immense impact on the valorization of the Qur’an’s authority which was implied in these movements. Rediscovering a sort of Enlightenment thought in the text of the Qur’an the 19th and early 20th century reformers declared the Qur’an a “rationalist text”. Severed from its exegetic tradition accumulated over centuries the Qur’an emerged as the sole authority in matters even of mundane problems. Isolated from the other monotheistic traditions of Judaism and Christianity (ahl al-kitab), the Qur’an appeared as the absolute New – completely remote from its milieu of genesis in late antiquity. Vexed by the thus emerging tendency toward fundamentalism, today’s “newthinkers” try to de-tabooize the historical dimension, “unthought in Islamic thought” (Arkoun).
The arguments of the Muslim modernists of the late 19th century became a fault-line in the 1920s- 1930s, especially after the abolishment of the Caliphate. The early “elitist” (Salafi) ideas were politically radicalized and turned into populist discourses that addressed Muslim sentiments around such issues as atheism, Christian mission, sectarianism, and “moral corruption” in Muslim society. In this respect, what we are seeing today is still a polarization of these strands of thought, which are, however, historically young.
When it comes to contemporary Muslims discussing from an Islamic perspective the need to “islamize science”, they are reluctant to refer to what can be described as the history of ideas of their own discourse. So what is the role and function of history in contemporary discourse, and what are the motivations and justifications of current ideas about the “true” relationship between Islam and modern science?
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Barbara Potthast, Köln, Nina Schneider,
Überblick
(Barbara Potthast, Köln, Nina Schneider, Köln)
Silke Strickrodt, London:
Sticken für die christliche Mission: Mustertücher als Quelle für die Erfahrungswelten afrikanischer Kinder in Sierra Leone, 1820er–1840er
Katharina Stornig, Mainz:
Die Kindheit des Sklaven/der Sklavin: Repräsentationen ostafrikanischer Sklavenkinder in christlichen Medien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Barbara Potthast, Köln:
Die Repräsentation von Kindern und Jugendlichen im Paraguaykrieg (1864/5–1870)
Vanessa Höse, Köln:
Gefährlich und gefährdet: Straßenkinder im Fokus der argentinischen Magazinpresse, 1900–1920
Nina Schneider, Köln:
Die fotografische Repräsentation von Kinderarbeit in Brasilien im frühen 20. Jahrhundert
Abstracts:
Silke Strickrodt, Birmingham:
Sticken für die christliche Mission: Mustertücher als Quelle für die Erfahrungswelten afrikanischer Kinder in Sierra Leone, 1820er-1840er
Der Vortrag diskutiert die Repräsentation von Kindern durch christliche Missionsgesellschaften in der britische Kolonie Sierra Leone in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen dabei Mustertücher, die von afrikanischen Mädchen in Missionsschulen angefertigt und von den Missionaren an Unterstützer/innen der Mission in Großbritannien geschickt wurden. Diese Tücher sollten Zeugnis von der Lernfähigkeit der Kinder und der erfolgreichen Arbeit der Missionare geben. Als direkte, von afrikanischen Kindern stammende Quellen sind die Tücher einzigartig, doch was können solche materielle Quellen oder „Textil-Dokumente“ über die Erfahrungs- und Lebenswelten dieser Kinder in den Missionsschulen aussagen? Im Vortrag werden der Entstehungskontext wie die Nutzungsgeschichte dieser Tücher untersucht, wobei der Instrumentalisierung von Kindern für Werbezwecke durch die Missionare im Kontext der Neubewertung von Kindheit in Europa in dieser Zeit besondere Aufmerksamkeit gilt.
Katharina Stornig, Mainz:
Die Kindheit des Sklaven/der Sklavin: Repräsentationen ostafrikanischer Sklavenkinder in christlichen Medien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Der Vortrag von Katharina Stornig analysiert die Repräsentation von Sklavenkindern aus dem nordöstlichen Afrika in deutschsprachigen Missionszeitschriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seit der Jahrhundertmitte propagierten vor allem katholische Gruppen die Expansion der Missionstätigkeit im Inneren Afrikas mit Verweis auf beides, die Rettung von Seelen und die Befreiung von Körpern aus Sklaverei und Sklavenhandel. Dabei standen insbesondere Kinder im Zentrum der Argumentation: Die missionarischen Werbeschriften fokussierten häufig auf Sklavenkinder, die sie zum einen als unschuldige Opfer grausamer Erwachsener und zum anderen als besonders empfänglich für die christliche Unterweisung repräsentierten. Die Missionen druckten und verbreiteten zahlreiche Berichte aus Afrika, mittels welchen sie die Schicksale von Sklavenkindern für eine deutsche Öffentlichkeit glaubwürdig darstellen und um finanzielle Unterstützung werben wollten. Dabei handelt es sich nicht nur um gedruckte (Kurz-)Biografien, Augenzeugenberichte, Fotos und literarische Erzählungen von Sklavenkindheiten, sondern vereinzelt auch um (vermeintliche) Selbstzeugnisse, Kindheitserinnerungen und Briefe ehemaliger Sklaven und Sklavinnen. Der Vortrag setzt hier an. Im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit ausgewählten Zeitschriften („Jahresbericht des Vereins zur Unterstützung der armen Negerkinder“, „Das Negerkind“, „Echo aus Afrika“), sollen deren Möglichkeiten und Grenzen als historische Quellen diskutiert werden. Es wird argumentiert, dass Teile dieser Zeitschriften – trotz ihrem propagandistischen und oft stereotypen Charakter – auch wertvolle Einblicke in die Leben und Erfahrungen einer bislang von der Geschichtswissenschaft nur wenig beachteten Gruppe von Kindern in außereuropäischen Gesellschaften erlauben.
Barbara Potthast, Köln:
Die Repräsentation von Kindern und Jugendlichen im Paraguaykrieg (1864/5-1870)
Während des sog. Paraguay- oder Tripel Allianz Krieges (1864/5 – 1870), des blutigsten Krieges in Lateinamerika im 19. Jh., wurden auf paraguayischer Seite in den letzten beiden Kriegsjahren Kinder und Jugendliche eingezogen. Um der Gegenseite über die Schwäche und Dezimierung des paraguayischen Heeres zu täuschen, kämpften Kindersoldaten in einer der letzten Verteidigungsschlachten mit angeklebten Bärten. Bereits während des Krieges entbrannte in der Propaganda sowohl der Alliierten als auch der Paraguayer eine Debatte über den Einsatz von Kindersoldaten, die zur Untermauerung der jeweiligen politischen Positionen diente. Der Vortrag wird diese Debatte anhand von Zeitungsmeldungen, Bildmaterial sowie Memoiren nachzeichnen.
Vanessa Höse, Köln:
Gefährlich und gefährdet: Straßenkinder im Fokus der argentinischen Magazinpresse, 1900-1920
Im Kontext von Urbanisierung, Masseneinwanderung und Sozialer Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmete sich die argentinische Presse extensiv Fällen von Straßenkindern, Familiendramen, Waisenkindern, Kinderarbeit und straffälligen Kindern im städtischen Raum. Insbesondere Fragen der Delinquenz, Internierung und Reformierbarkeit von Kindern und Jugendlichen geriet in den Fokus der Bildpresse. Kinder wurden dabei zu einer Projektionsfläche für die gesellschaftlichen Umbrüche und Probleme der urbanen Gegenwart, über die sich Diskurse von Ökonomie, Pädagogik, Famile, Geschlecht, Kriminalistik und Hygiene entfalteten.
Der Vortrag wird vor allem auf bildanalytischer Ebene zeigen, wie über die Frage der Kindheit defizitäre Familienverhältnisse problematisiert, die Rolle von Wohlfahrtorganisationen evaluiert und letztlich die Notwendigkeit eines fürsorglichen Staats behauptet und durchgesetzt werden konnte. Die Problematisierung von Kindern und Jugendlichen aufgrund sozialer Prekarität und deviantem Verhalten gewann dadurch im argentinischen Magazinjournalismus biopolitischen Charakter und wurde zum Fluchtpunkt von Debatten um die Verfasstheit der Nation.
Nina Schneider, Köln:
Die fotografische Repräsentation von Kinderarbeit in Brasilien im frühen 20. Jahrhundert
Der Beitrag diskutiert fotografische Repräsentation von Kinderarbeit Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts in Brasilien. Kinderarbeit war in Brasilien lange Zeit kein gesellschaftlich relevantes Thema. Erst in den 1970er Jahren formierten sich erste soziale Bewegungen gegen Kinderarbeit. Bis heute fehlen detaillierte Forschungen, wie viele Kinder zur Jahrhundertwende arbeiteten, um welche Altersgruppen es sich handelte und in welchen Sektoren sie eingesetzt wurden. Unerforscht ist zudem, ob bestimmte Tätigkeiten Kindern einer bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppe bzw. einem Geschlecht zugeteilt wurden. Der Beitrag zeigt die Schwierigkeit auf, geeignete Quellen über Kinderarbeit zu finden und geht der Frage nach: Inwieweit kann Fotomaterial die historische Forschungslücke schließen insbesondere wenn wenig (oder keine) weitere Quellen zur Triangulierung vorliegen? Was sind Vor- und Nachteile von Bildquellen, speziell inwiefern erhellt oder verdeckt die fotografische Darstellung die Handlungsmacht von Kindern? Fotos, so die Hypothese, haben nicht nur das Potenzial, zu einer mehrstimmigeren Geschichtsschreibung beizutragen, sondern helfen, anachronistische moralische Bewertungen kritisch zu reflektieren und zu differenzierteren Ergebnissen zu gelangen. So zeigen Fotos aus verschiedenen Archiven in Rio und Sao Paulo, dass die Arbeitsbedingungen sehr stark variierten und dass, obgleich Kinder häufig physisch ausgebeutet wurden, sie Ausbildungen erhielten die mit einer Lehre vergleichbar sind. Das Fotomaterial hilft somit Fragen aufzuwerfen und Ambivalenzen aufzuzeigen, welche bestmöglich durch weitere Quellen eindeutiger geklärt werden können.
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
Phil-E
Philosophenturm
Überblick
(Lisa Dittrich, München) Lisa Dittrich, München: Einführung Lisa
Überblick
(Lisa Dittrich, München)
Lisa Dittrich, München:
Einführung
Lisa Dittrich, München:
Europäischer Antiklerikalismus zwischen Säkularisierung und religiöser Suche
Martin Baumeister, Rom:
Sakralisierung der Politik und Politisierung der Religion in den europäischen Faschismen: Eine Historisierung des Konzepts der »politischen Religion«
Helena Tóth, Bamberg:
Religion als Ritual: Namensweihen in der DDR und in Ungarn
Lucian Hölscher, Bochum:
Säkularität zwischen Inkarnationstheologie und Religionsverachtung – die Großkirchen in der Nachkriegszeit
Siegfried Weichlein, Fribourg:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Religion ist eine umstrittene Kategorie. Wissenschaftliche Diskussionen verschiedenster Disziplinen drehen sich bis heute darum, wie sie als Analysekonzept zu fassen sei. In historischen und zeitgenössischen Glaubensdebatten war und ist der Begriff umkämpft. Er wandelte sich im 19. und 20. Jahrhundert grundlegend und der bis heute gültige universale Religionsbegriff entstand erst in diesem Zeitraum. Zugleich entwickelte sich das Konzept der Säkularisierung. Eine methodische Auseinandersetzung mit Religion und ihrem Gegenpol Säkularisierung als Analysekategorien öffnet einen Raum, darüber nachzudenken, wie religiöse Phänomene im 19. und 20. Jahrhundert beschrieben werden können, und kann Anregungen für die jüngsten Debatten über die Charakterisierung der Religionsgeschichte dieser Epoche bieten.
Die Säkularisierungsthese sowie die Gegenthese der Persistenz der Religion bestimmten jahrzehntelang die Diskussion. Der Glaubenskampf um beide Meistererzählungen scheint aber zu schwinden. Die empirische Gültigkeit von Säkularisierungstendenzen ist zumindest im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts nicht von der Hand zu weisen trotz der weiter bestehenden Wirkmächtigkeit von Religion. Diese Erkenntnis schafft Raum für nuanciertere Interpretationen, die beide Tendenzen zugleich in den Blick nehmen und das Verhältnis von Religion und Säkularität, von Sakralem und Profanem ins Zentrum des Interesses stellen. Anknüpfend an diese Debatten wird das geplante Panel den Begriff Religion und seinen Gegenpart Säkularisierung als Analysekategorien in den Mittelpunkt rücken und fragen, wie religiöse Phänomene in ihrer Pluralität im Zeitalter der Säkularisierung analysiert werden können. In der Zusammenschau verschiedener empirischer Beispiele aus unterschiedlichen Ländern und politischen Regimen soll das Panel eine Zwischenbilanz zu bestehenden Untersuchungskonzepten ziehen und dazu beitragen, das Verhältnis von Religion und Säkularisierung im 19. und 20. Jahrhundert weiter zu erhellen.
Lisa Dittrich, München:
Europäischer Antiklerikalismus zwischen Säkularisierung und religiöser Suche
Die Schwierigkeit religiöse Phänomene im Kontext von Säkularisierung adäquat zu beschreiben stellt sich geradezu paradigmatisch im Fall des Antiklerikalismus. Antiklerikale stritten im Europa des 19. Jahrhunderts für Säkularisierung. Säkularisierung war hier kein automatischer Prozess der Moderne, sondern ein erkämpftes oder zu erkämpfendes Modell für Staat und Gesellschaft, in dem Kirchen und Religion eine geringere Rolle spielen sollten. Zugleich war der Antiklerikalismus, wie anhand von Beispielen aus Frankreich, Deutschland und Spanien deutlich wird, nicht antireligiös oder areligiös, sondern in ihm manifestierte sich konfessionsübergreifend auch eine Suche nach neuen Konzepten von Religion und Sakralisierungstendenzen. Damit erweist sich der Antiklerikalismus als Teil der Pluralisierung des religiösen Feldes.
Ausgehend von diesen Befunden zeigt der Beitrag in methodischer Hinsicht, dass nur ein flexibler Umgang mit den Begriffen Säkularisierung und Religion es ermöglicht, der Dynamik des Phänomens gerecht zu werden. Denn in den Kulturkämpfen selbst wurden beide Konzepte diskutiert. Darüber hinaus verdeutlicht der Beitrag die Notwendigkeit einer doppelten Perspektive. Im Falle historischer Phänomene, die wie der Antiklerikalismus am Rande der etablierten Religionsgemeinschaften angesiedelt waren, müssen einerseits die Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen berücksichtigt und damit die Begriffe Religion und Säkularisierung historisiert werden. Anderseits kann nur mittels eines analytischen Zugriffs die Übernahme religiöser Traditionsbeständen nachgewiesen werden.
Martin Baumeister, Rom:
Sakralisierung der Politik und Politisierung der Religion in den europäischen Faschismen – Eine Historisierung des Konzepts der Politischen Religion
Der bis heute einflussreiche klassische, von Zeitgenossen geprägte Begriff der „politischen Religion“ der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts gründet auf einer eindimensionalen Säkularisierungsvorstellung, wonach die schwindende Bindekraft der überkommenen Religionen Raum geschaffen habe für eine Sakralisierung und Divinisierung säkularer Ordnungen wie Nation, Rasse und Klasse. Aktuelle Forschungen betonen dagegen die komplexen, widersprüchlichen Verschränkungen von Religion und Politik unter den fraglichen Regimen. Im Vortrag werden die Überlagerungen und Amalgamierungen, aber auch die Konkurrenz und Gegensätze zwischen „neuer“ Politik und tradierter Religion bzw. Kirche ausgehend vom Verhältnis zwischen dem italienischen Faschismus als Prototyp einer neuartigen Ideologie und Bewegung und dem Katholizismus mit vergleichenden Ausblicken auf den Nationalsozialismus und die iberischen Diktaturen analysiert und dabei die Unschärfe und widersprüchliche Vieldeutigkeit religiöser Semantiken in den zeitgenössischen Deutungskämpfen herausgearbeitet. Die Konjunktur der „politische Religion“ ist ein wichtiger Indikator nicht für den Bedeutungsverlust, sondern vielmehr für die wachsende Virulenz des Religiösen als Deutungs- und Legitimationskategorie unter dem Vorzeichen des Faschismus.
Heléna Tóth, Bamberg:
Religion als Ritual: Namensweihen in der DDR und in Ungarn
Als die Parteifunktionäre und die Mitglieder des kulturellen Establishments im sozialistischen Ost- und Mitteleuropa Ende der 1950er Jahre begannen, über die Einführung sozialistischer rites de passage nachzudenken, sahen sie sich mit verschiedenen Dilemmata konfrontiert. Auch wenn der Sozialismus bereits „real existieren“ sollte, bestanden weiterhin blinde Flecken im alltäglichen Leben, die nicht von der sozialistischen Kultur durchdrungen waren. Insbesondere die Kirchen hatten ihren Einfluss auf die rites de passage bewahren können: Taufe, Hochzeit und Beerdigung.
Sozialistische Staaten hatten in der Nachkriegszeit mit Religion als Institution gerungen. Nun setzten sie sich in einer neuen Phase des sogenannten „Kampfes zwischen den religiösen und säkularen Weltanschauungen“ mit Religion als Ritual auseinander. Man könnte argumentieren, dass die Parteifunktionäre jetzt erst gezwungen waren, sich damit zu beschäftigen, was Religion eigentlich leistet und wie. Ausgehend von Reden zu Namensweihen in Ungarn und der DDR widmet sich der Vortrag des von mir als „Schwellenproblem“ bezeichneten Phänomens. Während im christlichen Ritus die Taufe die Aufnahme der Person in die Gemeinschaft der Kirche markiert, kämpften die sozialistischen Ritualexperten darum, den Namensweihen einen vergleichbaren Sinn zu geben. Taufen sind in ihrer grundlegenden Bedeutung selbstverständlich rites de passage (von einem Status zum anderen). Die sozialistischen Ritualexperten mussten dagegen eine andere Schwelle für das neue Ritual erfinden, da die Babys als Staatsbürger eigentlich bereits mit ihrer Geburt Mitglieder der politischen Gemeinschaft waren.
Durch den vergleichenden Blick auf die unterschiedlichen Lösungen der Ritualexperten für das Schwellenproblem in Ungarn und der DDR wird die Vielfältigkeit der sozialistischen Kulturen verdeutlicht und die unterschiedlichen Funktionen der scheinbar gleichen Riten in den verschiedenen Staaten gezeigt. Darüber hinaus lädt das „Schwellenproblem“ dazu ein, grundsätzlich über die analytische Kategorie des Rituals nachzudenken. Aufbauend auf der Theorie des Rituals der Interaktion von Erving Goffmann und Peter A. Winns Theorie des rechtlichen Rituals schlägt der Vortrag eine dynamische Definition von Ritualen vor, welche uns erlaubt, sozialistische rites de passage als mehr zu denken als eine schlichte Ersetzung religiöser Rituale und zwar als ein konstitutiver Teil einer spezifischen politischen Kultur.
Lucian Hölscher, Bochum:
Säkularität zwischen Inkarnationstheologie und Religionsverachtung – die deutschen Großkirchen in der Nachkriegszeit
Die Bedeutung des Begriffs der ‚Religion’ ist in den modernen westlichen Gesellschaften bekanntlich nicht nur umstritten – Er ist sogar in sich widersprüchlich angelegt: D. h. positive Religionsbegriffe (die die Existenz des Göttlichen voraussetzen) schließen negative Religionsbegriffe (die die Existenz eines Göttlichen leugnen) in sich ein und umgekehrt. Beide sehen sich dadurch einem steten Bewährungsdruck gegenüber der je anderen Seite ausgesetzt.
Das Konzept der ‚Säkularisierung’, das in den letzten Jahrzehnten wegen seiner Vieldeutigkeit vielfach kritisiert worden ist, eignet sich wie kein anderes zur Vermittlung zwischen beiden Seiten und zur Aufnahme der Vielfalt religiöser Bezüge zwischen religiöser Tradition und moderner Gesellschaft. Es ist deshalb als analytische Grundkategorie zur Beschreibung moderner Gesellschaften unverzichtbar.
Die christlichen Kirchen haben in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg einen vielseitigen Säkularisierungsprozess durchlaufen: Mitgliedschaft und Teilnahme an kirchlichen Riten waren insgesamt rückläufig, die Gottesbilder und dogmatischen Positionen haben sich pluralisiert, kirchliche Gruppen und Repräsentanten haben aber auch an gesellschaftlichem Ansehen und Einfluss gewonnen. Diesem ambivalenten Befund Rechnung zu tragen, stellt die Zeitgeschichte vor neue Herausforderungen.
Abstracts (English version)
Religion – a Contested Category. Empirical and Theoretical Approaches for its Use in the Era of Secularization
Religion is a controversial category. Different scientific disciplines discuss to this day how to conceive this analytical concept. In historical and contemporary debates on faith the term was always and is still disputed. During the 19th and 20th century it fundamentally changed, as the universal concept of religion was born during this period. At the same time, the concept of secularization was developed. An analysis of the analytical categories of religion and its other, secularization, opens up a space to think about how to describe religious phenomena in the 19th and 20th century and it can be a stimulus for the most recent debates about the characterization of the history of religion in this époque.
During decades the thesis of secularization and its counter narrative about the persistence of religion marked these debates. But the battle over these two master narratives seems to come to an end. At least in Europe of the 19th and 20th century the empirical validity of secularization cannot be questioned despite of the persistent power of religion. This acknowledgement gives room for nuanced interpretations, which take into account both tendencies and ask for the relation between religion and secularity, between the sacred and the profane. Taking these discussions as a starting point, the panel focuses on religion and secularization as analytical categories, asking how to analyse religious phenomena in their plurality in the age of secularization. In a survey of different empirical examples of several countries and political regimes, the panel aims at drawing an interim balance on existing methodical concepts, helping to clarify the relationship between religion and secularization in the 19th and 20th century.
Lisa Dittrich, München:
European Anticlericalism between Secularization and the Search for New Concepts of Religion
The case of anticlericalism shows in a paradigmatic way the difficulties describing religious phenomena in the context of secularization in an adequate manner. Anticlericals struggled in Europe during the 19th century for secularization. The Secularization was, in this case, not an automatic process of modernity, but it has to be conceptualized as the anticlerical model of state and society, where churches and religion played a minor role. At the same time, anticlericalism was not antireligious or areligious, as shown in examples of France, Germany and Spain. A search for new concepts of religion and tendencies towards a sacralization were also manifest in the anticlerical critic across the confessional divisions. Therefore, anticlericalism proves to be part of the pluralization of the religious field.
In a methodological perspective the paper will argue, that only a flexible use of the terms of secularization and religion can grasp the dynamic of the phenomena, as the both concepts were discussed in the culture wars themselves. Moreover, the religious meaning of anticlericalism has to be analyzed by a twofold perspective. In cases of historical phenomena, which were situated at the edge of the established religious denominations like anticlericalism, it is necessary to reflect the self-conception of the contemporaries on the one hand, therewith historicizing the concepts of religion and secularization. On the other hand the adoption of religious traditions can only be detected with an analytical approach.
Martin Baumeister, Rome:
Sacralization of Politics and Politicization of Religion in European Fascism – A Historization of the Concept of Political Religion
The concept of „political religion“ as coined by contemporaries of the totalitarian regimes of the 20th century continues to be used in historical analysis. It is based on a one-dimensional idea of secularization, claiming that due to the dwindling power of religion there was an increasing sacralisation and divinization of secular notions such as nation, race or class. Current research, however, underlines the complex and contradictory entanglements of religion and politics in the totalitarian regimes. The paper analyses the intersections and the amalgamation as well as the concurrence and conflicts between the “new” politics and traditional religions and churches. Firstly, it focuses on the case of Italian fascism as a prototype of a new ideology and social movement and its relationship with Catholicism; secondly, it draws some comparisons with National Socialism and the Iberian dictatorships, pointing out the blurred and ambiguous character of religious semantics in contemporary debates. The raise of “political religions” is understood as an important indicator not for the decreasing force of religion but for the increasing significance of the religious as an ideological battleground and a means for legitimization under the auspices of fascism.
Heléna Tóth, Bamberg:
Religion as Ritual: Name Giving Ceremony in the GDR and Hungary
When party officials and members of the cultural establishment across socialist Eastern and Central Europe started thinking about introducing socialist rites of passage in the late 1950s, they faced several dilemmas. Although socialism should have been already established (real and existing), several aspects of everyday life still remained blind spots from the point of view of socialist culture. Notably, Churches retained their hold on rites of passage: baptism, weddings and funerals.
Socialist states had already confronted religion as an institution in the aftermath of the Second World War. Now, in a new wave of the so-called struggle “between the religious and secular world views,” they faced religion as ritual. One could well argue that it was only at the end of the 1950s that party officials were forced to think systematically about what religion actually does and, more importantly, how it does it. The paper takes the scripts of name giving ceremonies in Hungary and the GDR as starting point to think about a phenomenon I term the “threshold problem.” While in Christianity, baptism marks the acceptance of a person into the Church, socialist ritual experts struggled to fill the name giving ceremony a similar meaning. Baptism clearly functioned as a “rite of passage” (from one state to another), but socialist ritual experts had to invent a new threshold for the new ritual. After all, babies automatically gained membership in the body politic upon birth as citizens of the state.
Looking comparatively at the different solutions East German and Hungarian ritual experts developed for the “threshold problem” reveals the broad variety of socialist culture(s) and also the vastly different functions seemingly similar rituals fulfilled in different states. Furthermore, the “threshold problem” invites a fundamental rethinking of ritual as an analytical category. Building on Erving Goffman’s theory of “rituals of interaction” and Peter A. Winn’s theory of legal rituals, the paper suggests a dynamic definition for rituals, which enables us to consider socialist rites of passage as more than mere substitutions for religious rituals, but as constitutive parts of a particular political culture.
Lucian Hölscher, Bochum:
Secularism between Theology of Incarnation and Disdain of Religion – the German Volkskirchen in Post-War-Era
The significance of the concept of „religion“ is not only disputed in the modern Western world, but the term is contradictory in itself: Positive notions of religion which imply the existence of the divine comprehend at the same time negative notions which deny the existence of the divine and vice versa. Thus, both concepts have to be legitimized continuously in opposition to the other.
The concept of “secularization” has been widely criticised in the last decades for its ambiguity. Nevertheless, it is more suited than any other category to mediate between the two notions of religion and to reflect the variety of religious references between religious traditions and modern society. Therefore secularization is an essential category to describe modern societies.
Since the Second World War German Christian churches have passed a versatile process of secularization. On the one hand church membership and the participation in church rites were generally decreasing and the ideas of God as well as dogmatic positions were multiplied. On the other hand certain groups of the churches and their representatives have gained in reputation and influence. It is a challenge for contemporary history to do justice to this ambivalent picture.
Zeit
(Mittwoch) 11:15 - 13:15
Ort
Phil A
Philosophenturm
MIT21SEP15:00- 18:00New Muslim Communities in Europe, 1918–194515:00 - 18:00 HOF-221
Überblick
(Marc David Baer, London) Mehdi Sajid,
Überblick
(Marc David Baer, London)
Mehdi Sajid, Utrecht:
Rethinking Islam Beyond the Nationalist Realm— Muslims in Inter-war Berlin and the Beginnings of Modern European Islam
Umar Ryad, Utrecht:
The Interaction Between the Ahmadiyya (India), Salafiyya and European Converts in the Interwar Period
Marc David Baer, London:
Protestant Islam in Weimar Germany: Hugo Marcus and »The Message of the Holy Prophet Muhammad to Europe«
David Motadel, Cambridge:
The Entangled Histories of Muslims, Jews and Jewish Converts to Islam in German-Occupied Paris
Marjan Wardaki, Los Angeles:
Political Activism and Transnational Ties in Weimar Germany: The First Afghan Community in Germany
Abstract:
The proposed panel responds directly to the call for papers relating to “Matters of Faith,” collaboration with India, and the recognition that historians have adopted a transnational methodology. The five papers of the proposed panel explore the first Muslim communities in post-World-War-I Europe, situating their history in the context of the history of Islam in Europe, conversion to Islam, the history of relations between Christians, Jews, and Muslims, and the connected histories of South and Central Asia, the Middle East, and Europe.
The panel’s first paper, Dr. Mehdi Sajid, “Rethinking Islam Beyond the Nationalist Realm – Muslims in interwar Berlin and the beginnings of modern European Islam,” takes as its starting point the fact that in today’s Germany the public associates the beginnings of the Muslim presence in the country with the immigration of Turkish and North African guest workers after 1945. That Muslims had been living in Germany and participating in its socio-cultural and political life for more than half a century before the coming of the later migrants seems to be known to only to few experts and interested parties. But the historical reality was more complex and diverse. In his presentation Dr. Sajid will address a set of questions, in order to highlight the historical importance of Muslim life in Germany from 1919 to 1945: What did the Muslim presence in Germany after World War I look like? Which Muslim trends were represented and how did they interact with German society? What were the positions of the German authorities in the Weimar Republic and later in Nazi-Germany towards these Muslims? Finally, why should they be considered as the “real” pioneers of Islam in Germany? Studying and re-discovering this unique Muslim European episode can in many ways contribute to putting the ongoing debate about the place of Islam and Muslims in Germany into perspective.
The panel’s second paper will be given by Associate Professor Umar Ryad, and is entitled, “Mediators: European Converts and Muslim Sectarianism in Inter-war Europe.” Within the context of “spreading the message” in Europe, different sectarian disputes emerged among Muslims in their new European environments. Some Muslims, especially European converts, promoted a universal Muslim community over sectarian differences. European converts played a prominent transcultural role in the development of modern Islamic thought, bridging historically and geographically established divisions within the Muslim community, which they as newcomers did not inherit. Whereas many of them maintained connections with the British-India based Ahmadiyya missions in Europe, they were also present in the debates in Salafi reformist pan-Islamic circles in Egypt. By focusing on two Muslim Salafi magazines in Egypt—Al-Manar by Muhammad Rashid Rida (1865-1935), and al-Fath by Rida’s contemporary, the Syrian writer and activist Muhibb al-Din al-Khatib (1886-1969), the paper emphasizes that although Salafi writers attacked Ahmadiyya doctrine, they praised their missionary work in Europe. The many disputes finally led to a deterioration in their relations by the mid-1930s. Many converts left the Ahmadiyya missions and established their own organizations and societies protesting the Ahmadiyya’s refusal to recant their beliefs. The paper shows that although the conflict between the Salafiyya and Ahmadiyya was uncompromising, European converts served as new engaging figures unconsciously creating a certain commonality and religious hybridity between these contending Muslim branches. In the end, they all had one goal in common, making Islam relevant in Europe.
The third paper, Professor Marc David Baer, “Protestant Islam in Weimar Germany: Hugo Marcus and ‘The Message of the Holy Prophet Muhammad to Europe’” explores the Islam envisioned in the extensive writings of one of the most prominent of German converts to the Ahmadiyya, the Jewish poet, philosopher, and political activist Hugo Marcus (1880-1966). Rather than an “Eastern” Islam, Marcus’s understanding of that religion is a surprisingly Eurocentric and even Germanic one. Islam is not only the religion of the German past, Marcus claims, but also, given its faith in the intellect and in progress, the religion of the future. Marcus’s ideas do not figure in the historiography of Weimar Germany. Primarily this is because while many of the new political notions of the future that Weimar writers contemplated have been explored, scholars have paid less attention to the spiritual and religious utopias envisioned in the 1920s. This paper engages with the question of German responses to the rupture of World War I and the realm of imagined political possibilities in Weimar Germany by focusing on one such utopia overlooked in historiography, the German-Islamic synthesis as advocated by Hugo Marcus.
The panel’s fourth paper is Dr. David Motadel, “The entangled histories of Muslims,
Jews and Jewish converts to Islam in occupied Paris.” When German troops marched into the French capital in 1940, they encountered a significant minority of Jews from Bukhara, Iran, and Afghanistan. These Jews lived in the same religiously mixed émigré milieu as Muslims from these countries. As the Germans began rounding up the Jews of Paris, members of these Jewish communities tried to portray themselves as a Muslim minority, which descended from Jews who had converted to Islam in the early nineteenth century. They received active help from a number of Muslims in Paris who testified that they were part of the Islamic community. The most important of these interventions was made by the Iranian consul. The case of these non-European Jewish groups led to a heated debate about their status in Berlin. In the end, the Jewish communities were classified as Muslim and survived the Holocaust. The paper interweaves the history of these communities with broader questions about religious minorities and the politics of religion under Nazi occupation. Drawing on previously unknown documents from German, Iranian, Israeli, French, and Swiss archives, the paper will make a contribution to the entangled history of Muslims and Jews in Europe’s “Age of Extremes.”
The panel’s fifth paper, Marjan Wardaki, “Political Activism and Transnational Ties in Weimar Germany: The First Afghan Community in Germany,” explores the transational links of Muslims in Germany and Central Asia. In 1933 the popular German newspaper, Berliner Tageblatt, reported the assassination of Sirdar Muhammed Azziz Khan, the Afghan envoy to Berlin, sent by his brother, the Afghan king, Mohammed Nadir Shah. According to Gestapo records, the assassin, a young German-educated Afghan, Syed Kemal, confessed to the murder and claimed Azziz Khan and his brother, the new King, had sold Afghanistan to the British. Roughly four months later, as King Nadir Shah was visiting the graduation ceremony at the German-founded Amani school in Kabul, one of the students, a supporter of the previous King, assassinated him. To understand the motives around these political activities, Ms. Wardaki’s paper traces wider social and political networks that informed the actions of these Muslim students during the period from 1920 to 1935, as well as to examine the everyday entanglements that resulted from closer diplomatic relations between Germany and Afghanistan. Taking advantage of the production of diasporic literature, the circulation of ideas and the movement of goods through trading families around both large commercial areas such as Bombay, Hamburg, and more smaller locales, this paper will highlight the ways in which the first Afghan community in Germany navigated legal and social restrictions, and made sense of its wider function within a changing global political context. The method employed in this paper utilizes global and microhistorical study. A microhistorical focus has the advantage of uncovering forms of mediated networks and relations within which Afghan actors functioned vis-à-vis their changing roles within the larger political and social context.
Zeit
(Mittwoch) 15:00 - 18:00
Ort
HOF-221
Hauptgebäude Ostflügel
Überblick
(Frank Bajohr, München/Hamburg, Andrea Löw,
Überblick
(Frank Bajohr, München/Hamburg, Andrea Löw, München)
Frank Bajohr, München/Hamburg, Andrea Löw, München:
Einführung und Moderation
Susanne Hohle, Heidelberg:
Apostel einer jüdischen Weltverschwörung: Die Internationale der Antisemiten
Dagmar Pöpping, München:
Zeugen der Vernichtung. Die Kriegspfarrer der Wehrmacht und die Shoah an der Ostfront 1941–1945
Beate Meyer, Hamburg:
Konversion – ein Rettungsanker vor der Verfolgung?
Carlos Haas, München/Washington:
Zwischen Identitätskonstruktion und Deutungsressource: Zur Funktion von Glauben und Religion in den Gettos Warschau und Litzmannstadt
Doris Bergen, Toronto:
Kommentar
Zeit
(Mittwoch) 15:00 - 18:00
Ort
Phil A
Philosophenturm
Überblick
(Jessica Gienow-Hecht, Berlin, Friedrich Kießling,
Überblick
(Jessica Gienow-Hecht, Berlin, Friedrich Kießling, Eichstätt-Ingolstadt)
Friedrich Kießling, Eichstätt-Ingolstadt:
Einleitung: Von der »Haltung der Zurückhaltung« zur »Gegenmacht«? Außenpolitische Rollenbilder in der Bundesrepublik von Brandt bis Schröder
Frank Trommler, Philadelphia:
Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht
Bernhard Rieger, London:
Volkswagen als bundesdeutscher Sympathieträger und Konfliktherd. Deutsche und mexikanische Perspektiven auf den deutschen Exporterfolg
Bettina Fettich-Biernath, Erlangen-Nürnberg:
Präsenz ohne Einfluss? Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Friedens- und Entwicklungsmacht in der Zweiten UN-Entwicklungsdekade
Jessica Gienow-Hecht, Berlin:
Kommentar: Deutsche Rollenbilder im Vergleich. Der Blick von außen
Abstracts (scroll down for English version):
Frank Trommler, Pennyslvania:
Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht
Für die Analyse des außenpolitischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik zwischen 1969 und 2005 ist der Einbezug des Faktors Kultur deshalb von Bedeutung, weil er hilft, zwei für die Innen- wie die Außensicht bedeutsame Wandlungen genauer zu fassen:
1) Die wachsende Akzeptanz der Schuldverantwortung für die NS-Vergangenheit als Basis einer neuen demokratischen Gesellschaft, zugleich als Basis eines gewandelten Begriffs von Kulturmacht, der sich von den Assoziationen mit dem nationalistischen Kulturimperialismus befreit hat.
2) Die aktive Außenwirkung der BRD als Faktor internationaler Kultur, etwas, wofür die politische Einbindung in den Westen vor 1970 nur den Satellitenstatus bereithielt, den Ausländer mit dem Bild der kulturellen tabula rasa nach dem NS verbanden. Mit dem Einklinken in die internationalen Wandlungen von Kulturbegriff und -praxis nach 1970, die der Kultur eine aktive Rolle gegen die politische Erstarrung des Kalten Krieges verschafften (KSZE-Akte), gelang eine neue Form kultureller Außenwirkung, die bei der Wiedervereinigung den alten nationalen Rollenbildern entgegenarbeitete.
Diese Hilfestellung von Kultur(politik) für die nicht nur diplomatisch-politische Anerkennung der Bundesrepublik in der Welt geschah allerdings nicht ohne Widerstände im AA. Zwar übte man dort das traditionelle Flaggezeigen nach 1949 mit Zurückhaltung, konzipierte aber auswärtige Kulturpolitik in der Folge der NS-Außenpolitik keineswegs neu. Diese Aufarbeitung, nach Brandts Kniefall 1970 zunächst stark von den Mittlerorganisationen praktiziert, erforderte den Abschied von Machtbehauptung zugunsten des Schuldeingeständnisses, blieb jedoch durch die ständige Demonstration der Machtposition gegenüber der DDR-Außenkulturpolitik bis 1990 im Bereich traditionellen Machtdenkens.
Erst als man im Ausland Deutschland nicht mehr im Narrativ von zwei Deutschländern fasste, fand auch das AA den vollen Zugang zu einem international (und stark europäisch) basierten Denken in kultureller Ausstrahlung, die ihre Dynamik aus der transkulturellen Vernetzung im globalen Kommunikationssystem gewinnt. Kulturelle Macht wird darin als Soft Power gemessen und im Wettbewerb wahrgenommen.
Bernhard Rieger, London:
Volkswagen als bundesdeutscher Sympathieträger und Konfliktherd. Deutsche und mexikanische Perspektiven auf den deutschen Exporterfolg
Dieser Vortrag analysiert Volkswagen als ein deutsches Paradeunternehmen, dessen Erfolge international sowohl Sympathien als auch Konflikte erzeugten und ein Schlaglicht auf die Stellung der Bundesrepublik in der Welt werfen. Die Nachkriegsgeschichte des Konzerns ermöglicht die Untersuchung von Rollenbildern und Machtdiskursen, um sich der vielschichtigen internationalen Präsenz der Bundesrepublik als Exportnation mit begrenzten machtpolitischen Ambitionen anzunähern.
Nach 1945 stieg VW rasch zu einem global operierenden Unternehmen auf, das als Symbol für die Bundesrepublik starkes internationales und heimisches Interesse auf sich zog. In den USA sicherte sich der Konzern in den Fünfzigern und Sechzigern außerordentliche, bis in die Gegenwart nachwirkende Sympathien, die auf dem Ruf des Käfers als niedlichem und ehrlichem Qualitätsprodukt beruhten. Dieser wirtschaftliche Erfolg besaß politische und kulturelle Bedeutung, da Volkswagen und sein Starprodukt in amerikanischen Augen die Transformation Westdeutschlands in ein westliches Gemeinwesen und somit in einen verlässlichen Bündnispartner versinnbildlichte. In Westdeutschland wurden amerikanische Sympathien für den Käfer ihrerseits als Indikator angesehen, dass die Bundesrepublik als friedfertige und machtferne Exportnation internationale Akzeptanz gewann. Spannungen prägten hingegen die Präsenz Volkswagens in Mexiko. Zwar fungierte der VW-Käfer auch hier aufgrund seiner Erschwinglichkeit und Zuverlässigkeit als Sympathieträger, doch betrachtete die mexikanische Öffentlichkeit das Unternehmen selbst mit Ambivalenz. In den Neunziger Jahren nahm Volkswagens Ruf als generöser Arbeitgeber Schaden, als das Management im Rahmen eines Arbeitskampfes die gesamte mexikanische Belegschaft entließ, um einen verschlechterten Tarifvertrag durchzusetzen. Mochte das machtbewusste Auftreten der Firma in Mexiko auch hohe Wellen schlagen, thematisierte die deutsche Presse derartige Episoden eher selten und trug so mit dazu bei, dass sich das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Exportnation mit begrenzten Machtambitionen trotz zunehmender globaler Geltung verstetigte.
Bettina Fettich-Biernath, Nürnberg:
Präsenz ohne Einfluss? Das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Friedens- und Entwicklungs- macht in der Zweiten UN-Entwicklungsdekade
Bescheiden, gutmütig und unpolitisch, suggerierte das Foto. Zur Freude des Botschafters der Bundesrepublik in Tansania machte die Szene „Schlagzeilen“: Erhard Eppler, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, schwang sich während seines Besuchs im März 1970 auf eines der 100 mitgebrachten Fahrräder. Im Gegensatz zum Außenminister der DDR, der wenig später anreiste, verzichtete der Bonner Minister auf „protokollarischen Pomp“ und die Zurschaustellung von Symbolen staatlicher Souveränität. In den Augen des bundesrepublikanischen Botschafters lag darin ein klarer Punktgewinn für Bonn.
Von einer Friedens- und Entwicklungsmacht zu sprechen, mag als Widerspruch in sich anmuten. Zugleich ist mit dieser Formulierung die Kernfrage angeschnitten, den Begriff der Macht zu historisieren und sich mit der Genese unseres heutigen Verständnisses auseinanderzusetzen. Die staatliche Entwicklungspolitik kann in besonderem Maße als Schlüssel zum Selbstverständnis der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen dienen, da ihr Verhältnis zur Außenpolitik kontinuierlich reflektiert wurde; per definitionem sollte Entwicklungs- von Außenpolitik abgekoppelt und von nationalstaatlichen Interessen befreit werden.
Die erste sozial-liberale Koalition forcierte den Gedanken, Entwicklungs- und Friedenspolitik als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen. Welche Erwartungen wurden daran geknüpft, welche Bedeutung den Herausforderungen wie einer Neuen Weltwirtschaftsordnung oder dem internationalen Terrorismus zugeschrieben, die heute für eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs in den 1970er Jahren stehen? Wie spielten Rüstungsexport und die Unterstützung ausländischer Polizeieinheiten auch durch die Bundeswehr in das Image der Bundesrepublik hinein? Der Vortrag argumentiert, dass Aushandlungsprozesse um Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und ein Dilemma internationaler Verantwortlichkeit entscheidend für das Bild der Bundesrepublik als Friedens- und Entwicklungsmacht waren.
Abstracts (English version):
Frank Trommler, Pennyslvania:
Kulturmacht im historischen Diskurs. Die Bundesrepublik in der wechselnden Außensicht
Culture has been a particularly relevant factor in two developments that have shaped the understanding of West German foreign policy at home and abroad between 1969 and 2005:
1) The acceptance of guilt and responsibility for the Nazi past as the basis of a new democratic society as well as the basis for the transformation of the concept of cultural power that has been freed from the associations with nationalistic cultural imperialism.
2) The outreach of the Federal Republic as a player on the international cultural scene, something that before 1970 was thwarted by the assumption of its satellite status in the American orbit and the image of a tabula rasa after the Nazi destruction of culture. By joining in the transformations of the concept and practice of culture/ cultural policy after 1970 which provided culture an active role against the political petrification of the Cold War (Helsinki Accords), the Federal Republic succeeded in gaining a new form of cultural profile that impeded the recurrence of old national stereotypes when the German unification occurred.
Yet the supporting role of culture/cultural policies for the international recognition of the Federal Republic that went beyond the mere political and diplomatic acceptance met with much resistance in the Foreign Ministry after its re-founding in 1949. While toning down the cultural flag waving the ministry spurned the rethinking of cultural diplomacy with regard to its abuse under National Socialism. After Brandt’s kneeling down at the Warsaw Ghetto memorial in 1970 such re-conceptualization, initially more in the hands of cultural organizations, meant dropping claims of cultural power in favor of confessions of national guilt. This exercise, however, remained incomplete due to the assertions of power against the claims of East German cultural diplomacy on the world stage.
Once the German narrative in other countries ceased to be the narrative of two Germanys, the Foreign Ministry engaged fully in the internationally (and strongly European) based thinking of a cultural outreach that gains its dynamic from working within the transcultural networks of global communication. Within these networks, cultural power is being pursued competitively as Soft Power.
Bernhard Rieger, London:
Volkswagen as a Source of Admiration and Conflict: International Perspectives on German Export Success
This paper analyzes Volkswagen as an exemplary German enterprise whose success generated both admiration and conflict and thus casts light on the Federal Republic’s global position. The company’s history grants opportunities to examine role models and power discourses that help identify the layers that have composed the Federal Republic’s international presence as an export nation with limited power political ambitions.
After 1945, VW quickly became a global enterprise, whose international operations attracted international and domestic attention. During the Fifties and Sixties, the company gained a lasting and exceptionally positive reputation in the USA due to admiration for the Beetle as a cute and honest quality product. This economic success possessed political and cultural significance, since the American public regarded VW and its star product as indicators of West Germany’s transformation into a Western country and hence trustworthy Cold-War ally. Back home in West Germany, American admiration was read as a marker of the Federal Republic’s gradual acceptance as a peaceful export nation with limited ambitions to political power. VW’s presence in Mexico, meanwhile, was characterized more strongly by tensions. While the Beetle functioned as a source of admiration due to its affordability and its quality, the Mexican public regarded the company itself ambivalently. In the Nineties, VW lost much of its previous reputation as a generous employer when the management fired all line workers during a strike to impose a less advantageous labour contract. Since the German press barely covered heavy-handed conduct of this kind, VW’s Mexican presence also provides insights into the mechanism that allowed the Federal Republic to retain an identity as an export nation with limited power ambitions despite its steadily expanding global presence.
Bettina Fettich-Biernath, Nürnberg:
Spreading Peace and Development: Self-Perceptions of the Federal Republic of Germany during the Second United Nations Development Decade
He was modest, open-minded and apolitical, according to a photography showing Erhard Eppler, Minister for Economic Cooperation of the Federal Republic of Germany (FRG), in a curious situation: In that picture, the Minister was riding one of the 100 bicycles that he had brought along to Tanzania on the occasion of his visit to the country in March 1970. The FRG’s ambassador delightedly reported that the incident had hit the headlines. In contrast to the Foreign Minister of the German Democratic Republic, who arrived shortly afterwards, Erhard Eppler had renounced any “pomp due to protocol” or showing off symbols of state sovereignty.
To characterise a state as a peace and development power might appear as a contradiction in terms. This first impression highlights the necessity of historicizing the concept of power. In terms of Germany’s role models in international relations, the analysis of the FRG’s Official Development Aid allows particular insights into the country’s self-perceptions, as discourse was continuously focusing on how development and foreign politics intertwined. By definition, development politics were considered detached from any foreign politics assumptions and thereby freed from the donor country’s national interests.
Which outcomes did the first social-liberal coalition in Bonn aim at by emphasising a link between development and peace politics? The presentation will ask how claims for a New International Economic Order or acts of international terrorism were perceived – challenges that nowadays stand for the emergence of an expanded concept of security since the 1970s. In this regard, did the export of armaments and the support in favour of foreign police units, e.g. by the Federal Armed Forces, fit into the picture? The presentation will explain that debates on international responsibilities and non-interference in internal affairs prove to have been crucial to create the FRG’s image.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Isabel Heinemann, Münster) Isabel Heinemann, Münster: Einleitung:
Überblick
(Isabel Heinemann, Münster)
Isabel Heinemann, Münster:
Einleitung: Paar, Familie, Bevölkerung? Der Perspektivwechsel von der Eugenik zur Humangenetik und die (Re-)Aktualisierung religiöser Deutungsmuster
Claudia Roesch, Münster:
Bevölkerungssteuerung und Familienberatung in den USA: Das »Clergymen Advisory Council« von Planned Parenthood und die Debatte um Familienplanung in den 1950er und 1960er Jahren
Britta Marie Schenk, Kiel:
Eltern, Experten und Sterilisation: Humangenetische Beratung zwischen Glauben und Wissen in den 1960er bis 1980er Jahren
Till Kössler, Bochum:
Debatten um Vererbbarkeit von Begabung nach 1945
Gabriele Lingelbach, Kiel:
Kommentar
Abstracts:
Durch den Vergleich der Diskussionen um Vererbung von Begabung und „Behinderung“, um Lenkung von Reproduktion und Bevölkerungswachstum in den USA und der Bundesrepublik der 1950er bis 1980er Jahre soll herausgearbeitet werden, ob die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ auch als Revitalisierung religiöser Legitimationsstrategien gelesen werden kann. Die Debatten legen dies nahe, wurden doch Vorstellung von „Familie“, dem Wert des Individuums und der Verantwortung des Einzelnen für das Wohl der Gemeinschaft mit religiösen Leitbildern verschmolzen oder diskursiv an diesen ausgerichtet. Am Ende der Sektion soll die Einschätzung stehen, inwiefern der Aufstieg von Wissensgesellschaften eine neue Konjunktur religiöser Werte und Begründungszusammenhänge implizierte, oder ob letztere nur zur Vermittlung kulturell und sozial kontroverser Botschaften genutzt wurden.
Folgende Fragen stehen im Zentrum der Überlegungen: (1) Wie wurde in Humangenetik, Begabungsforschung und Bevölkerungspolitik das Verhältnis von Glauben und Wissen verhandelt? (2) Welche religiös grundierten Vorstellungen determinieren die Vorstellungen von und Debatten um Begabung, Behinderung, und Reproduktion in Deutschland und den USA nach 1945? (3) Wann rekurrierten die Akteure auf die vermeintliche wissenschaftliche Nachprüfbarkeit, wann bemühten sie „Überzeugungen“ und „Glaubensfragen“? (4) Was sagt dies über Prozesse der Verwissenschaftlichung und der Pluralisierung von Normen in modernen Gesellschaften aus?
Isabel Heinemann, Münster:
Einleitung: Paar, Familie, Bevölkerung? Der Perspektivwechsel von der Eugenik zur Humangenetik und die (Re-)Aktualisierung religiöser Deutungsmuster
Nach dem Zweiten Weltkrieg löste die Humangenetik die durch den Nationalsozialismus diskreditierte Eugenik und Rassenforschung als Wissenschaft vom Menschen ab. Damit verbunden war der Anspruch, gestützt auf „moderne“ wissenschaftliche Erkenntnis, individuelle Reproduktion, Gesundheit und Intelligenz sowie die Entwicklung des Bevölkerungswachstums rational zu steuern. Innerhalb dieses Paradigmenwechsels kam kirchlichen Arbeitskreisen als Diskussionsforen und Beratungsinstanzen eine wichtige Funktion zu. Die Einleitung umreist die Einleitung die Leitfragen des Panels nach dem Zusammenhang zwischen religiöser Legitimation und Verwissenschaftlichung und exemplifiziert sie am Beispiel der Debatten um eugenische Sterilisation in der frühen BRD. Hierbei fragt sich insbesondere, inwiefern religiöse Deutungsmuster an die Stelle rassenanthropologischer Bewertungen traten und inwiefern die nationalsozialistische Rassenpolitik als Referenzkategorie der Debatten um Bevölkerungssteuerung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diente.
Claudia Roesch, Münster:
Bevölkerungssteuerung und Familienberatung in den USA: Das Clergymen Advisory Council von Planned Parenthood und die Debatte um Familienplanung in den 1950er und 1960er Jahren
Planned Parenthood nutzte bis in die frühen 1960er Jahre die Legitimation durch kirchliche Würdenträger, um öffentliche Anerkennung und politische Fördergelder zu erhalten. Gleichzeitig begriffen protestantische und jüdische Geistliche ihre Unterstützung als Möglichkeit, sich besonders in Abgrenzung vom Katholizismus als moderne Religionen zu präsentieren, die in der Lage waren wissenschaftliche Methoden der Bevölkerungssteuerung in ihr Moralverständnis zu integrieren. Daher untersucht dieser Vortrag das Wechselverhältnis zwischen Moderne, Wissenschaft und religiöser Ethik zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Er zeigt die Spannungen zwischen einem konservativen Moralverständnis und dem Versuch, soziale Probleme wie Armut und ethnische Ungleichheiten durch Familienplanung zu bekämpfen, etwa in der Frage, ob Verhütungsmittel unverheirateten Frauen zugänglich gemacht werden sollten.
Britta Marie Schenk, Kiel:
Eltern, Experten und Sterilisation: Humangenetische Beratung zwischen Glauben und Wissen in den 1960er bis 1980er Jahren
Die Analyse der humangenetischen Beratung kann erklären, wie das Verhältnis von Glauben und Wissen in der Risikobestimmung von als vererbbar betrachteten Krankheiten und der Aussprache von Heim- und Sterilisationsempfehlungen an Eltern behinderter Kinder stets neu verhandelt wurde. Glauben resultierte in der humangenetischen Beratung in erster Linie aus Vertrauen und schuf Raum für Deutungen, die einschneidende Konsequenzen für die Betroffenen nach sich zogen. Im Vortrag wird diese These auf drei Untersuchungsebenen diskutiert: (1) auf der Ebene des Glaubens der ratsuchenden Eltern an Expertentum und an humangenetische Technologien, (2) auf der Ebene der Diagnosefindung und Ursachenforschung, (3) auf der Ebene der Konsequenzen humangenetischer Diagnosen in Form von Heim- und Sterilisationsempfehlungen für Kinder mit geistigen Behinderungen. In der Kombination aller drei Ebenen wird die Ambivalenz gesellschaftlicher Liberalisierungsprozesse sichtbar, die auch zur Einschränkung der Rechte von Menschen mit Behinderungen führen konnte.
Till Kössler, Bochum:
Debatten um Vererbbarkeit von Begabung nach 1945
Begabung und Intelligenz stiegen im 20. Jahrhundert zu Leitbegriffen der Anlage-Umwelt-Debatte auf. Wie wenige Begriffe erwarben sie eine besondere Sprengkraft an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik, Biologie und Gesellschaft. Aus einem vielfältigen und wenig festgelegten Sprechen über Talente, Genialität und Schwachsinn entwickelte sich eine Kontroverse darüber, ob Begabung in der Gestalt von Intelligenz als eine biologische, vererbbare Tatsache angesehen werden kann, oder ob sie eher als eine fluide, durch Umwelteinflüsse und Lernprozesse im Lebensverlauf formbare Eigenschaft angesehen werden muss. Der Vortrag fragt vor diesem Hintergrund nach der bisher kaum beachteten religiösen Dimensionen der Begabungsdebatten. Er untersucht die Auseinandersetzungen um Begabung und Intelligenz im Katholizismus und Protestantismus nach 1945 im Spannungsfeld von religiösen Menschenbildern, Vererbungstheorien und psychologischer Wissenschaft. Ein besonderer Fokus liegt auf der Ausgestaltung und dem Wandel der Begabtenförderung der christlichen Kirchen nach dem Ende des Nationalsozialismus.
Überblick
(Tim Müller, Hamburg, Hedwig Richter,
Überblick
(Tim Müller, Hamburg, Hedwig Richter, Greifswald)
Tim Müller, Hedwig Richter:
Das Sprechen über die Demokratie und die narrativen Strukturen des Sonderwegs
Margaret Anderson, Berkeley:
Demokratie auf schwierigem Pflaster. Wie das deutsche Kaiserreich demokratisch wurde
Adam Tooze, New York:
Global Democracy: Provincializing the Sonderweg
Jeppe Nevers, Odense:
Differences and Similarities: Danish Democratization in a North-Western European Perspective
Abstracts (scroll down for English version):
Die Sonderwegsthese gilt seit den 1980er Jahren als überholt. Dennoch werden bis heute ihre grundlegenden Thesen in der Geschichtsschreibung reproduziert, wenn es um die Geschichte der Demokratie geht (häufig ikonographisch unterstützt durch Karikaturen aus dem Simplicissimus oder dem Wahren Jakob). Auch in den Leitmedien finden täglich Beispiele dafür. Zwei aktuelle Tendenzen forcieren die erneuerte Kritik an Sonderwegskonzepten: Erstens lassen die globale Perspektive und die Loslösung aus der nationalen Umklammerung die „Provinzialität“ der Sonderwegsvorstellungen augenfällig werden. Dieser Zugriff macht die Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit, die Pathologien und Fragilität von Demokratie gerade auch in den Gesellschaften sichtbar, die lange Zeit pädagogisch als Vorbildnationen dargestellt wurden. Zweitens gestattet die historische Distanz zur NS-Zeit den Übergang von der politischen Kritik zur methodischen Reflexion. In dem Panel sollen in vergleichender Perspektive demokratische Entwicklungen bis 1933 untersucht werden. Dabei soll es auch um die Frage gehen, was die Sonderwegserzählung so außerordentlich attraktiv macht. Tatsächlich erweist sich die schon so oft für tot erklärte Sonderwegsthese als besonders zählebig, wenn es um die Demokratieforschung geht. Womöglich hat ihre sorgfältige empirische Widerlegung auf anderen Feldern dazu geführt, dass sie in der Forschung unisono als obsolet bezeichnet und nicht weiter thematisiert wird – und daher im Hinblick auf die Demokratiegeschichte unhinterfragt und undercover weiter gedeiht und blüht.
Margaret Lavinia Anderson, Berkeley:
Demokratie auf schwierigem Pflaster. Wie das deutsche Kaiserreich demokratisch wurde
Hatte das deutsche Kaiserreich ein „Demokratiedefizit“? Das zumindest behauptete die Propaganda der Entente 1914 und initiierte damit jene Meistererzählung, die später die Sonderwegserzählung wurde. 1933 wurde diese Erzählung von den exilierten Deutschen ausgebaut. Seit den späten 60er Jahren galt dann unter Historikern innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik dieses Grand Narrative als Konsens. Doch wenn man als Kriterium die Volksvertretung zugrunde legt – also ein durch Wahlen begründetes nationales Parlament –, dann gehörten deutsche Institutionen und Verfahren verglichen mit denen Englands und der USA zu den demokratischsten im Westen. Wenn man einen Blick auf die Praktiken wirft, auf die intensive Wahlbeteiligung deutscher Bürger und ihren Erfolg, eben jene Parteien zu wählen, die von der Regierung abgelehnt wurde, dann offenbart sich eine wachsende und immer dynamischer werdende demokratische Kultur. Doch Argumente, die innenpolitische Entwicklungen anführen, werden nach wie vor ausgestochen von dem Hinweis auf das außenpolitische Verhalten des Kaiserreichs: seinen brutalen Imperialismus (den Völkermord an den Herero), seinen Militarismus (die Entscheidung für den Krieg im August 1914) und seinen Mangel an Humanität (durch die Kriegsführung); all das wird angeführt, um die Grenzen der deutschen demokratischen Kultur zu betonen. Doch auch hier weckt der Blick auf Deutschlands Zeitgenossen Zweifel an der „Besonderheit“ Deutschlands. Der deskriptive Ausdruck „demokratisch“ ist schwer fassbar; er kann von Historikerinnen und Historikern verengt oder erweitert werden, so dass es zu ihrem jeweiligen Argument passt. Keine Debatte über ein demokratisches Defizit irgendeines Landes könnte jemals mit eindeutigem Ergebnis geführt werden. Denn „Demokratie“ ist ein Konzept, das sich nicht mit strikt empirischer Argumentation anwenden lässt, weil das Konzept selbst – wie W. B. Gallie ausgeführt hat – hoch umstritten ist. „Demokratie“ ist ein Bündel an Ideen, die unsere Sehnsucht nach einer bessern Gesellschaft und einem bessern Selbst enthalten. So wie wir – damals und heute – dem Anspruch nicht gerecht werden, so wird sich uns immer ein „Demokratiedefizit“ anbieten, das uns eine Erklärung dafür bietet, warum etwas falsch lief. Tatsächlich lief in Deutschland nach 1932 alles falsch, aber das lag gewiss nicht an einem Demokratiedefizit des Kaiserreichs.
Jeppe Nevers, Odense:
Unterschiede und Ähnlichkeiten: dänische Demokratisierung in nordeuropäischer Perspektive
Während die deutsche Geschichtsschreibung in den letzten Jahren die Prozesse der Demokratisierung zeitlich immer weiter zurück verfolg – von der Weimarer Republik über den Ersten Weltkrieg bis hin zum Kaiserreich – schlägt die dänische Historiographie den umgekehrten Weg ein. Über Jahrzehnte hinweg hatten dänische Historiker die Transformation von einer absolutistischen Monarchie hin zu einer konstitutionellen Monarchie in den Jahren 1848/49 als die Geburtsstunde der Demokratie beschworen. Doch in den letzten Jahren haben dänische Wissenschaftler (aus unterschiedlichen Generationen) ihre Aufmerksamkeit auf die nur allmählich vollzogene Entwicklung demokratischer Institutionen gelenkt, auf die späte Akzeptanz eines Konzeptes von Demokratie überhaupt, auf die politischen Kämpfe am Ende des 19. Jahrhunderts und auf die Debatten über Parlamentarismus in der Zwischenkriegszeit. Insgesamt erscheint in dieser neuen Sichtweise das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert viel wichtiger für die Demokratisierung als die Mitte des 19. Jahrhunderts. In anderen Worten: Deutsche und dänische Demokratie-Historikerinnen und -Historiker scheinen zunehmend ähnliche historische Muster und Konflikte zu analysieren.
In diesem Sinne stellt der Vortrag die Geschichte der dänischen Demokratisierung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor. Zugleich versucht er, diese Entwicklungen in einen skandinavischen und westeuropäischen Kontext zu stellen. Der Vortrag will mit vergleichenden Einsichten auch zur Diskussion über historische deutsche Besonderheiten beitragen. Der Vergleich zwischen der deutschen und der dänischen Demokratie ist so faszinierend, weil sich die dänische Demokratie in einer stark von Deutschland beeinflussten Kultur entwickelt hat und es bemerkenswert viele Ähnlichkeiten zwischen den politischen Prozessen in beiden Ländern gibt. Und dennoch war der Ausgang so ganz unterschiedlich, denn in Dänemark gab es keine ernsthafte Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, und in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg etablierte sich dort ein Demokratiemodell, das schlicht auf dem Mehrheitsprinzip beruhte, während – anders als in Deutschland – konstitutionelle oder liberale Ideen wenig Einfluss gewannen.
Adam Tooze, New York:
Die Provinzialisierung des Sonderwegs: Globale Demokratie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Vielleicht der größte Mangel aller Sonderwegsnarrative ist ihre fehlende globale Perspektive. Bereits im späten 19. Jahrhundert baute sich eine globale Demokratisierungswelle auf. Diese ungleichen, aber gleichzeitigen Entwicklungen sind als »Demokratisierungsepisoden« bezeichnet worden. Die Demokratie wurde zur globalen Erwartung. Das gilt auch für traditionell als demokratisch geltende Gesellschaften, die jedoch erst in dieser Epoche entscheidende Demokratisierungsschübe erlebten. Dem Begriff Demokratie haftete um 1914 noch die Schärfe des Oppositionellen an. Demokratie war keine etablierte Sache; Demokratie war der Schlachtruf derjenigen auf der ganzen Welt, die diese Demokratie schaffen wollten. Die politische Kultur des frühen 21. Jahrhunderts mutet wie ein blasser, schmuckloser, bürokratisierter und kommerzialisierter Schatten jenes vielfältigen und lebenssprühenden demokratischen Ökosystems am Anfang des 20. Jahrhunderts an, das nicht nur viel reichhaltiger, sondern auch viel weniger auf den Westen zentriert war. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schienen die geographische Ausrichtung der Demokratie und das politische Bewegungszentrum noch völlig offen zu sein. Der Erste Weltkrieg spitzte die demokratische Frage zu – auch auf der Seite der Sieger. Er intensivierte nicht nur die Forderung nach Demokratisierung in den beteiligten Staaten, sondern weiteten diese auch auf andere Regionen aus. Wenn Frankreich, Großbritannien und die USA die deutsche Autokratie verurteilten, konnten sie in ihren eigenen Herrschaftsbereichen nicht mehr so einfach zu Mitteln der Repression greifen.
Abstracts (English version):
Since the 1980s the thesis of the German Sonderweg is considered outmoded. Nevertheless, still today its basic theses are reproduced by historiography when it is about the history of democracy (often iconographically supported by political cartoons from Simplcissimus or Der Wahre Jacob). Also the leading media provide examples of this on a daily basis. Two current trends push the renewed criticism of Sonderweg concepts: Firstly, a global perspective as well as liberating oneself from the grip of the national make obvious how provincial any Sonderweg ideas are. This approach makes the incongruity and contradictions, the pathology and fragility of democracy visible, indeed also in those societies which for a long time have been pedagogically presented as models. Secondly, the historical distance to the NS period allows for the transition from political criticism to methodical reflection. The panel is supposed to analyse democratic developments until 1933 from a comparative perspective. Among others, also the question shall be discussed of what makes the narration of Sonderweg so attractive. As a matter of fact the Sonderweg thesis, which has been declared dead so often, proves to be particularly long-living when it comes to democracy research. Perhaps its careful empirical refutation in other fields has produced the result that research in unison calls it obsolete and does not discuss it anymore – so that when it comes to the history of democracy it stays unquestioned and lives on and flourishes undercover.
Margaret Lavinia Anderson, Berkely:
Democracy in the German Kaiserreich
Did the Deutsche Kaiserreich have a “democracy deficit”? So said Entente propaganda in 1914, thus launching a Grand Narrative of imperial Germany that would come to be called the Sonderweg. Elaborated after 1933 by its own exiled citizens, by the late ‘60s a consensus among many historians, inside and outside the BRD, accepted the narrative. Yet if one considers popular representation – elections that produce a national legislature – then German institutions and procedures, compared to those of England and the US, were among the most democratic in the West. If one considers practices, then the enthusiastic participation of German voters, and their success in electing the parties their government tried hard to defeat, reveal the emergence an increasingly vibrant democratic culture. Yet arguments for German democracy that draw on domestic developments is still trumped by citing imperial Germany’s behavior internationally – its brutal imperialism (the Herero genocide), its militarism (the decision for war in August 1914), and its lack of humanity (its conduct during that war); all have been invoked to demonstrate the limits of Germany’s democratic culture. But here too a look at Germany’s contemporaries casts doubt on its “peculiarity” of Germany. The descriptive term “democratic” is elusive; it can be stretched and shrunk by historians to fit the argument they are trying to make. Debates about any country’s democratic deficit may never be resolved, because “democracy” itself belongs to a class of concepts whose application “cannot be settled by appeal to empirical evidence,” because the concept itself is “essentially contested.” (W.B. Gallie). “Democracy” is a bundle of ideas containing our aspirations for a better society and a better self. As as we – then and now – always fall short, we will always look for a “democracy deficit” to explain why things went wrong. Things went very wrong in Germany after 1932, but it was not because the Kaiserreich had a deficit of democracy.
Jeppe Nevers, Odense:
Differences and Similarities: Danish Democratization in a North-Western European Perspective
Whereas German historiography has, in recent years, traced patterns of democratization back in time, through new interpretations of the Kaiserreich, the First World War and the Weimar republic, historians of Danish democracy have moved the opposite way. For decades, the history of Danish democracy had the transformation from absolutist monarchy to constitutional monarchy in 1848-49 as the “birth” of democracy, but in recent years a number of scholars (from different generations) have turned their attention to the only gradual development of democratic institutions, the late acceptance of the concept of democracy, the political struggles in the late 19th century, and the debate about parliamentarianism in the interwar years; leaving the late 19th and the early 20th century as a much more crucial period for the understanding of democratization than the mid-19th century. In other words, German and Danish historians of democracy increasingly seem to study similar historical patterns and types of conflicts.
This lecture introduces the history of Danish of democratization from the mid-19th century to the mid-20th century in this perspective and tries to situate this history in a Nordic and North Western-European context. Without directly addressing the question of a German Sonderweg, it is the intention of the lecture that it should provide some comparative insights to qualify the subsequent discussion of German particularities. What is so fascinating in understanding Danish democracy from a comparative perspective is that it developed in a German cultural sphere and is marked by a striking number of similarities, and yet the outcome was so different, with no serious crisis of democracy in the interwar years and a post-WWII settlement that built on majoritarian understandings of democracy rather than constitutional or liberal ideas.
Adam Tooze, New York:
Provincialising the Sonderweg: Global Democracy in the Late 19th and Early 20th Centuries
Perhaps the biggest flaw of all Sonderweg narratives is their lacking global perspective. Already in the late 19th century there developed a global wave of democratisation. These unequal though parallel developments have been called “democratisation episodes”. Democracy became a global expectation. This also refers to those societies which have traditionally been considered democratic although they experienced crucial democracy pushes only at that time. Already at about 1914 the concept of democracy had a reputation of being oppositional. Democracy was no established thing; democracy was the battle cry of those all over the world who wanted to create this democracy. The political culture of the early 21st century looks like a pale, unadorned, bureaucratised and commercialised shadow of the multiple and lively democratic ecosystem at the beginning of the 20th century which was not only much richer but also much less focussed on the Western world. In the first half of the 20th century the geographic direction of democracy and the centre of the political movement seemed to be completely open. World War I increased the issue of democracy – also among the victorious powers. It did not only intensify the demand for democratisation in the states participating in the war but extended it even on other regions. If France, Great Britain and the USA were condemning the German autocracy, it became more difficult for them to reach back to means of repression in their own territories.
Überblick
(Martin Lutz, Berlin, Boris Gehlen,
Überblick
(Martin Lutz, Berlin, Boris Gehlen, Bonn)
Martin Lutz, Berlin, Boris Gehlen, Bonn:
Einführung
Susanne Kokel, Marburg:
»Im Glauben und im Dienst an der Kirche« – Die Herrnhuter Brüdergemeine als Unternehmer
Martin Lutz, Berlin:
»May God make my trip profitable«: Mennoniten und der Markt in den USA
Catherine Davies, Hagen:
Gott, Natur, Markt – Semantiken von Wirtschaftskrisen in der 2. Hälfte des 19. Jh.
Boris Gehlen, Bonn:
»Vermehrung der Concurrenz« als »Glaubensbekenntnis«? Markt und Wettbewerb zwischen Sinndeutung und Selbstzweck in den Debatten des DeutschenHandelstags bis 1914
Jan-Otmar Hesse, Bayreuth, Volkhard Krech, Bochum:
Kommentare
Abstracts (scroll down for English version):
Boris Gehlen, Bonn:
„Vermehrung der Concurrenz“ als „Glaubensbekenntnis“? Markt und Wettbewerb zwischen Sinndeutung und Selbstzweck in den Debatten des Deutschen Handelstags bis 1914
Der Deutsche Handelstag (DHT) wurde 1861 als Vereinigung sämtlicher Handelskörperschaften im deutschen Raum gegründet und war die erste ‚nationale‘ Interessenvertretung der Wirtschaft. Die Handelstage waren bis 1900 das Zentrum der Willensbildung, ehe sie durch eine Organisationsreform vornehmlich repräsentativen Charakter erhielten. Die Debatten drehten sich, erstens, um die Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung und lassen, zweitens, aufgrund der heterogenen Zusammensetzung des Verbands unterschiedliche Sichtweisen auf das „Mantra“ von Markt und Wettbewerb deutlich werden. Der Beitrag zeigt auf, wie stark bestimmte Positionen als Glaubensbekenntnis formuliert wurden, für das bisherige Erfahrungen als Grundlage dienten, die die Erwartungshaltung der Unternehmer auch dann bestimmte, wenn sie mit neuartigen Marktphänomenen, etwa Marktversagen, konfrontiert wurden.
Diese Betonung von Marktprozessen und freier Konkurrenz wirkte nach innen sinnstiftend und stand gemeinsam mit dem Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ im Zentrum der Organisationsidentität. Zugleich grenzte sich der DHT dadurch wirksam von partikularen Interessengruppen ab, die nicht die Verteilungswirkungen des Wettbewerbs, sondern eine staatliche Umverteilung zu ihren Gunsten einforderten. Abweichungen von den liberalen Prinzipien sowie die Forderung nach staatlichen Eingriffen benötigten im internen DHT-Diskurs stets eine besondere Rechtfertigung – selbst zu einem Zeitpunkt, als der moderne Interventionsstaat bereits deutlich ausgeprägt war.
Der Beitrag arbeitet exemplarisch heraus, dass „Markt“ und „Wettbewerb“ in vielfältiger Weise als „Glaubensbekenntnis“ im DHT fungierten. Das Begriffspaar wurde z.B. ritualisiert betont und Skeptiker gleichsam als Häretiker stilisiert. Dies war jedoch keineswegs bloß rhetorischer Selbstzweck, sondern diente nach innen der Sinnkonstruktion und nach außen der Abgrenzung von „Andersgläubigen“.
Catherine Davies, Hagen:
Gott, Natur, Markt – Semantiken von Wirtschaftskrisen in der 2. Hälfte des 19. Jh.
Martin Lutz, Berlin:
„May God make my trip profitable“: Mennoniten und der Markt in den USA
Der Beitrag untersucht die Einstellung mennonitischer Unternehmer gegenüber Markt und Wettbewerb in der sich industrialisierenden Wirtschaft der USA. Die mennonitische Glaubensrichtung entstand als Teil der Täuferbewegung in der Reformationszeit. Nach mehreren Auswanderungswellen konzentrierten sich zum Ende des 19. Jahrhunderts große mennonitische Gemeinden schweizerisch-südwestdeutschen Ursprungs in Staaten der Ostküste und des Mittleren Westens, Gemeinden norddeutsch-russischen Ursprungs siedelten sich in Staaten der Great Plains an. Beide Gruppen partizipierten an den neuen Möglichkeiten der industriellen Wettbewerbsordnung der USA. Folglich entwickelte sich in beiden Gruppen im ausgehenden 19. Jahrhundert eine unternehmerische Dynamik, die bis in die Gegenwart anhält.
Seit der frühen Neuzeit wurde Mennoniten ein ausgeprägtes Unternehmertum zugeschrieben. So stellte Max Weber in seinen Aufsätzen zur Protestantischen Ethik für Mennoniten einen „Zusammenhang religiöser Lebensreglementierung mit intensivster Entwicklung des geschäftlichen Sinnes“ fest, der für die Entstehung des modernen Kapitalismus von zentraler Bedeutung war. Allerdings führt Weber weiter aus, dass sich der „Geist des Kapitalismus“ im Übergang in die Moderne von seinem religiösen Ursprung lösen und in eine säkulare Gesellschaft führen würde. Dies war bei Mennoniten nicht der Fall. Mein Beitrag argumentiert, dass mennonitische Unternehmer bis in die Gegenwart in einer Wirtschaftsethik verhaftet blieben, die auf den theologischen Grundlagen des Täufertums beruht. Die Kontinuität religiöser Sinndeutungsmuster manifestiert sich unter anderem auf einer semantischen Ebene in Bezug auf den Umgang mit Markt und Wettbewerb. Der Beitrag zeigt, wie Mennoniten den Markt als Handlungsraum unternehmerischer Möglichkeiten nutzten und ihre Handlungslogik durch die ethischen Maßgaben des Täufertums begründeten. Das Beispiel mennonitischer Unternehmer lässt sich damit in den breiteren Diskurs um Säkularisierung und Persistenz des Religiösen in der modernen Ökonomie einordnen.
Susanne Kokel, Marburg:
Tüchtige Kaufleute und moderne Großbetriebe – Die Entstehung des Konzerns der Herrnhuter Brüdergemeine 1895
Mit einer Neuordnung 1895 leitete die Herrnhuter Brüdergemeine eine radikale Modernisierung ihrer umfangreichen und diversifizierten Gemeinwirtschaft auf dem Europäischen Festland ein. Die bisher von lokalen Gemeindevertretern geführten Unternehmen wurden einem zentralen professionellen Management unterstellt, welches von Beginn an eine Strategie des Wachstums verfolgte und Ressourcen vor allem in Großbetriebe lenkte. Die damit verbundene Bereinigung des Portfolios ging einher mit der Aufgabe einer Vielzahl kleinerer Handwerks- und Handelsunternehmen insbesondere in ländlichen Regionen und mit direkten Auswirkungen für die Gemeinden. Höherer Kapitalbedarf, steigende Arbeitnehmerzahlen und Beteiligungen an fremden Firmen sorgten für zunehmende Verflechtungen mit externen Anspruchsgruppen, die wiederum auf Management und Unternehmenskultur zurückwirkten. Diese Veränderung des Geschäftsbereiches der Kirche, der traditionell durch eine Einbindung in das religiöse Leben als legitim tradiert und durch Erfolge in der Vergangenheit positiv konnotiert war, löste innerhalb der Gemeinschaft immer wieder Diskussionen über eine dem kirchlichen Eigentümer angemessene Konzernführung aus.
Damit ist eine Konstellation skizziert, in der ausgewiesen religiöse Akteure – auch die Finanzdirektoren waren Mitglieder der Religionsgemeinschaft – unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Moderne und in einem immer stärker säkularen Umfeld unternehmerisch auf Märkten aktiv waren. Die Bedeutung religiösen Glaubens für eine sinnstiftende Unterlegung unternehmerischer Entscheidungen kann anhand überlieferter Protokolle und Korrespondenzen für einen Zeitraum von ungefähr 50 Jahren untersucht werden.
Welche Rolle spielte religiöser Glauben bei der Rechtfertigung umstrittener Entscheidungen gegenüber verschiedenen Anspruchsgruppen und welche Veränderungen im Zeitablauf können festgestellt werden? Können alternative Begründungen mit vergleichbarem Geltungsanspruch identifiziert werden und welche Akzeptanz hatten diese in der Religionsgemeinschaft?
Es wird die These aufgestellt, dass das Verständnis von religiösem Glauben und seine konkrete Bedeutung im Wirtschaftsleben im Zeitablauf Veränderungen unterworfen waren, welche in einem engen Zusammenhang mit der Rolle der Kirche in der Gesellschaft standen.
Abstracts (English version):
Boris Gehlen, Bonn:
„Vermehrung der Concurrenz“ als „Glaubensbekenntnis“? Markt und Wettbewerb zwischen Sinndeutung und Selbstzweck in den Debatten des Deutschen Handelstags bis 1914
The Deutsche Handelstag (DHT) was founded in 1861 and organized commercial and industrial associations. It was the first ‘national’ German business interest group. Its meetings soon were in the core of its decision-making process until, in 1900, a reform made them adopt a rather representative character. The delegates, at first, debated about basic issues of the economic order and, at second, represented – due to a heterogeneous composition – different views on “competition” and “markets”. However, the paper shows that main arguments were phrased as creeds. Moreover, they were based on experience and influenced the businessmen’s expectations even when they were confronted with previously unknown phenomena such as market failures.
The actors repeatedly emphasized the relevance of competition and thus constructed sense. Combined with the model of commercial honor, competition was in the core of the association’s identity. In doing so, the DHT isolated itself from interest groups which at that time preferred a different model of distribution – in favor of their members. Therefore, minority opinions or an active demand for state intervention always had to be thoroughly substantiated in DHT’s internal discourses.
The paper shows that “markets” and “competition” in several ways were constructed as creeds. The conceptual pair was ritually communicated and critics often stylized as heretics. But this was no rhetorical end in itself but worked internally as sense-making and externally to exclude dissenters.
Martin Lutz, Berlin:
“May God make my trip profitable” – Mennonites and the Market in the United States
This paper analyses Mennonite entrepreneurs’ attitudes towards markets and competition in the industrializing economy of the United States. The Mennonite denomination evolved as part of the Anabaptist movement during the Reformation. By the end of the 19th century and after several waves of immigration, large Mennonite congregations of Swiss/southwest German origin lived on the East Coast and in the Midwest. More recent Mennonite immigrants from Russia and northern Germany settled in the Great Plains. These Mennonite groups seized opportunities provided by the industrial economy in the late 19th century, developing a vibrant entrepreneurial culture that continues through the present day.
Since the early modern period, Mennonites had a reputation of being prolific entrepreneurs. For example, Max Weber mentions Mennonites in his essays on the Protestant work ethic and describes them as having a “connection of a religious way of life with the most intensive development of business acumen” that was essential in the formation of modern capitalism. However, Weber also argued that the “spirit of capitalism” would lose its religious foundation in the course of modernization and lead to a secular society. This does not hold for Mennonites. I argue that Mennonite entrepreneurs remained and continue to be firmly committed to an economic ethic that is based on Anabaptist theology. The continuity of their religious creed is reflected in semantics regarding the market and competition. This paper shows how Mennonites used the market as an entrepreneurial opportunity while justifying their actions with Anabaptist religious principles. The Mennonite entrepreneurs’ case study is then discussed in the wider context of secularization and the persistence of religion in modern economies.
Susanne Kokel, Marburg:
Competent Businessmen and Large-Scale Enterprises – Formation of the Cooperative Group of the Moravian Church 1895
The reorganization of the extensive and diversified cooperative property of the Moravian Church on the European continent in the year 1895 made way for a radical modernization. Being up to now managed by elected elders of the local congregations, all companies were now put under a central professional management, deciding from the beginning to follow a strategy of growth, thus allocating resources mainly to large-scale enterprises. Respective portfolio adjustments led to closures of a number of smaller handicraft and trade companies, mainly located in rural areas, with direct impact on congregations. Higher capital requirements, a growing number of employees and investments in other companies led to increasing interlocking with external stakeholder groups, affecting management and business culture in return. The business area of the church traditionally accepted as an integral part of religious life with successful historical examples at hand thus underwent radical changes, causing many discussions within the community regarding management strategies and techniques being appropriate to church ownership. Analysis of sources like minutes and correspondences for a period of around 50 years can help to learn more about the importance of religious belief as a sense-giving fundament for business decisions.
The paper presents a case in which explicitly religious players – the financial directors being members of the religious community themselves – were acting as entrepreneurs on markets under the conditions of modernity in business and growing secularism. Which role did religious belief play for a justification of controversial decisions towards different stakeholder groups and how did this change within the analysed period? Were alternative explanations of comparable consequence and did they find acceptance within the religious community? I argue that the actual understanding of religious belief and it´s concrete importance in business underwent changes in time, closely related to the role of church in society.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
Phil-E
Philosophenturm
MIT21SEP15:18- 18:00Indian Foreign Policy under Nehru15:18 - 18:00 PHIL-F
Überblick
(Amit Das Gupta, München)
Überblick
(Amit Das Gupta, München)
Swapna Kona Nayudu, London:
»Nehru isn’t dead until I say he is dead«. The first Prime Minister and the Making of the Indian Foreign Service
Amit Das Gupta, München:
Indian Germany Policy under Nehru
Andreas Hilger, Marburg:
Competing Visions of World Order – Indo-Soviet Relations in Times of Cold War
Srinath Raghavan, New Delhi:
A Missed Opportunity? The Nehru-Zhou Enlai Summit of 1960
Discussant: Madhavan Palat, New Delhi
Abstracts (scroll down for English version):
Die indische Deutschlandpolitik war kaum einmal Chefsache, weshalb man auch nicht von Nehrus Deutschlandpolitik sprechen kann. Der Premierminister konnte die ihm lästige deutsche Frage wegen ihrer Relevanz für den Kalten Krieg nicht einfach abtun, überließ sie aber wechselnden Beamten des Außenministeriums, die aus Mangel an Weisungen wie oft auch an Kenntnis einen Schlingerkurs fuhren. Nur gelegentlich sorgte er mit teils unmotivierten, öffentlichen Äußerungen für Missstimmungen im eigentlichen guten Verhältnis zu Bonn. Das grundsätzliche Dilemma, dass nämlich einerseits Indiens nationale Interessen eindeutig in einer Partnerschaft mit der Bundesrepublik lagen, andererseits eine blockfreie Außenpolitik wie insbesondere die wachsende Nähe zur Sowjetunion eine Gleichbehandlung der DDR nahelegten, wurde nie gelöst.
Dies zeigte sich bereits unmittelbar nach Unabhängigkeit, mit der Indien eine Militärmission im britischen Sektor Berlins übernahm. Schon 1948 wurde ein Handelsabkommen mit der Bizone geschlossen, und in den Westzonen wurde intensiv nach Experten für Indiens Industrialisierung gefahndet. Gleichzeitig zeigte die Sowjetunion Delhi die kalte Schulter. Als die Alliierte Hochkommission mit der Gründung der Bundesrepublik und der Etablierung der Regierung Adenauer um die Eröffnung eines Büros in Bonn bat, löste das monatelange Diskussionen unterer Chargen im Außenministerium aus, die sich einigen konnten, ob eine ungebunden Außenpolitik Indien nicht dazu verpflichtete, schon aus Prinzip nicht einfach den Westmächten zu folgen. Als weder Nehru noch sein engster Berater Krishna Menon, High Commissioner in London, in irgendeiner Form Stellung nahmen, ergriff der Leiter der Militärmission Khub Chand die Initiative. Trotz einer weitgehenden Ablehnung insbesondere der US-amerikanischen Welt- und Deutschlandpolitik plädierte er im nationalen Interesse für den Gang nach Bonn, der die Anerkennung der Bundesrepublik bedeutete. Dieser Vorschlag des jungen wie unerfahrenen Diplomaten wurde vom Secretary General des Außenministeriums, G.S. Bajpai abgesegnet, der als Realpolitiker Indiens Interessen ohnehin im Westen sah. Foreign Secretary K.P.S. Menon mitsamt einer starken Fraktion im Ministerium drängte allerdings darauf, die Tür für eine Anerkennung der DDR offen zu halten – die allerdings gar nicht erst anfragte. Damit verpasste sie folgenreich die historische Gelegenheit, eine führende Macht der Blockfreien und möglicherweise diese heterogene Gruppe auf eine Gleichbehandlung der beiden Staaten zu verpflichten.
Die indische Deutschlandpolitik geriet vor diesem Hintergrund zum fortdauernden Eiertanz, umso mehr als die Gründe für die Bevorzugung der Bundesrepublik umgehend in Vergessenheit gerieten. Schon nach wenigen Jahren galt auch nach Innen die Sprachregelung, Indien sei durch die Übernahme der Militärmission gewissermaßen in eine Anerkennung der Bundesrepublik hineingeschlittert, die aber paradoxerweise keine Diskriminierung der DDR bedeuten sollte. Vielmehr wolle Delhi nach dem einmal vollzogenen Schritt nichts unternehmen, was die deutsche Teilung vertiefen könnte. Diese vage Haltung führte bereits 1952 beinahe zu einem Eklat. Nach der Eröffnung von Botschaften drängte Delhi auf einen Freundschafts- und Handelsvertrag, der vor allem ein politisches Dokument darstellen sollte. Als die Bundesregierung darauf nach einigem Zögern einging, erfuhr sie zu ihrer Überraschung, dass Indien in einem solchen Dokument einen Separatfriedensvertrag sehen müsse, den es wegen seiner bekannten Haltung zur deutschen Frage nicht abschließen könne.
Die Integration beider deutscher Staaten in die jeweiligen Paktsysteme wurde in Delhi als Bedrohung für den Weltfrieden und als Verfestigung der Teilung verstanden. Sie beerdigte aber die jahrelang gehegten indischen Hoffnungen, dass ein geeintes, neutrales und demilitarisiertes Deutschland einen Puffer zwischen den weltpolitischen Blöcken bilden könnte. Die nun einsetzende recht intensive Besuchsdiplomatie von Ende 1955 bis einschließlich 1960 hätte eigentlich zu einer Klärung offener Fragen beitragen sollen, zumal mit Foreign Secretary Subimal Dutt ein ehemaliger Botschafter in der Bundesrepublik wie auch ein profilierter Anti-Kommunist zwischen 1955 und 1961 die Deutschlandpolitik zu seiner Domäne machte. Vertreter der DDR konnten allerdings stets darauf zählen, dass der unberechenbare und neugierige Nehru alle Bedenken seiner Berater über den Haufen warf und „Durchreisende“ wie Staatsgäste empfing. So wie der Premier- und Außenminister häufig wie ein Schilf im Winde erschien, erwies es sich stets als Unmöglichkeit, Minister oder höhere Beamte auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten. Die DDR wusste daraus Vorteil zu schlagen und Fakten zu schaffen.
Zugleich wurde die Bundesrepublik mit Misstrauen beobachtet, was nicht unbedingt an ihren politischen Positionen lag, sondern daran, dass Adenauer in den Augen Nehrus, Dutts wie vieler anderer indischer Diplomaten nach John Foster Dulles der unbeliebteste westliche Politiker war. Paradoxerweise vertiefte sich diese Abneigung in dem Moment, als Bonn Delhi in Zeiten großer finanzieller Nöte zur Seite sprang und im Indienkonsortium eine wichtige Rolle übernahm. In einer Art präventiver Abwehr der unabwendbar wachsenden Verpflichtung gegenüber der Bundesrepublik äußerte sich Nehru nach Ausbruch der Zweiten Berlin-Krise wenig freundlich und befand, dass niemand weltweit die Wiedervereinigung wirklich wolle, weil allseits unrealistische Vorbedingungen gestellt würden. Ein Tankstopp von DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl kam nahe an einen veritablen Staatsbesuch. Obwohl die Gespräche an sich belanglos waren, durfte die Tatsache, dass sie überhaupt stattfanden und das kurz nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum als Ost-Berliner Erfolg verbucht werden.
1961 schien sich die Waage kurzzeitig vollends zugunsten einer Anerkennung der DDR zu neigen. Mit dem Abschied Dutts aus dem Außenministerium übernahmen dort mit seinem Nachfolger M.J. Desai sowie Krishna Menon die „Linken“, die eine noch sehr viel kritischere Haltung gegenüber der Regierung Adenauer einnahmen. Dementsprechend wurde Nehru einseitig beraten, als er im Vorfeld der Belgrader Blockfreien-Konferenz Europa bereiste. Seine Kommentare zum Mauerbau, die eher sowjetische Positionen unterstützten, die menschliche Not übergingen und ansonsten von Erleichterung geprägt waren, vergifteten die Atmosphäre zwischen Bonn und Delhi. Allerdings war der indische Premierminister eine treibende Kraft unter denjenigen, die während der Konferenz eine Resolution verhinderten, die die Existenz zweier deutscher Staaten zur Kenntnis genommen hätte. Angesichts Indiens zunehmend heikler Lage im Grenzstreit mit China sowie der Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA erschien es Nehru wenig sinnvoll, eine heikle Lage noch weiter zu verschärfen.
Die Kehrtwende kam mit der indischen Niederlage im Grenzkrieg mit China im Oktober und November 1962. Panisch nach Unterstützung suchend garantierte Nehru die DDR nicht anzuerkennen, und sowohl er als auch seine Nachfolger hielten sich so lange daran, bis die beiden deutschen Staaten mit dem Grundlagenvertrag eine Normalisierung des Verhältnisses untereinander herbeigeführt hatten. Insgesamt zeigt die indische Deutschlandpolitik dieser Jahre eine stark irrationale Komponente. Während Delhi im Großen letztlich bei seiner Linie einer einseitigen Anerkennung der Bundesrepublik blieb, zeigen öffentlichen Äußerungen wie interne Diskussionen davon, dass häufig Ratlosigkeit zu Unbeständigkeit führte.
Andreas Hilger, Marburg:
Competing Visions of World Order – Indo-Soviet Relations in the Cold War
Der Vortrag diskutiert die zeitgenössischen Wahrnehmungen von Möglichkeiten und Grenzen der Beziehungen eines „blockfreien“ Staats mit der sozialistischen Großmacht UdSSR. Dabei steht das Wechselspiel der bilateralen Kontakte mit den jeweiligen internationalen Gesamtprogrammen und -positionen in ihren multiplen Kontexten von Dekolonisierung und Kaltem Krieg im Mittelpunkt. Gedeihliche bilaterale Beziehungen, so die Annahme auf beiden Seiten, sollten immer auch weiter gefassten Ambitionen dienen – oder aber sie konnten durch Entwicklungen in breiteren, relevanten Zusammenhängen beeinflusst werden.
Unter Nehru betteten sich die politischen Beziehungen zur UdSSR in Ideen des indischen Premiers über eine adäquate Weltordnung ein. Für ihn war die Gleichberechtigung selbstbestimmter (National-)Staaten ein unverrückbarer Pfeiler, enge Kooperation aller Staaten für Frieden und allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung ein anderer. Folgerichtig maß die indische Außenpolitik unter Nehru den Vereinten Nationen grundsätzliche Bedeutung bei: als Forum intensiver Kontakte und Diskussionen, als Symbol und Garant universaler Bestrebungen und Werte sowie als Institution, die sich aktiv um Schritte Richtung Frieden und Fortschritt bemühte. Diese Grundeinschätzung galt ungeachtet einzelner Irritationen der indischen Politik, vor allem wenn es um die Regulierung des Kashmir-Konflikts sowie anderer Streitpunkte im indisch-pakistanischen Verhältnis ging.
Die sowjetische Politik folgte anderen Leitmotiven. Als Imperium strebte die UdSSR danach, ihre sozialistische „Zivilisierungsmission“ in die Welt zu tragen. Aus dem sozialistischen Lager entwickelte sich das sozialistische Weltsystem, das letztlich tatsächlich die ganze Welt umfassen sollte. Angestrebt war letztlich eine sozialistische Großfamilie, in der sich Fragen nach Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und sozialen Ordnungen und Standards im Grunde nicht mehr stellten. Damit war auch die konkrete Ausgestaltung von Fortschritt und Frieden vorgegeben, alternative Entwicklungswege, Ausformungen oder Regeln universaler Kooperation waren auf längere Sicht vom sowjetischen Entwurf zu absorbieren, eher noch zu verdrängen. Unter diesen Prämissen war die sowjetische Einstellung zu einer Weltorganisation, die internationale Strukturen stabilisierte und nicht-sozialistische Kooperationen ermöglichte bestenfalls ambivalent: Während Stalin für Überlegungen offen war, die Weltorganisation gänzlich zu torpedieren, betrachtete sein Nachfolger sie vielfach eher als Propagandabühne. Spannungen mit einer Politik, die wie die indische weitaus stärker in nationalen, hinsichtlich der weiteren Entwicklung jedoch offeneren Kategorien dachte, waren nahezu vorgegeben. Darüber hinaus befand sich die UdSSR im Kalten Krieg in direkter Konfrontation mit dem „westlichen“ Entwurf einer Globalordnung. In diesem Kontext erschienen die Gremien der UN nur noch als Arena der Systemauseinandersetzung sowie als Instrument zur Schwächung des Gegenüber, ohne Rücksicht auf Funktion oder langfristige Perspektiven der Gesamtorganisation.
In der Praxis entzündeten sich indisch-sowjetische Gegensätze in der UN an verschiedenen Themenkomplexen: an der Aufnahme neuer Mitglieder (insbesondere bis 1955), an der Rolle der UN in Abrüstungsfragen, an dem Beitrag der UN zur Dekolonisierung sowie, im Spannungsfeld von Kaltem Krieg und Dekolonisierung, an ihrem Engagement in eigenen Friedensoperationen. Anfang der 1960er Jahre flossen mehrere Stränge zusammen, als u.a. die Supermächte ihre Rüstungsanstrengungen erneut forcierten, die Dekolonisierung in der UN neue Prominenz gewann und sich die UN aktiv an der Bewältigung der Kongo-Krise beteiligte. Die Analyse der indischen und sowjetischen UN-Aktivitäten in diesen Fragen, vor allem aber in der Dekolonisierungs- und Afrikapolitik, legte die fundamentalen Gegensätze in der indischen resp. sowjetischen UN-Politik und damit Grenzen ihrer internationalen Kooperationsfähigkeit offen.
Derlei Diskrepanzen mussten sich nicht grundsätzlich negativ auf das eigentliche bilaterale Verhältnis der beiden Länder niederschlagen. Für die Regierung Nehru waren Beziehungen zur UdSSR immer auch ein Testfall, in dem sich – auch gegen innere und externe Kritiker – die Richtigkeit der eigenen außenpolitischen Prinzipien erweisen sollte. Die Fünf Prinzipien, hier vor allem die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die Bereitschaft zur allgemeinen Kooperation, mochten vor allem dann internationale Signalwirkung entfalten, wenn sie in bilateralen Beziehungen mit der UdSSR positive Resultate zeigten. Auf diese Weise, dies die Hoffnung indischer Politik, würden eigene Grundprinzipien internationaler Politik zunehmend an globalem Einfluss gewinnen (und auf diesem Umweg auch die UN stärken). Zugleich würde die geregelte Zusammenarbeit mit dem durch die Fünf Prinzipien gezähmten Moskau die nationale Entwicklung und Selbstbehauptung Indiens stärken. Diese Programmatik mit entsprechend positiven Folgewirkungen galt für die Beziehungen zur UdSSR, sollte aber nach Ansicht Delhis für alle indischen Kontakte zur sozialistischen Welt und insbesondere auch für China gelten.
Engere indisch-sowjetische Beziehungen zumindest schienen nach Stalin möglich zu werden. Für die neuen Machthaber im Kreml bot die – so ihr Duktus – friedliche Koexistenz sowohl mit Blick auf das eigene imperiale Programm als auch in der damit zusammenhängenden Auseinandersetzung mit dem direkten Systemgegner Vorteile. Im Rahmen des friedlichen Wettbewerbs würde, so das längerfristige Kalkül, die eigene (wirtschaftliche, soziale und kulturelle) Ausstrahlungskraft, verstärkt durch Kooperation und Propaganda in Wirtschaft, Kultur, Diplomatie und ggf. Militär, dazu führen, dass sich Staaten und Gesellschaften wie Indien quasi von selbst von den Vorzügen des Sozialismus überzeugen und sich für den entsprechenden sozialistischen Entwicklungsweg entscheiden würden. (In dieser Lesart mochte Moskau die friedliche Koexistenz in der Summe von bilateralen Beziehungen nahezu zur Umgehung der ungeliebten UN nutzen).
Allerdings ging auch Moskau, spiegelbildlich zu Delhi, davon aus, dass sich das gesamte sozialistische Lager und vor allem China an den eigenen Berechnungen orientierte. Dies war bekanntermaßen nicht der Fall. Verschlechterungen im chinesisch-indischen und im sowjetisch-chinesischen Verhältnis verliefen ab Mitte der 1950er Jahre parallel zueinander. Ab Ende der 1950er Jahre waren sie untrennbar miteinander verbunden – mit dem Kulminationspunkt im indisch-chinesischen Grenzkonflikt. In diesem erwiesen sich faktisch beide Ideengebäude: über die friedliche Koexistenz die sozialistische Sache im Moskauer Sinn zu fördern, oder aber indische Rezepte für internationale Politik im 20. Jahrhundert aufzuwerten, als gescheitert, die Umsetzung bilateraler Ansätze zu Fortschritten in Gesamtprogrammen als misslungen.
Im Fazit verweisen beide Beziehungsdreiecke – Indien, UdSSR und UN sowie Indien, UdSSR und China – auf die komplexe Einbindung der bilateralen Beziehungen in die internationalen Gesamtprozesse der Nachkriegsepoche zurück. Die ambitionierte Außenpolitik Indiens konnte nicht außerhalb der miteinander verbundenen Konfliktfelder von Kalten Krieg und sozialistischen Machtkämpfen bleiben. Auf der anderen Seite blieb der Einfluss der UdSSR in und auf Südasien begrenzt.
Abstracts (English version):
Nehru never showed any continues interest in the German Question, although he could not throughout ignore this cumbersome issue. Apart from occasional, often ill-tempered statements, he mostly left it to various officials of the Minister of External Affairs (MEA), wherefore it would not be justified to talk of Germany policy of Nehru’s. Due to the lack of guidance and often of expertise, Delhi’s course was often meandering though on the whole the bilateral relationship with the FRG remained stable to mutual benefit. Nevertheless, India never found a solution to its basic dilemma. On the one hand, its national interests clearly lay with West Germany. On the other hand, a non-alignment country with the increasingly closer relations to the USSR might have pursued a course of equidistance to the two Germanies.
Events right after independence already gave evidence to this, India taking over a military mission in the British sector of Berlin. Already in 1948, it concluded a first trade agreement with the Bizone, and was trying to win experts for its industrial development in the western zones. On the contrary, the USSR turn a cold shoulder. When the Allied High Commission with the foundation of the FRG and the establishment of the Adenauer government asked whether the military mission might open an office in Bonn, this triggered lengthy inconclusive debates among the lowers ranks of the MEA, some of them holding that non-alignment meant not simply following the Western Powers on principle. As neither Nehru nor his main advisor Krishna Menon, High Commissioner in London, showed any inclination to take a decision, Khub Chand, the head of the military mission took the initiative. There was no love lost regarding U.S. Germany policy or its foreign policy in general. He found, however, that India’s national interest dictated opening the Bonn office, which actually meant recognition of the FRG. This suggestion of a junior and inexperienced officer was met with approval by G.S. Bajpai, the powerful Secretary General of the MEA, who thanks to his through and through realist approach saw much value in cooperating with the West. Nevertheless, a strong group of officials around Foreign Secretary K.P.S. Menon insisted on keeping the door open for a recognition of the GDR. Had the latter asked, it might have found a positive response. In not doing so it missed a window of opportunity. In case a leading power among the non-aligned had treated the two Germanies on a strictly equal footing as early as 1949, the whole competition between Bonn and East-Berlin around Asian and African countries lasting until 1972 would not have taken place after all.
Given that background, Indian Germany policy was a permanent walk on eggshells, even more as soon nobody in Delhi remembered why actually the FRG had been recognised in 1949. Within a few years, the standard explanation even within the MEA became that it all somehow happened to the takeover of the mission in Berlin. Paradoxically, the unilateral recognition was not intended to discriminate the GDR against apart from certain legal restrictions. Delhi’s main argument for not raising the status of relations with East Berlin was that it did not mean to do anything that might come in the way of German unification. This wishy-washy policy had unwanted consequences already in 1952, when India pursued a treaty of friendship and cooperation with the FRG, explicitly pursuing what it termed a political document, only to back out at the last moment. Flabbergasted West German representatives were told that such an agreement came close to a separate peace treaty, which came in the way of the principle not to come in the way of unification.
India saw the integration of the two Germanies into the military blocs as obstacle to unification and contributing to global tensions. It ended the yearlong hopes for a united, demilitarized, and neutralized Germany as buffer between the military alliances in Europe. After the status of Bonn and East Berlin had been clarified for the foreseeable future, nevertheless, an intensive exchange of visitors started, direct high-level talks to be expected to deepen mutual understanding. With Subimal Dutt, India’s first ambassador to the FRG and a pronounced anti-communist was appointed Foreign Secretary a highly rational professional took over charge in German affairs. The GDR, however, could count on the unpredictable and curious Nehru would ignore advice and the Government of India as a whole never pursued a common line. Step by step, East Berlin was able to upgrade its status.
At the same time, the FRG was viewed with scepticism, not so much because of its political positions but for the personal dislike for Adenauer, after John Foster Dulles easily the least unpopular leading Western politician in India. Paradoxically, this dislike deepened the moment that Bonn started aid on a massive scale and played an important role in the Aid India Consortium. The awareness that West German loans were given with the tacit expectation that Delhi would not harm vital interest of the donor played in the background when Nehru commented on the Second Berlin Crisis, wondering whether anyone wanted German unification all parties involved coming with impossible preconditions. On top of it GDR Prime Minister Otto Grotewohl, landing in Delhi for refuelling, was treated like a state guest. Although his talks with Nehru were meaningless and inconsequential, the fact that they had taken place and even more so at a crucial moment played in the hands of East Berlin.
In 1961, India seemed to finally tilt towards the GDR. Dutt left the MEA, and his successor M.J. Desai together with Krishna Menon as leading leftist was prone to change course. Poorly advised, Nehru in the days after the construction of the Berlin Wall came up with a number of statements supporting Soviet views, ignoring human suffering, and showing relief. Nevertheless, at the Conference of nonaligned States in Belgrade he played a decisive role in preventing a resolution acknowledging the existence of two German states. Against the background of massive tension with China about the common border and intensifying global tensions he believed it unwise to pour oil in the fire.
The turnaround came with India’s military disaster in the border war with China in October and November 1962. Desperately asking for support and military supplies, Nehru promised not to recognize the GDR, and he and his successors kept to it. Only when the two Germanies came to term with each other with the Basic Treaty in 1972, diplomatic relations with East Berlin were opened. In sum, Indian Germany policy between 1948 and 1962 was surprisingly irrational. Keeping to the general line to abstain from de iure recognition of the GDR, numerous statements and internal discussion give evidence of uncertainty and lack of consistency.
Andreas Hilger, Marburg:
Competing Visions of World order – Indo-Soviet Relations in the Cold War
The paper discusses contemporary perceptions of possibilities and limits of relations between non-aligned India and the socialist superpower USSR. The paper focuses on the interplay between bilateral contacts, the overarching Indian and Soviet international programs, and the multiple contexts of decolonization and Cold War. Both sides acted on the assumption, that a positive relationship would serve broader international ambitions as well – or vice versa.
Under Nehru’s guidance, Delhi’s political relations with the USSR were embedded in his ideas about an appropriate world order. In this regard, equality of self-determined (national) states constituted one pillar, close cooperation of all states in the cause of peace and general economic and social advance another. Consequentially, Indian foreign policy under Nehru attached special importance tot he United Nations (UN): as forum for intensive contacts and discussion, as both symbol and guarantor of universally acknowledged aims and values, and as institution that took pains to promote actively peace and progress. This attitude prevailed until the 1960s, single irritations of Indian foreign policy experts notwithstanding. They resulted, as a rule, from UN-activities concerning the regulation of the Kashmir-conflict and other contentious issues in Indo-Pakistani relations.
Soviet policy had other leitmotifs. The Soviet empire aspired to spread its „civilizing mission“ – Socialism – throughout the world. The socialist camp (under Stalin) developed into a socialist world system, that was expected in the not too distant future to encompass the whole globe. In the end, Soviet leadership had the vision of a kind of a socialist extended family, where questions about equality, self-determination, and social order and standards had lost their importance. The Soviet vision implicitly provided for concrete definitions of progress and peace as well. In the long term, the Soviet project had to absorb, basically to supersede alternative paths of development as well as competing designs and rules of universal cooperation. Given such premises, the Soviet attitude towards a world organisation, that stabilized existing international structures and facilitated non-socialist cooperations was ambivalent at best. Stalin at least toyed with the idea to destroy the UN, whereas his successor regarded the UN just as a propaganda arena. Basically, tensions with political approaches like the Indian, which still argued along national, but at the same time less restricted categories of cooperation and development, were unavoidable. In addition, the Cold War directly confronted the USSR with a contrary „Western“ draft of a global order. In this Cold War context, the UN more often than not was used as nothing else than a stage for Cold War confrontation an das instrument to weaken the adversary, without respect for function or long-term prospects oft he organisation.
In practice, several UN-issues revealed fundamental Soviet-Indian foreign policy differences: the admission of new member states (particularly until 1955); the role of the UN in questions of global disarmament; UN-contributions to the process of decolonization (and its acceleration); and, at the crossroads of decolonization and Cold War, the UN-engagement in specific peace(keeping) missions. In the early 1960s, several development lines merged, when the superpowers again forced their arms build-up, decolonization questions gained new importance in the UN, and the UN became involved in the Congo-crisis. The analysis of Indian and Soviet UN-activities with regard to these issues, above all in debates and decisions about decolonisation and the UN-policy towards Africa, demonstrated the contradictoriness between Indian and Soviet approaches and thereby the limits of their ability to cooperate in international questions.
Such discrepancies did not automatically negatively affect the direct bilateral relationsship. The Nehru-government always regarded its contacts with Moscow as a test case which – against domestic and external critics – had to prove the correctness of foreign policy principles and approaches. It was supposed that the famous Five Priniciples, above all mutual non-interference and the readiness to general cooperation, would develop international signaling effects if they yielded positive results on the bilateral level. In this way, Indian decision-makers hoped, their foreign policy fundamentals increasingly would gain international acceptance and influence (and strengthen the UN as well). At the same time, the regulated cooperation with Moscow, which was tamed by the Five Principles, would strengthen India‘s national development and assertiveness. Generally, this program and its corresponding consequences should be applied to Indian relations with all socialist countries, above all with China as well.
After Stalin’s death, at least closer Indo-Soviet relations became possible. From the point of view of the Kremlin’s new rulers, the – in their terminology – peaceful coexistence provided for several advantages with regard to both the Soviet imperial program as well as the interconnected competition with the capitalist adversary. Under conditions of peaceful competition, the Soviet calculus ran, socialist (economic, social, and cultural) attractiveness, amplified by direct cooperation and propaganda in economic, cultural, diplomatic, and military spheres would convince countries and societies like India to adopt the socialist path of development.
Nevertheless, Moscow likewise assumed that the whole socialist world and above all China would follow Soviet ideas and directions. This was not the case. Since the mid-1950s, deteriorations in Indo-Chinese relations went hand in hand with worsening of Sino-Soviet relationship. Since the end oft he 1950s, both processes were inseparably interwoven – in autum 1962, they culminated in the Sino-Indian border war. Basically, the war falsified both concepts: to promote the socialist – Moscow – cause by means of peaceful coexistence, or to enhance the status of Indian recipes for international relations in the 20th century by demonstrations of successful peaceful coexistence as well. The transformation of bilateral relations into progresses in overarching international programs had failed.
In the final analysis, both triangles: India-USSR-UN as well as India-USSR-China, demonstrate the complex integration of bilateral Soviet-Indian relations in international developments of the post-war world. India’s ambitious foreign policy could not remain outside the interrelated prevailing conflicts of Cold War and Socialist power struggles; at the same time, the Soviet influence in and on South Asia remained limited.
Swapna Kona Nayudu, London:
“Nehru Isn’t Dead Until I Say He Is Dead”: The First Prime Minister & the Making of the Indian Foreign Service’
India of the mid-1940s was a heady place. She had survived a world war and was preparing for independence, a monumental task matched only by the anticipation it gave rise to. There was a great sense of curiosity, more than anything else, about the direction the new nation would take. The wider world was looking quite closely at the choices Indian leaders were making, and at the debates that informed those choices. There was a sense that history was being made and that the world at large was woven into this moment as much as India herself. In this matter especially, all eyes were on Nehru who having pursued various ideas of India, had expended a considerable amount of his early political career thinking quite deeply about India and her place in the world. His early works, particularly the Discovery of India had foregrounded India against the global, and had picked up themes that were to find wider resonance in India’s own experiments with politics. In the interwar years, Indian public life had been rife with ideological dialogue, and various political dispensations had come to the fore. The coming of the Second World War threw these positions into crisis and some emerged more resolutely than others. As Europe emerged out of the shadows of war, India emerged out of the shadow of Empire. As India pushed towards independence, her international relations acquired an even greater significance, as relations between states in this postwar world were being reoriented and forged anew. Naturally, India’s new and emerging foreign service was at the center of this picture. As Nehru was most active in giving form to Indian diplomacy before, and right after Indian independence, the Indian Foreign Service took shape along lines he had put down, or had delegated to other also very influential personalities. Thus, the paper argues that to understand the contemporary character of Indian diplomacy, it is important to begin at the beginning of the diplomatic relations of the Indian state, in the Nehru era, historicizing it through the criss-crossed narratives of India’s first diplomats. The paper begins with a section discussing forms of diplomacy practised in India pre-independence. The paper will delineate the forms of diplomacy that existed pre-1947, through the initiatives adopted by the nationalists i.e. the Indian National Congress and through the colonials i.e. the British Government. Further, the paper will discuss how certain personalities emerged from that milieu. The section also sets up a larger discussion of how diplomatic institutions were formed in the early years, the focus here being on the Indian Council of World Affairs, and the Ministry of External Affairs. This paper will then look at the early years of Indian diplomacy through the accounts of diplomats recruited in the time that Jawaharlal Nehru was Prime Minister of India. The accounts have been accessed either through sets of interviews or by looking at archival and textual sources, primarily through memoirs of an older generation of Indian Foreign Service officers. The paper will look at the early years of the Indian diplomatic corps in terms of the actual staffing, the variety of backgrounds the IFS officers were chosen from. The paper looks at Indian diplomats at the United Nations as also in ambassadorial positions elsewhere. Some of the more interesting personalities are those who worked in Indian legations abroad, where India did not yet have a full-fledged embassy. These officers were often caught in major mid-twentieth century crises, like in Hungary in 1956 and in the Congo in 1961, and therefore their accounts literally shaped India’s view of and response to those events. These exciting yet understudied characters and their perspectives are also discussed here. Studies of Indian diplomacy tend to be focussed on India’s bilateral relations or Indian negotiations at multilateral forums, yet there is very little literature discussing the persons who office the positions from which these negotiations are conducted. This paper aims to bridge that gap in the literature somewhat. The paper argues that it is important to constitute an institutional history of diplomacy in India, distinct from the outcomes that it achieves for India’s international relations. This paper is a step in that direction. Methodologically, the paper has chosen to integrate anthropological approaches to diplomacy along with International Relations literature focussed on foreign policy analysis and diplomatic history. The idea is to trace a process from the conception stage to the outcome stage. Some of the personalities whose memoirs are used are Subimal Dutt, KPS Menon, KM Pannikar, and Vijayalakshmi Pandit. Interviews conducted in New Delhi include amongst others, Eric Gonsalves, Salman Haidar, Lalit Mansingh and Arundhati Ghose. There is also an aspect of looking at how envoys from other countries looked to and at India and those perspectives are discussed by juxtaposing some of these accounts with those of foreign diplomats such as John K Galbraith and Escott Reid. The idea is to bring to life the role that diplomats and diplomacy played in the public life of India during the Nehru period.
Zeit
(Mittwoch) 15:18 - 18:00
Ort
PHIL-F
Philosophenturm
Überblick
(Martina Heßler, Hamburg) Martina Heßler, Hamburg: Einleitung Adelheid
Überblick
(Martina Heßler, Hamburg)
Martina Heßler, Hamburg:
Einleitung
Adelheid Voskuhl, Pennsylvania:
Ingenieurwesen, Technikglaube und philosophische Eliten um 1900
Rüdiger Graf, Potsdam:
Fortschrittsbehauptungen nach dem Ende des Fortschritts. Die gesellschaftliche Dimension technischer Fortschrittsvorstellungen in den 1920er und 1970er Jahren
Martina Heßler, Hamburg:
Der »fehlerhafte Mensch« und der Glaube an die Überlegenheit der Technik im 20. Jahrhundert
Heike Weber, Wuppertal:
Müll und Recycling: Der Glaube an das technische Schließen des »Kreislaufs« der Stoffe seit dem späten 19. Jahrhundert
Helmuth Trischler, München:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Adelheid Voskuhl, Pennsylvania:
Ingenieurwesen, Technikglaube und philosophische Eliten um 1900
In der Epoche um 1900 waren Ingenieure in Deutschland nicht nur dabei, sich als neue Berufsgruppe zu konstituieren. Sie versuchten auch, sich neben traditionellen Eliten aus Militär, Adel und Bildungsbürgertum als neue soziale Elite zu verorten. Ingenieure entwickelten zur gleichen Zeit Interesse an der neuentstehenden Subdisziplin Technikphilosophie und nutzten sie, um ihre technischen und sozialen Anliegen theoretisch zu fassen, zu integrieren und weiterzuverbreiten. Eine Gruppe von Ingenieuren im elitären Verband Deutscher Diplom-Ingenieure (VDDI, gegründet 1909) versuchte in der Verbandszeitschrift Technik & Kultur, Spannungen zwischen Ideen von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt bzw. Rückschritt für ihre Ingenieurleserschaft aufzubereiten und sich hierbei auch als meinungsbildende politische Klasse darzustellen. Es ist nicht untypisch für diese Epoche (und andere), dass dort, wo technische und soziale Theoriebildung betrieben wurden, der Glaube an das Gute und an das Schlechte der Technik enggeführt wurden und sich keine klaren Abgrenzungen zwischen Fortschritts- und Untergangsglauben in Bezug auf das Industriezeitalter ziehen ließen. Das galt auch für Ingenieure. Ganz besonders interessant ist hier, dass sich Ingenieure der Erkenntnistheorie und politischen Philosophie von kanonischen Philosophen wie Kant, Fichte, Spinoza und Schopenhauer annahmen und versuchten auf dieser Grundlage, einen Platz für Ingenieure in der bestehenden Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs bzw. der Weimarer Republik zu finden. Mein Augenmerk soll darauf gerichtet sein, wie Ingenieure sich sowohl in ihrer philosophischen Arbeit als auch ihren Bemühungen um sozialen Aufstieg mit vorindustriellem Gedankengut und mit vorindustriellen Gesellschaftsstrukturen auseinandersetzen mussten, wie sich dies in ihren Texten zur Technikphilosophie widerspiegelte und wie dies uns erlaubt, den Glauben an die Technik anhand der Historizität von Industrialisierung zu differenzieren.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Fortschrittsbehauptungen nach dem Ende des Fortschritts. Die gesellschaftliche Dimension technischer Fortschrittsvorstellungen in den 1920er und seit den 1970er Jahren
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die 1970er Jahre gelten gemeinhin als Hochphasen der Fortschrittskritik. Nachdem das industrialisierte Massentöten im Krieg für viele Zeitgenossen der Annahme einer vor allem auch durch Wissenschaft und Technik induzierten, kontinuierlichen Höherentwicklung der Menschheit die Grundlage entzogen hatten, konstatierten Soziologen, Philosophen und auch Historiker im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, dass das „Zeitregime“ der Modere insgesamt und mit ihm die Idee des Fortschritts an ein Ende gekommen sei. In beiden Fällen blieben die naturwissenschaftlich-technischen Eliten von diesem angeblichen Ende des Fortschritts jedoch erstaunlich unbeeindruckt. Während ihre kontinuierliche Fortschrittsbehauptung historiographisch zumeist als „nur technischer“, das heißt sektoral beschränkter Fortschritt von den umfassenderen Fortschrittsvorstellungen des 19. Jahrhunderts unterschieden wird, untersucht der Vortrag, ob und inwiefern sich mit den naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsversprechen weitergehende emanzipatorische Vorstellungen verbanden. Dabei wird gezeigt, dass Fortschrittsglauben und Fortschrittskritik nicht in eine diachrone Abfolge gebracht werden können, sondern vielmehr als Deutungsmuster historischer Zeit im 20. Jahrhundert miteinander konkurrierten und bis heute konkurrieren.
Martina Heßler, Hamburg:
Der „fehlerhafte Mensch“ und der Glaube an die Überlegenheit der Technik im 20. Jahrhundert
Der Glaube an Technik war und ist begleitet von der Vorstellung, Technik würde zu gesellschaftlichem Fortschritt, zu einem besseren und bequemeren Leben führen. Diente Technik in diesem Sinne also der Verbesserung menschlichen Lebens, so erschien nun aber „der Mensch“ selbst im Vergleich zur Technik in dieser fortschrittlichen Welt häufig als fehlerhaft. Die Rede vom „Störfaktor Mensch“ im technischen System versinnbildlicht dieses Konzept kurz und bündig. Besonders prominent wurde diese Figur im Kontext technischer Unfälle.
Der Vortrag widmet sich der Figur des „fehlerhaften Menschen“. Gezeigt werden soll, dass mit dem vor allem seit der Industrialisierung einsetzenden Vergleich von Mensch und Technik „der Mensch“ auf neue Art und Weise als fehlerhaft konzipiert wurde. Die Schwäche und Fehlerhaftigkeit der Menschen fiel zuerst in der Fabrik des 19. und des 20. Jahrhunderts auf. Die Argumentation findet sich seitdem in vielen weiteren technischen Bereichen, so im Flug- und Automobil-Verkehr, in der Medizin oder bei Entscheidungsprozessen.
Historisch betrachtet zeigt sich allerdings die Vielschichtigkeit des Prozesses: Je stärker technisiert wurde, desto ambivalenter wurde die Rolle der Menschen. Neben ihre Fehlerhaftigkeit offenbarten sich historisch immer wieder die Grenzen der Technik und führten dann jeweils zur positiven Neubewertung menschlicher Fähigkeiten. Gleichwohl handelt es sich bei der Feststellung der Fehlerhaftigkeit des Menschen, so die Kernthese, um ein Konzept, dass die technische Kultur seit der Industrialisierung trotz aller Gegentendenzen nachhaltig prägte. Es beschreibt eine Grundkonfiguration der Moderne, die immer wieder an ihre eigenen Grenzen stieß: die Orientierung an Effizienz, Produktivität und dem reibungslosen Ablauf.
Ziel des Vortrags ist es erstens, die historische Entstehung dieser Figur des fehlerhaften Menschen im 19. und 20. Jahrhundert herausarbeiten; zweitens sollen die Ambivalenzen der Argumentation nachgezeichnet werden. Drittens gilt es, die Argumentation auf ihre technischen Parameter, die vermeintlich rationalen, vor allem aber ökonomisch inspirierten Prämissen hin zu befragen und sie im historischen Kontext zu betrachten
Heike Weber, Wuppertal:
Müll und Recycling: Der Glaube an das technische Schließen des „Kreislaufs“ der Stoffe seit dem späten 19. Jahrhundert
Seit dem späten 19. Jahrhundert ist das geregelte „Entsorgen“ von Abfällen ein festes Element der modernen Stadt und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch der gesamten (westlichen) Gesellschaft. Verglichen mit den Fortschritten der Produktion, erfolgte die Professionalisierung und Technisierung des Abfallumgangs damit verzögert; der Entsorgungsbereich reagierte auf Entwicklungen wie steigende Abfallmengen oder Toxizität der Abfälle erst, als diese bereits als akute Problemlagen bestanden. Dennoch waltete auch in der Entsorgung ein starker Glaube an Technik, Fortschritt und Rationalität, der sich auf zweierlei Weise äußerte: Zum einen wurden Entsorgungs- und Recyclingverfahren des 20. Jahrhunderts wie Deponierung, Müllverbrennung und Kompostierung als „technological fix“ angepriesen, unkontrolliert wachsende Reste einer steigenden Produktion sowie Konsumtion problemlos beseitigen zu können. Zum anderen blieb die Abfallexpertise der Leitidee verhaftet, die so genannten Stoffkreisläufe „technisch“ schließen zu können: So wie die Natur organische Reste als Nährstoffe wieder aufnehme, so könnten Reststoffe ähnlich reibungslos mittels Recycling der Produktion als Rohstoffe wieder zugeführt werden.
Insbesondere diese – sich über weit als ein Jahrhundert haltende – Leitvision vom technischen Schließen der Stoffkreisläufe wurzelte stärker in Glaube und Hoffnung denn in Objektivität und Rationalität, und sie widersprach sehr bald zentralen Wissensbeständen des 20. Jahrhunderts: So führte jedes Recycling zu „Downcycling“-Effekten, d.h. zu Verlusten und einer Verminderung von Stoffqualitäten; und auch die Annahme, Abfall zersetze sich in der Deponie nach den Regeln des Komposthaufens, ließ sich bei genauerer Analyse der Zersetzungsprozesse nicht halten. Neben Glaube und Hoffnung, so wird der Vortrag zeigen, muss zur Erklärung der Entwicklung von Abfalltechniken außerdem ein Drittes hinzugezogen werden: die Dimension von Nichtwissen-Wollen und Ignoranz. Im Verbund mit der Hoffnung auf einen möglichst kostengünstigen „technological fix“ brachte letztere die Abfallexperten dazu, wider besseres Wissen heikle Lösungswege vorzuschlagen, die zu neuen Problemlagen führten.
Abstracts (English version)
Adelheid Voskuhl, Pennsylvania:
Engineering, Philosophy, and Belief in Progress in the Second Industrial Revolution
In the so-called „Second“ Industrial Revolution, German engineers emerged as a new professional group and tried to constitute themselves also as a social and cultural elite, which happened in fierce competition with traditional elites from the military, the nobility, and humanistically trained bourgeois mandarins. At the same time, engineers also became interested in in philosophy, using the novel subdiscipline of „philosophy of technology“ to grasp theoretically their technical and social agendas, and integrate and disseminate them. A group of engineers organized in an elite association of academically trained engineers tried in the association’s periodical to explicate and debate tensions that emerged between ideas of technological progress and social and economic decline. Doing so, such elite engineers also aimed to establish their credentials in the public sphere as political and cultural leaders. It is not uncommon to find in this period (and others) that beliefs in the good and the bad in technology are constantly intertwined in the constructions of social and technical theories, and that it is impossible for us to distinguish clearly how and where belief in progress and belief in decline of the industrial age were negotiated in consistent ways. This also held for engineers. It is particularly interesting to see how engineers were interested in the epistemology and political theory of canonical philosophers such as Kant, Fichte, Spinoza and Schopenhauer and tried, on this basis, to find a place for engineers in the existing (and rigid) social orders of the German Empire and the Weimar Republic. My paper focuses in particular on the role of engineers’ (and others’) imagination and invocation of pre-industrial landscapes and social orders in these negotiations of social upward mobility. I study the place of the “pre-industrial” in early philosophy of technology to differentiate belief in technology on the basis of the historicity of industrialization.
Rüdiger Graf, Potsdam:
Progressive Thought after the End of Progress. The Social Dimension of Technological Progress in the 1920s and 1970s
The 1920s and the 1970s are commonly described as periods in which the idea of progress was widely doubted and criticized. For many contemporaries, industrialized mass killing in the First World War had destroyed the assumption that science and technology might induce a continuous upward development of humanity. Similarly, in the last third of the 20th Century, sociologists, philosophers and historians argued that the time regime of modernity had come to an end, destroying also the notion of progress. In both cases, the alleged death of progress had surprisingly little effect on scientific and technological elites. Whereas their conceptions of progress are commonly deemed as merely technological, distinguishing only sectoral progress from the all-encompassing visions of progress of the 19th Century, I will scrutinize if and in how far scientific and technological promises of progress continued to be connected to broader emancipatory visions. The paper will argue that the affirmation and the critique of progress should not be brought into diachronic sequence, distinguishing periods of progress from periods of decline. Rather, they should be understood as concurring modes of ordering historical time that have existed since the opening of the future around 1800 and continue to exist today.
Martina Heßler, Hamburg:
„Faulty Humans“ and Belief in the Superiority of Technology in the 20th Century
Belief in technology has always been accompanied by the idea of progress, and a better and more comfortable life. Improving human lives through technology was a great promise. However, in industrial cultures, humans themselves suddenly were regarded as faulty in relation to technology. The language of humans as „disruptive factors“ symbolizes this idea well. It is often used to identify causes of technical accidents.
This paper deals with the concept of „faulty humans“. It shows that, historically, humans were regarded as deficient at the very moment that they were compared to machines, i. e. since industrialization. The weakness and faultiness of humans first became conspicuous in the factory of the 19th century. Since then, the concept has been found in almost all spheres of life, such as automobile or air traffic control, medicine, and political and algorithmic decision-making.
Nevertheless, history is of course much more complex. The more technology permeated society, the more ambivalent the role of humans became. In the industrial age, and all the way to this, day, humans have been compared to technology and then characterized as faulty and problematic, for technology supposedly functions in smooth and frictionless ways. And yet the experience of technological constraints has also led to positive re-evaluation of human potential and capacities. This paper aims to show that the idea of humans as faulty constructions has been a highly relevant concept with great impact on Western societies since the industrialization. It is a fundamental element of modernity, which simultaneously produced its own limits by pushing industrial cultures’ limits towards efficiency, productivity and frictionless processes.
The paper aims, first, to show the historical formation of the concept of faulty humans. Second, it carves out the ambivalence of the argumentation and its historical change. Third, it contextualizes the discourse on faulty humans historically to make its technical and economical premises clear.
Heike Weber, Wuppertal:
Waste and Recycling since the Late 19th Century: The Faith into Closing Material Loops Through Disposal Technologies
Waste disposal techniques constitute a basic element of the modern city since the late 19th century, and they reached out to (western) societies as a whole over the second half of the 20th century. When compared to technological progress inside the sphere of production, the professionalization of waste disposal lagged behind, and it only reacted to e.g. rising waste amounts and the growing toxicity of waste once these processes already had turned into urgent problems. Nevertheless, also waste experts were driven by a strong believe for technology, progress and rationality: For one, disposal and recycling methods such as landfilling, incineration and composting were promoted as “technological fix” to solve the problem of wastes that were developing in uncontrolled ways in both, production and consumption. For another, waste experts believed in the idea that material flows could be technically channelled into closed loops: Just as nature metabolizes organic rests as valuable nutrients, wastes could be fed back into production without too much loss.
It is in particular this vision – dominanting for more than a century – that must be explained by the dimensions of faith and hope rather than by objectivity and rationality, and it soon came into conflict with 20th century scientific knowledge: For example, any recycling results in so called downcycling effects, namely loss and inferior material qualities. Likewise, the idea that landfilled waste would decompose along the lines of a compost heap did not withstand a closer scientific analysis of dumpsites. The presentation argues that, for the case of waste disposal, we need to consider a third dimension next to faith and hope to find a cost-effective “technological fix”, namely that of ignorance. The latter lead actors to propose disposal methods of which they must have known that they would lead to new problems.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Michael Mann, Berlin) Alexander Benatar, Berlin: Der
Überblick
(Michael Mann, Berlin)
Alexander Benatar, Berlin:
Der indische Subkontinent als Spielfeld des kalten Krieges: Deutsch-deutsche Beziehungen in Indien und Pakistan
Stefan Tetzlaff, Paris:
Tata-Bhains’ as Forerunner of Indo-German Business Ties: Industrial Policy, Technical Cooperation and Business Interests in the Making of the Truck-Manufacturing Joint Venture TELCO/Mercedes-Benz, 1954–1969
Anandita Bajpai, Berlin:
Materialising Visibility, Preparing Recognition: The »Cultural« Politics of GDR-India Relations 1952–1972
Gautam Chakrabarti, Berlin:
Cold War/Partition: West-East Dichotomies in Germanophone Bengali Popular Fiction.
Razak Khan, Göttingen:
Rethinking National Culture and Minority Identity in Times of Partition and Wall
Abstracts (scroll down for English version)
Alexander Benatar, Berlin:
Herbert Fischer – eine deutsch-indische Verflechtungsbiografie
Ein Vortrag behandelt den Diplomaten und ersten DDR-Botschafter in Indien, Herbert Fischer. Im Rahmen meines Dissertationsprojekts „Der indische Subkontinent als Spielfeld des Kalten Krieges – deutsch-deutsche Beziehungen in Indien und Pakistan“, stellt Herbert Fischer einen Prototypen der Verflechtungsgeschichte des geteilten Deutschlands mit Indien dar. Anfang der 1930er Jahre aus Deutschland emigriert, gelangte Fischer auf abenteuerlichen Wegen über Spanien nach Indien und schloss sich dort Mohandas Karamchand Gandhis Unabhängigkeitsbewegung des zivilen Ungehorsams gegen die britische Kolonialherrschaft an. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte er in britischen Internierungslagern, um Ende der 1940er Jahre nach einem Jahrzehnt in Indien nach Deutschland, in die damalige sowjetische Besatzungszone zurückzukehren.
Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer, wurde Herbert Fischer für das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR tätig. Bald fand er Verwendung in Indien. Zunächst als stellvertretender Leiter und später als Leiter des Generalkonsulats der DDR in Neu Delhi, konnte er an seine früheren Indien-Kontakte anknüpfen und verschrieb sich bis zu ihrem Erfolg in erster Linie der Durchbrechung der westdeutschen Hallstein-Doktrin – der Anerkennung der DDR entgegen dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik. 1972 erreichte die DDR ihr Ziel und Herbert Fischer wurde zum ihrem ersten Botschafter in Indien; ein Posten, den er bis zu seiner Abberufung im Jahre 1976 innehatte. Die folgenden vier Jahrzehnte bis zu seinem Tod 2006 hielt er als Wissenschaftler und Indien-Experte von Deutschland aus stetigen Kontakt zum indischen Subkontinent. Sein Sohn Karl Fischer trat in seine diplomatischen Fußstapfen und wurde letzter Botschafter der DDR in Pakistan.
So begrenzt durch westdeutsche Einflussnahme der Aktionsradius der DDR auf dem indischen Subkontinent auch war, illustriert die Biografie Herbert Fischers doch wie kaum eine zweite die Möglichkeiten individueller Akteure, diese Einschränkungen durch Einsatz und persönliche Kontakte zu durchbrechen.
Stefan Tetzlaff, Paris:
‘Tata-Bhains’ als Vorreiter Deutsch-Indischer Gesellschaftsbeziehungen: Industriepolitik, Technik-Kooperation und Unternehmensinteressen in der Entwicklung des LKW-Joint Ventures von TELCO/Daimler-Benz, ca. 1954-1969.
Mitte der 1950er Jahre priesen zeitgenössische Medienpublikationen die Kooperation der Telco Engineering and Locomotive Company (TELCO) und Daimler-Benz zur gemeinschaftlichenLKW-Produktion alseine der ersten underfolgreichstenKooperationen der Privatwirtschaft zwischen Indien und Deutschland. Die direkte Teilnahme von Daimler-Benz an der Kooperation endete 1969 aufgrund der Politik des indischen Staates zugunsten einer größeren einheimischen Produktion von Automobilen und Komponenten. Deutsche Geschäftsinteressen sowie technische Expertise waren nichtsdestotrotz wichtig in der Etablierung des Unternehmens-Joint Ventures, auf dessen Grundlage TELCO zu einem der kommerziell erfolgreichsten Privatunternehmen der Zeit avancierte.
Der Konferenzbeitrag beleuchtet den größeren Zusammenhang sowie verschiedene Implikationen der Unternehmenskooperation. Der Beitrag ist unterteilt in zwei Hauptteile. Der erste Teil behandelt die politischen und wirtschaftlichen Interessen der teilnehmenden Unternehmen sowie der Regierungen Indiens und Westdeutschlands im Zeitablauf. Er analysiert, ob und wenn ja wie die besondere Konstellation in der Frühphase des Kalten Krieges politische und wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten definierte. Der zweite Teil des Beitrags behandelt die spezifische Entwicklung der Kooperation am Produktionsstandort Jamshedpur (Bihar) in den 1950er und 1960er Jahren. Der Hauptfokus liegt hierbei auf der Frage, ob und wenn ja in welchem Umfang Daimler-Benz technische Expertise für den Produktionsbeginn leistete und welche Auswirkungen dies auf den indischen Kooperationspartner sowie auf die Entwicklung der indischen Automobilindustrie generell hatte. Der Beitrag schließt mit einer Analyse des spezifischen politischen Kontexts des Endes der Kooperation im Jahre 1969 und seinen Auswirkungen auf beide Unternehmen in Deutschland und Indien.
Anandita Bajpai, Berlin:
Sichtbar werden. Um Anerkennung werben: Die „Kulturpolitik“ der DDR – Indien Beziehungen, 1952-1972.
Ich habe immer schon gesagt: „Kultur fängt mit Agrikultur an und hört mit Esskultur auf. Alles was dazwischen liegt ist Politik.“ (Interview mit einem vormaligen universitären DDR-Diplomaten.)
Erst 1972 wurde die DDR offiziell von der Republik Indien anerkannt. Seit 1956 hatte sie aber mit verschiedenen Handelsvertretungen ein offizielles Sprachrohr dort. Der Beitrag behandelt die „politischen“ wie „kulturellen“ Beziehungen zwischen Akteuren beider Staaten, welche in Archiven zumeist nur außerhalb der formalen politischen Sphäre unter dem Label „Nicht-staatliche/kulturelle Beziehungen“ auftauchen. Es werden Akteure des universitären Austauschs beider Seiten vorgestellt, sowie indische Akteure, die durch die Handelsvertretungen der DDR in Indien staatlich begleitet wurden, dabei aber gleichzeitig weit außerhalb der politischen Sphäre agierten.
„Vor der Anerkennung hat der Direktor unserer Handelsvertretung uns immer gesagt: ‚Indien ist sehr anders als die üblichen Diplomatischen und universitären Zusammenarbeitspunkte. Wir sind zwar Diplomaten, aber unser Auftrag ist nicht bloß zu reisen, in diplomatischen Kreisen zu verkehren und unnötig Geld hinaus zu werfen. Unsere Akademiker und Diplomaten haben einen besonderen Auftrag hier. Wir müssen Indien und seine Bevölkerung verstehen und ihre Herzen erreichen. Nur dann werden sie beginnen, sich für uns und unser Land zu interessieren. Wir müssen ihnen die DDR nahebringen, auch wenn viele dort noch nie zuvor von uns gehört haben, geschweige denn außerhalb gewesen sind.’“ Wie dieser Zeugenbericht eines vormaligen Humboldianers zeigt, waren neben auch Akademiker wichtige Akteure für die langfristigen kulturellen Austauschsbeziehungen beider Länder.
Wie genau versuchten diese Akteure, die DDR in Indien sichtbar zu machen? Welche Rolle spielte vor 1972 die mangelnde Anerkennung der DDR für ihre Aktivität? Und wie hat ihre Aktivität vor Ort die offizielle Anerkennung in der Tat beeinflusst? Veränderungen innerhalb von Universitäten nach der Wiedervereinigung haben die Karrieren dieser Akademiker oft abrupt beendet. Aber begründet dies die relative Zurückhaltung von Historikern vor ihren Erfahrungen in Indien? Der Beitrag intendiert, mittels einer oralgeschichtlichen Aufarbeitung beruflicher Laufbahnen ein Füllen dieser historiographischen Lücke zu initiieren. Dabei kommt indischen Akteuren allerdings keine bloß passive Rolle von Rezeptoren einer Kalter-Krieg-Politik zu. Vielmehr sind sie aktive Macher dieser Beziehungen, die häufig von der nicht formalisierten Situation der Beziehung profitieren konnten.
Gautam Chakrabarti, Berlin:
Kalter Krieg / Teilung: West-Ost-Dichotomien in der deutschfreundlichen Bengalischen Unterhaltungsliteratur
Das folgende Paper verlagert den Fokus auf Bengalische Unterhaltungsliteratur, aus den ausgewählten Beispielen (vor allem aus den Werken von Sharadindu Bandopadhyay und Satyajit Ray) des populären Detektiv- und Kriminalromangenres vorstellt, welche sich auf west- oder ostdeutsche Texte, Kontexte, Ereignisse und erlebte Tatsachen konzentrieren oder diese aufgreifen im Feld einer literarisch-kulturellen Auseinandersetzung mit den historischen Einzigartigkeiten des Kalten Krieges. Das Paper wird analysieren und evaluieren, in welcher Breite und Tiefe die politisch-ideologischen Dichotomien und Kontroversen des Kalten Krieges die deutschfreundlichen Konstellationen der bengalischen Populärkultur beeinflussten. Weiterhin wird es versucht zu erkunden in welchem Außmaß deutsche (west- und ost-) und indische Archiven von ‚Kulturpolitik‘ in der Umgestaltung der indischen Annäherungen und Ermächtigungen der populären und „hoch“ deutschen Kultur von der Nachkriegszeit helfen können.
Razak Khan, Göttingen:
Nationalkultur und Minderheitenidentität umdenken: Indische muslimische Intellektuelle in Deutschland
Das Paper untersucht Debatten indischer muslimischer Intellektueller zu nationaler Kultur und der Identität von Minderheiten während des Kalten Krieges. Über nationalgeschichtliche Grenzen hinaus werden diese Diskurse in die transnationale deutsch-indische Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts eingebettet. Verbindungen entstanden durch Reisen muslimischer Intellektueller nach Deutschland, aber auch durch den Transfer von Ideen und Konzepten über nationale Grenzen hinweg. Deutlich zeigen sich derartige Verflechtungen in den Schriften von Sayyid Abid Husain (1896–1978), einem klaren Anhänger des indischen Nationalismus, und ebenso im Werk von Kunwar Muhammad Ashraf (1903-1962), einem überzeugten Verfechter der kommunistischen Internationale. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges überdachten diese einflussreichen muslimischen Intellektuellen Fragen der Nationalkultur, Minderheitenidentität und Staatsbürgerschaft aus unterschiedlichen ideologischen Standpunkten heraus. Sie bezogen sich dabei auf die Situation im geteilten Deutschland, berücksichtigten aber zugleich die Relevanz für Indien nach der Teilung des Landes im Jahr 1947. Das Paper führt diese verflochtenen Stränge deutsch-indischer Geistesgeschichte vor dem Hintergrund politischer und ideologischer Teilungen des Kalten Krieges zusammen.
Abstracts (English version)
Alexander Benatar, Berlin:
Herbert Fischer – a Biography of Indo-German Entanglements
This presentation traces the biography of Herbert Fischer, a GDR diplomat and the country’s first Ambassador to India. Fischer is a key actor in my dissertation, which deals with East and West German relations on the Indian sub-continent during the Cold War years. He represents a prototype of divided Germany and India’s entangled histories: having emigrated from Germany in the early 1930s, Fischer reached India via an adventurous land-route across Spain to eventually join Mohandas Karamchand Gandhi’s independence movement of civil disobedience against the British colonial rule. He spent World War II in British internment camps and after a decade in India, returned to a dramatically changed Germany in the late 1940s: the then Soviet occupation zone.
After a brief stint working as a teacher, Herbert Fischer joined the GDR’s Ministry of Foreign Affairs (MfAA). Soon thereafter, he was deployed in India. First as deputy and later as head of the Consulate General of the GDR in New Delhi, Fischer was able to build on his previous contacts in India and devoted himself primarily to overcoming the West German Hallstein Doctrine – towards the formal recognition of the GDR in spite of Bonn’s claim to be Germany’s sole representative. In 1972, the GDR achieved its goal and Herbert Fischer was appointed the country’s first ambassador to India – a post he held until his dismissal in 1976. During the following four decades, until his death in 2006, Fischer stayed in constant contact with the Indian subcontinent as a scientist and India expert in the GDR and later in a reunified Germany. His son Karl Fischer entered his diplomatic footsteps and became the last Ambassador of the GDR in Pakistan.
Official GDR action in India was severely limited by the framework set by West Germany. However, like hardly another Herbert Fischer’s biography illustrates how individual actors were able to circumvent restrictions in interstate relations through personal contacts.
Stefan Tetzlaff, Paris:
‘Tata-Bhains’ as Forerunner of Indo-German Business Ties: Industrial Policy, Technical Cooperation and Business Interests in the Making of the Truck-Manufacturing Joint Venture TELCO/Daimler-Benz, c. 1954-1969″
Contemporary publications often praisedthe cooperation of the Tata Engineering and Locomotive Company (TELCO) and Daimler-Benz for the joint manufacture of trucks from the mid-1950s as one of the earliest and most successful private business joint ventures between India and Germany. Daimler-Benz’s directparticipation in the company stoppedin 1969 due to policies of the Indian state in favour of greater in-house manufacture of vehicles and components. German technical expertise and business interests were nevertheless crucial in the making of the joint ventureover the 15-year period and TELCO eventually became one of the commercially most successful private companies in this period.
This paper sheds some light on the larger contextanddiverse implications of this business cooperation. The paper is divided into two main parts. The first part deals with the main political and business interests of the participating companies and of the governments of India and West Germany at the time.It analyses whether and to what extent the scenario of the early cold war era defined political and business interests on both sides. The second part of the paper deals with the cooperation’s specific trajectory in the production environment of Jamshedpur (Bihar)in the 1950s and 1960s. The main focus here is on whether and to what extent Daimler-Benz provided technical expertise in starting production and what effect this had on the Indian cooperation partner and on the automotive industry in India in general. The paper concludes with an analysis of the specific political contexts of the end of the cooperation in 1969 and its effects on both companies in Germany and India.
Anandita Bajpai, Berlin:
Materialising Visibility, Preparing Recognition: The `Cultural` Politics of GDR-India Relations 1952-1972
I have always told people, ‘Culture’ begins with agriculture and ends at eating cultures. Everything between the two is politics.
(Interview with university intellectual and former GDR diplomat).
The GDR was officially recognised by the Indian state in 1972. The Trade Representations, established in 1956, however, became the ‘official mouthpiece’ of the GDR in India. This paper explores the interface of ‘political relations’ and ‘cultural relations’ between actors from the two countries, which are often relegated to the sphere outside formalised politics (Nicht Staatliche/Kulturelle Beziehungen) within the internal architecture of archives. It will present case studies of exchanges between university intellectuals from both the sides. The uniqueness of such exchanges is that, from one side, they were state directed (through the Trade Representation of the GDR in India) and on the other, pursued by actors who were often outside the ambit of the Indian state’s formalized politics.
“Before Recognition our director at the Trade Representation had always told us: Your work in India is very different from that of the regular diplomats and university employees. We are diplomats but our job is not to travel without restraints, to stay within diplomatic circles and spend money unnecessarily. Our academicians and our diplomats have a special aim in India. We have to understand India and its people- to touch their hearts. Only then will they care to know about whom we are and what the GDR is. We have to show them the GDR even though many have still not heard of it and most have never been there.” [Interview with a former university intellectual from the Humboldt Universität zu Berlin, who started his engagements with India as a researcher in South Asian Studies and later became an official at the Trade Representation of the GDR in Bombay, holding numerous positions at different stages of his career. (February 10, 2016)]
University intellectuals ought to be viewed as important actors in enabling a long tradition of exchanges between the two countries.
The paper poses the following questions: How did these individuals attempt to render the GDR a visible entity for the people of India? How were their efforts to materialise the GDR’s presence affected by the absence of official recognition and how did their exchanges, in turn, impact the very question of recognition? Transformations within the universities after reunification often brought these careers to a grinding halt. This, however, does not justify the relative absence of historical engagement with their experiences in India. This paper will fill this missing gap through oral history by tracing the trajectories of some of these actors. The Indian actors, however, are not projected here as passive receivers of a cold war politics being staged elsewhere, but as active shapers of these relations, often seeking to capitalize on the situation beyond the realm of formalized politics.
Gautam Chakrabarti, Berlin:
Cold War/Partition: West-East Dichotomies in Germanophile Bengali Popular Fiction.
The proposed paper will seek to locate post-Partition Bengali popular, especially detective fiction, through the selected exemplars– mainly from the works of Sharadindu Bandopadhyay and Satyajit Ray– that mention or focus on West and East German texts, contexts, events and felt realities, in a locus of literary-cultural engagement with the historical singularities of the Cold War. The attempt will be to analyse and evaluate the range and depth to which the politico-ideological dichotomies and contestations of the Cold War had influenced Germanophile Bengali configurations of popular culture. Further, one will explore the extent to which German– both West and East– and Indian archives of ‚Kulturpolitik‘ can help in the reconfiguration of Indian approximations and appropriations of popular and ‚high‘ German culture.
Razak Khan, Göttingen:
Rethinking National Culture and Minority Identity: Indian Muslim Intellectuals in Germany
The paper examines debates among Indian Muslim intellectuals on national culture and its relationship with minority identity during the cold war. Moving beyond the boundaries of nationalist history it seeks to locate these debates within the framework of Indo-German entangled histories in the twentieth century. Connections were forged by the journeys of Muslim intellectuals to Germany as well as transfer of ideas and concepts across national borders. The paper explores these entangled intellectual histories by examining the writings of Sayyid Abid Husain (1896–1978) with his commitment to Indian nationalism and Kunwar Muhammad Ashraf (1903-1962), a firm believer in international Communism during the cold war-context in divided Germany. These influential Muslim intellectuals with differing ideological commitments engaged with questions of national culture, minority identity and citizenship in the two Germanys and its relevance for India in the aftermath of the Partition in 1947. The paper brings together the connected histories during the cold war period marked by political and ideological divisions.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
AM I
Auditorium Maximum
Überblick
(Felix Brahm, London, Bettina Brockmeyer,
Überblick
(Felix Brahm, London, Bettina Brockmeyer, Bielefeld)
Felix Brahm, London:
Die Waffen der Missionare. Zur Bedeutung von Feuerwaffen und ihrem Transfer in der kulturellen Kontaktzone Ostafrikas (1850–1890er Jahre)
Rebekka Habermas, Göttingen:
Wie die Benin-Bronzeköpfe nach Berlin kamen. Kunst und Ethnographicahandel um 1900
Bettina Brockmeyer, Bielefeld:
Europäischer Aberglaube oder Kulturtransfer? Afrikanische menschliche Überreste aus der deutschen Kolonialzeit im Wandel der Bedeutungen
Kristin Weber, Leipzig:
Vom Glauben an die wissenschaftliche Objektivität. Museale Kultur und Praxis im kolonialen/postkolonialen Ostafrika
Holger Stoecker, Berlin:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version)
Felix Brahm, London:
Die Waffen der Missionare. Zur Bedeutung von Feuerwaffen und ihrem Transfer in der kulturellen Kontaktzone Ostafrikas (1850er-1890er Jahre)
Ab den 1850er Jahren stieg die Einfuhr von Feuerwaffen in Ostafrika stetig an und erreichte in den 1870er und 1880er Jahren mit bis zu 100.000 jährlich importierten Gewehren eine immense Größenordnung. Bei diesen Gewehren handelte es sich überwiegend um „Second-Hand“-Waffen aus europäischen, US-amerikanischen und südasiatischen Militärarsenalen. Nach einem Überblick über Handelsrouten und Gebrauchskontexte beleuchtet der Vortrag die verschiedenen Bedeutungen, die Feuerwaffen in Situationen interkulturellen Kontakts in Ostafrika gewannen. Am Beispiel der Beziehung zwischen dem Kabaka von Buganda und protestantischen Missionaren wird gezeigt, dass Feuerwaffen geschätzte, aber zunehmend umstrittene Transferobjekte zum Aufbau von Vertrauen waren, gerade weil sie den Interaktionspartner stärkten. Feuerwaffen waren zugleich Instrumente, mit denen der eigene Wille gewaltsam durchgesetzt werden konnte, und ihre Weitergabe hatte immer auch machtpolitische Bedeutung. In der Frühphase kolonialer Herrschaft in Ostafrika, auf die ausblickend eingegangen wird, wurden Feuerwaffen zu umkämpften Objekten zwischen afrikanischen und europäischen Akteuren.
Rebekka Habermas, Göttingen:
Wie die Benin Bronzeköpfe nach Berlin kamen – Kunst und Ethnographica um 1900
Ende des 19. Jahrhunderts gelangte ein von britischen Kolonialoffizieren erbeuteter westafrikanischer Bronzekopf über Matrosen und Kaufleute nach Europa und landete schließlich in den 1930er Jahren in der Göttinger Ethnologischen Sammlung. Dieser Kopf gehört zweifellos zu den herausragenden Artefakten Afrikas, und doch ist er mehr als ein Objekt höchster ästhetischer Perfektion. Dieser Kopf ist Träger verschiedener Formen impliziten Wissens: Wissen über frühe Benin Kulturen und ihre Techniken der Bronzeverarbeitung, Wissen darüber, wie globale Machtverhältnisse unsere Form des Erinnerns und Bewahrens etwa in Museum bis heute mitbestimmen. Vor allem ist er auch ein Objekt, an dem die Grenzen zweier um 1900 erst im Entstehen begriffener Disziplinen – Kunstgeschichte und Ethnologie – verhandelt wurden. Beide Wissenschaften nämlich reklamierten den Kopf für sich, als Objekt, an dem man wahlweise die Kunst oder die Lebenswelten Afrikas studieren könne. Hier nahm eine Debatte ihren Anfang, die bis heute noch nicht entschieden ist, und die viel über europäische Vorstellungen von Kunst aussagt. Gleichzeitig wirft dieser Streit um die Benin Köpfe gerade in den letzten Jahren immer heftiger debattierte Fragen darüber auf, wie in und außerhalb Europas mit diesen und ähnlichen Artefakten umgegangen werden soll.
Bettina Brockmeyer, Bielefeld:
Europäischer Aberglaube oder Kulturtransfer? Afrikanische menschliche Überreste aus der Kolonialzeit im Wandel der Bedeutungen
Der Schädel des Chiefs Mkwawa aus Uhehe in Tansania war für die ehemaligen Kriegsparteien nach dem ersten Weltkrieg von so großer Bedeutung, dass er Teil des Versailler Friedensvertrages wurde. Seine Geschichte, die 1898 mit der Selbsttötung des Chiefs und der anschließenden Dekapitierung durch die Deutschen beginnt, ist nach wie vor nicht vollständig geklärt: Die Gebeine eines Chiefs wurden bei den Wahehe besonders begraben und verehrt. Der Schädel des Mkwawa wurde jedoch von deutschen Soldaten erbeutet und vermutlich nach Berlin geschickt, wo er zu einem Wissenschaftsobjekt wurde. In Tanganyika Territory wurden dem Schädel von den Briten magische Kräfte zugeschrieben, und schließlich wurde er nach der Unabhängigkeit in Tansania ein Objekt antikolonialer Erinnerung. Ob es sich dabei stets um denselben Schädel handelt, ist ungewiss und war Teil politischer sowie wissenschaftlicher Debatten. Ähnliches gilt für einen Zahn desselben Chiefs, der über ein Jahrhundert in Deutschland in eben jener Familie verblieb, deren Vorfahren für die Selbsttötung Mkwawas mitverantwortlich waren. Im Glauben einiger Familienmitglieder hatte dieser Zahn die männliche Linie mit einem Fluch belegt.
Im Transfer, das verdeutlicht dieses Beispiel, konnten Objekte mehrfach ihre Bedeutungen wechseln. Der Vortrag geht dem Bedeutungswandel dieser menschlichen Überreste Mkwawas von wissenschaftlichen Objekten bzw. Trophäen zu Trägern magischer Kräfte nach. Die These ist, dass Objekte nicht nur zum Transfer von Wissen oder Glauben beitrugen, sondern selbst eine Transfergeschichte durchliefen. Ihre Geschichte zeigt, wie eng verzahnt Glauben und Wissen waren. Diese Verzahnung nahm auf europäischer Seite jedoch den Weg über ‚afrikanische’ Objekte und adaptierte vermeintlich als afrikanisch verstandene religiöse Glaubensweisen.
Kristin Weber, Leipzig:
Vom Glauben an die wissenschaftliche Objektivität – museale Kultur und Praxis im kolonialen (und postkolonialen) Ostafrika
Mit dem Eintritt des Deutschen Kaiserreichs in die Reihe der Kolonialmächte im Jahre 1884 strömten immer mehr Objekte aus den sogenannten „Deutschen Schutzgebieten“ in das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin. So wuchsen die Bestände der Abteilung Afrika, die im Jahre 1880 noch 3361 Katalognummern ausgemacht hatte, bis 1914 auf 55.079 Nummern an. Damit bildete das Berliner Museum das wichtigste Zentrum der Akkumulation ethnographischer Objekte im Deutschen Kaiserreich und sogar weltweit. Das damalige „Deutsch-Ostafrika“ (das heutige festländische Tansania, Ruanda und Burundi) war durch eine besonders umfangreiche Sammlung im Museum vertreten.
Ausgehend von der Sammelpolitik der Berliner Museumsethnologen wird in dem Vortrag anhand einzelner Objekte bzw. Objektkategorien das „Sammeln“ von „Ethnographica“ zur Zeit der deutschen kolonialen Expansion in Ostafrika und die Rolle dieser Objekte in der Ausgestaltung kolonialer Machtbeziehungen dargelegt. Anhand der Sammelpraxis kolonialer Beamter, Militärs, Wissenschaftler und Missionare in den Kolonien – diese reichte von Raub, Diebstahl, Erpressung, Ankauf bis hin zum Austausch von Geschenken – wird ein besonderes Augenmerk auf die Brüchigkeit der deutschen Kolonialherrschaft gerichtet. Zugleich geht es darum, den Glauben der Wissenschaftler in der Metropole an eine objektive Wissensproduktion im Kontext einer objekt-zentrierten und naturwissenschaftlich ausgerichteten Ethnologie zu dekonstruieren.
Mit einem Blick auf die Übernahme „Deutsch-Ostafrikas“ durch die Briten als Mandatsgebiet des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg, die aufkommenden nationalen Bewegungen in Tanganyika sowie die Unabhängigkeit des kolonialen Territoriums in den frühen 1960ern wird auf Kontinuitäten und Brüche in der musealen Kultur und Praxis Ostafrikas verwiesen.
Abstracts (english version)
Felix Brahm, London:
The Missionaries’ Weapons: On the Meaning of Firearms and their Transfer in the Cultural Contact Zone of East Africa (1850s to 1890s)
From the 1850s onwards, firearms entered East Africa in increasing numbers, reaching immense volumes of up to 100.000 imported guns annually in the 1870s and 1880s. These guns were mainly ‘second-hand’ weapons, discarded from European, US-American and South Asian military arsenals. After giving an overview on trading routes and different contexts in which these firearms were used, the paper looks at the ambiguous meanings firearms gained in situations of intercultural contact in East Africa. Studying the case of the relation between the Kabaka of Buganda and protestant missionaries, the paper argues that firearms were appreciated, but increasingly contested objects to build trust, not least because they empowered the opposite partner. Simultaneously, firearms were instruments to violently assert a unilateral will, and their transfer always gained political importance. In the phase of early colonial rule in East Africa, the paper finally discusses, firearms became highly contested objects between African and European actors.
Rebekka Habermas, Göttingen:
How the Benin Bronzes Came to Berlin – Art and Ethnographica around 1900
At the end of 19th century British colonial officers looted the so-called Benin Bronzes and brought them from West Africa to London, where they immediately raised public interest. They were presented at auctions and even were exposed in colonial festivals and private as well as public collections. In the 1930s one of this Bronzes, a bronze memorial head, found its way to Goettingen. This head is one of the most beautiful African objects to be seen until today in European Ethnological Museums. At the same time it is much more than an aesthetic object, it can as well be understood as an important source of knowledge: Carrying knowledge about early Benin culture and its techniques of Bronze craftsmanship as well as knowledge about the impact global power formations until today have in structuring forms of remembering and representing in for instance museums. But first of all it is an object at the frontier of two academic disciplines taking shape around 1900: history of art and anthropology. The epistemology has been made and remade by negotiating this and other objects brought to Europe by more or less brutal forms of looting. Both academic disciplines claimed to have expertise and therewith authority in studying the Bronzes. While art historians regarded the memorial heads as basis for understanding so called primitive art, anthropologists were pretending to need these and similar objects in order to study African everyday life. This debate is still going on and at the same time is revealing in regard to European concepts of art and of everyday life. It also is a debate very recently echoing in controversial discussions of museum studies as well as in the everyday life of museums.
Bettina Brockmeyer, Bielefeld:
European Superstition or Cultural Transfer? Changing Meanings of African Human Remains from Colonial Times
The skull of Chief Mkwawa’s from Uhehe in Tanzania was of such importance for the former warring parties after World War I, that it was made a part of the Versailles Peace Treaty. We still do not know the complete story of the skull, which begins in 1898 with the suicide of the chief and his decapitation. The Wahehe people used to bury and to worship their chiefs’ remains in a special way. Instead, Mkwawa’s skull was taken by the Germans and sent to Berlin in order to become an object of science. In Tanganyika Territory, the British perceived the skull to have magical powers and finally, after independence, the skull became an object of anticolonial memory. This is, in short, the story of the skull, but whether it had been one and the same skull always is uncertain and forms part of political and historical debates. This also applies to a tooth of the same Chief that was kept by the descendants of the German officer, who was involved in the Chief’s suicide, and was considered to have cursed the family.
While being transferred the examples show, objects could change their meanings several times. The paper follows these changes in the case of Mkwawa’s human remains from trophies to scientific objects or objects of magical belief. It thereby argues that objects not only started a transfer process of knowledge or faith but could also change their meanings within the process. Their history reveals the intertwining of faith and knowledge – in Western ways of knowledge this conjunction went via ‘African’ objects.
Kristin Weber, Leipzig:
On the Believe in Scientific Objectivity – Museum Culture and Practice in Colonial (and Postcolonial) East Africa
By the time Germany entered the circle of colonial powers in 1884 more and more objects from the new colonies (so-called Deutsche Schutzgebiete) arrived at the Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin. The number of objects in the African collection grew steadily. While in 1880, 3361 objects had been listed, one would find 55.079 in 1914. The Berlin Museum became the most important centre of accumulation of so-called ethnographic objects in the German Kaiserreich and even worldwide The former Deutsch-Ostafrika which included today’s mainland Tanzania, Ruanda and Burundi was well represented by an extensive collection of objects in the Museum.
Starting from the collecting policy of the Berlin Museum this talk explores the methods of “collecting” Ethnographica during the German colonial expansion in Eastern Africa, using particular objects or groups of objects as an example. It also highlights the important role objects played in shaping colonial relations of power. The ways through which colonial officials came into possession of objects desired by the Museum ethnologists ranged from plundering, thievery, blackmailing to purchasing and the exchange of gifts. They also shine a light on the fragility of German colonial rule. This talk will also aim to deconstruct the Museum scientists’ believe in an objective production of knowledge in the context of an object-centered and science-oriented Ethnology.
With reference to the takeover of German East Africa by the British, following the mandate of the League of Nations after World War I, and later the emergent national movements in Tanganyika and the Independence of the territory in the early 1960s this presentation will also briefly look at continuities and disruptions in museum culture and practice in Eastern Africa.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Ulrich Herbert, Freiburg, Andreas Wirsching,
Überblick
(Ulrich Herbert, Freiburg, Andreas Wirsching, München)
Podiumsdiskussion
– Ulrich Herbert, Freiburg
– Konrad Jarausch, Chapel Hill
– Jürgen Kaube, Frankfurt/M
– Birthe Kundrus, Hamburg
– Andreas Wirsching, München
Abstract
Ausgangspunkt der hiermit vorgeschlagenen Podiumsdiskussion ist die gegenwärtig zu beobachtende neue „Hitler-Welle“ in Wissenschaft und Öffentlichkeit. In jüngster Zeit sind mehrere neue wissenschaftliche Hitler-Biographien erschienen, weitere sind angekündigt. Zugleich erzeugen die Diskussion um die im Januar 2016 erscheinende kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“, aber auch entsprechende massenkulturelle Tendenzen („Er ist wieder da“, Rimini- Projekt) einige mediale Aufmerksamkeit. Aus mehreren Gründen ist es unabdingbar, diesen Trend kritisch zu diskutieren. Erstens besteht die Gefahr, dass in der interessierten Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Quellen des Nationalsozialismus und seiner Verbrech en lägen primär oder sogar ausschließlich bei Hitler und seiner engsten Entourage. Dies wäre ein fataler Rückschritt hinter den erreichten Forschungsstand zur Politik- und Täter-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte des NS-Regimes. Einer gegenwärtig zu beobachtenden Verkürzung der öffentlichen Wahrnehmung auf ein Hitler-zentriertes Bild des Nationalsozialsozialismus sollte also entgegengewirkt werden. Zugleich ist eine Dekontextualisierung der Schriften und Reden Hitlers festzustellen, die der Suggestion der Originalität aufsitzt und Hitler aus dem Zusammenhang der dominierenden Denk- und Sprechweisen der deutschen Rechten der 19 20er und 30er Jahre herauslöst. Hitler als politische Figur wie als Projektionsfläche zu historisieren ist daher eine ebenso aktuelle Aufgabe wie die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung Hitlers für die Dynamik, Etablierung und Radikalisierung des NS-Regimes. Insbesondere gilt dies vor dem Hintergrund jüngerer Debatten um das Problem, welche spezifische Struktur von „Staatlichkeit“ die NS-Diktatur aufwies und welche Selbstermächtigungs- und Selbstmobilisierungsprozesse („Volksgemeinschaft“) ihre Dynamik erzeugten. Schließlich muss angesichts der jüngeren Forschungen erneut nach der Bedeutung Hitlers bei der Ingangsetzung des Judenmords gefragt werden. Einerseits hat die Forschung die Initiativen und autonomen Vorgehensweisen regionaler und lokaler Akteure zum Teil sehr detailliert herausgearbeitet. Andererseits aber zeigt die systematische Arbeit an den Quellen auch in aller Klarheit den entscheidenden Einfluss der Zentrale: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erscheinen als ein im Kern gleichgerichtetes europäisches Geschehen, das den Rhythmen des Zweiten Weltkrieges und dem deutschen Vormarsch folgte. Welches Gewicht hier der Bezug auf den „Führer“ besaß und in welchem Maß exakte oder symbolische Initiativen von Hitler ausgingen, bedarf einer erneuten, sorgfältigen Austarierung. Ausgehend von diesen Leitfragen bietet die wissenschaftliche Problematisierung der gegenwärtigen „Hitler-Welle“ einen aktuellen Beitrag zu dem historiographischen Grundproblem von Persönlichkeit und Geschichte. Als solche liegt die vorgeschlagene Podiumsdiskussion am Schnittpunkt von Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. Es geht dabei sowohl um die Bewertung neuer Forschungsergebnisse als auch um die Dis kussion der geschichtskulturell dominierenden Bilder und ihrer Auswirkungen auf unser Gegenwartsbewusstsein. Um eine lebhafte Diskussion zu erzielen, wird das Format einer freien Diskussion gewählt. Von längeren Einführungsstatements der Podiumsteilnehmer wird abgesehen, allerdings soll die moderierte Diskussion entlang von Leitfragen strukturiert werden, die den oben genannten Ausführungen folgen.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 11:00
Ort
Hörsaal M
Hauptgebäude
Überblick
(Margret Frenz, Oxford/Nantes, Moritz von
Überblick
(Margret Frenz, Oxford/Nantes, Moritz von Brescius, Konstanz)
Margret Frenz, Oxford/Nantes, Moritz von Brescius, Konstanz:
Introduction
Moritz von Brescius, Konstanz:
Empires of Opportunity: German Scholars Between Asia and Europe in the Mid-Nineteenth Century
Christof Dejung, Berlin:
The Firm as Contact Zone. European and Indian Staff in the Merchant House Volkart Bros., 1850s–1950s
Aparajith Ramnath, Kozhikode:
Engineers Beyond Empire: The Circulation of Technical Experts between India and Germany, c. 1900–1960
Margret Frenz, Oxford/Nantes:
Treating the Empire: Indian Doctors in the (Post-) Colonial British and French Sphere, c. 1900–1960
Elizabeth Buettner, Amsterdam:
Looking Back After Migration: Indian- Descended Communities Revisit the Colonial Past in Postcolonial Britain and the Netherlands
John Darwin, Oxford:
Comment
Abstracts
By investigating different forms of migration and social mobility between India and Europe,
this panel takes up the Historikertag’s overarching topic of ‘matters of belief’. It does so by
comparing and connecting historical and contemporary migration processes between Europe
and India from the early nineteenth until the late twentieth century, thus bridging the colonial and post-colonial divide. India and Germany have a shared, and at times contested past, evidenced for instance by the intensive academic engagement of German scholars with Indian languages in the nineteenth century, and currently, by a multitude of economic joint ventures between Indian and German companies. Migration movements from India and South Asia to other countries, particularly to Europe
and North America, have been researched extensively in the past couple of decades. However, many studies create the impression that this migration began only after the end of the Second World War (1945) and Indian independence (1947), whereas other studies have an ethnographic, contemporary focus. But Indians have moved across the globe for several centuries – as have Europeans to India. This panel, then, emphasizes the historical perspective on migration movements, and their global dimension, which will also allow for insights into implications of current migration movements.
By bringing together a number of different migratory and sojourning figures, from merchants to doctors and explorers to engineers, this panel sheds light on the experiences of actors in the past, who through their lives connected Europe and India in a multitude of ways that still shape the relationship between both regions today.
Moritz von Brescius, Konstanz:
Empires of Opportunity: German Scholars Between Asia and Europe in the Mid-Nineteenth Century
The paper investigates the involvement of German scientific experts in the British Empire in Asia during the mid-nineteenth century. It focuses in particular on a small band of scholars – the three Munich-born Schlagintweit brothers – who, between 1854 and 1857, found employment in the British East India Company (EIC), a former trading body that came to rule large parts of the Indian subcontinent. This case study is used to demonstrate how the German lands provided the scientific expertise for the exploration, administration, and exploitation of territories in South and Central Asia. Inspired by the paradigm of global history, the work presented here seeks to make a contribution to the recent endeavour to understand the transnational nature of European imperial systems in the modern period. Lying at the intersection of British imperial history, the history of science, and German history in the middle decades of the nineteenth century, the central question is how ‘empire’ could become a career for scholars from countries without colonies.
I am particularly concerned with the knowledge transfer these mobile scientific careers overseas entailed, but I also pay close attention to a number of conflicts and rivalries that complicated the collaboration between British and German experts and scientific institutions. The paper finally examines how the personal experience of empire exercised a tangible effect on German scholars. They would often develop imperial fantasies and project a colonial vision of the lands they explored as sites for European interventions and ‘improvement’ schemes. For the processes of knowledge transmission from colonial spaces into the German lands, travelling ‘imperial outsiders’ proved to be crucial mediators. A close study of this group reveals to what extent Europe’s overseas imperialism was a joint project formed by actors from various national origins, thereby potentially becoming a shared European experience.
Christof Dejung, Berlin:
The Firm as Contact Zone. European and Indian Staff in the Merchant House Volkart Bros., 1850s-1950s
This paper deals with Indo-European Exchanges by taking the example of the Swiss merchant house Volkart Bros., one of the most important trading firm in British India. The paper examines the firm as a ‘contact zone’ (Marie Louise Pratt) thus highlighting the interactive dimension and ambiguity of imperial encounters. This involved a highly contradictory attitude towards colonial rule on part of the Swiss merchants. On the one hand, Volkart’s staff adjusted themselves to British colonial culture which emphasised a clear-cut distinction to Indian society. On the other hand, the firm relied on smooth business relations to the Indian mercantile elite and was thus highly critical towards colonial racism and imperial hubris they considered derogatory to their business interests. The corporate structure of Volkart involved a hierarchy that was clearly organised along ethnic lines. Whereas managerial executive staff positions were held by Europeans, the numerous indigenous staff had to content themselves with the subaltern positions of clerks and assistant accountants. This hierarchy, however, was ever more challenged by the rise of the Indian independence movement which compelled the firm’s partners to promote Indian employees into more senior positions; a policy that was often met with suspicion and resistance on part of the European managers who worked for Volkart on the subcontinent. By pointing out such processes, the paper maintains that a trading firm such as Volkart was much more than an economic actor merely concerned by bringing supply and demand into an equilibrium; rather such enterprises have to be understood as social entities which had to embedded themselves into the social environment of South Asia and had to deal with the often contradictory relation between commerce and colonial rule.
Aparajith Ramnath,Kozhikode:
Engineers Beyond Empire: The Circulation of Technical Experts between India and Germany, c. 1900-1960
This paper traces the history of technical experts from India and Germany who lived in each other’s countries for training, research, or professional reasons in the period 1900-60. Using archival material, published memoirs, and technical magazines, it reconstructs the careers of individuals such as V.M. Ghatage, head of the design department at Hindustan Aircraft Limited, who did his doctoral work under Ludwig Prandtl at Göttingen in the 1930s; Oskar Tietjens, another student of Prandtl, who became head of the aeronautical engineering department at the Indian Institute of Science in 1949; Hiralal Roy, who earned a German doctorate before helping establish a professional society for chemical engineers in India in 1947; and several German operators who worked in the Tata steel works in the 1910s.
Kris Manjapra (2014) has argued that Indian and German nationalists tried to establish an alternative intellectual identity to rival British imperial ones. This paper asks what impact this Indo-German relationship had on the professional lives of engineers. Specifically, how did the colonial state view German experts and academics working in India, and German-trained Indians (especially during the World Wars)? To what extent did anti-colonial politics influence Indians to study in Germany, and how did the rise of National Socialism impact their experience in the interwar period? Finally, how were these patterns changed by the coming of Indian Independence? The historiography of science and technology in India has largely been concerned with British and Indian practitioners in the context of Empire, although recent work has begun to highlight the importance of interactions with the USA. This study seeks to add a further dimension to the theme by studying the circulation of engineers, academics and skilled industrial operatives in another extra-imperial context.
Margret Frenz, Oxford / Nantes:
Treating the Empire: Indian Doctors in the (Post-)Colonial British and French Sphere, c. 1900-1960
Through a comparative analysis of doctors in the British and French colonial and post-colonial contexts, this paper investigates how citizenship and medical practise became increasingly entangled between 1900 and 1960. It will throw light on how medical personnel from the colonies responded to, resisted, or manipulated attempts at regulation. Case studies include doctors from the colonies who moved to the UK or France to undergo additional training, and then either stayed there or went on the move again, sometimes returning to India and sometimes moving to other parts of the empire, most notably, East Africa. I argue that colonial medical professionals constitute a circulating ‘subaltern elite’ in both the British and French contexts. Medical professionals were an elite in some ways, for instance, in that they were comparatively well educated and could work in jobs that are perceived as highly valuable for society. But in other ways, they were also subaltern, for example, in that migrant medical personnel frequently faced difficulties in finding adequate employment, be it due to a lack of official recognition of qualifications or due to other, more informal and insidious means of discrimination. In many cases, they continued to seek better employment opportunities elsewhere. By bridging the colonial / post-colonial divide, the paper intends to shed light on continuities and discontinuities of imperial policies and national practices after decolonization. Using a global history perspective, it will provide new insights into the roles of subaltern networks and of colonial professionals in the two empires, and later on in the European and newly established South Asian or African nation-states.
Elizabeth Buettner, Amsterdam:
Looking Back After Migration: Indian-Descended Communities Revisit the Colonial Past in Postcolonial Britain and the Netherlands
After 1945, both Britain and the Netherlands have counted among the Western European nations that gradually lost empires and gained substantial numbers of ethnic minority migrants from colonies and former colonies. This paper asks how members of distinct groups of South Asian descent have revisited aspects of the colonial past in Europe after empire in comparative perspective. In the Netherlands, peoples of South Asian origin arrived from Suriname, where their ancestors had gone starting in the late nineteenth century as indentured plantation labourers after the abolition of slavery, when a Dutch colony looked to British India to provide its workers. Most South Asians in Britain arrived directly from India, Pakistan, and later Bangladesh (although Britain too became home to ‘twice migrants’ when South Asians left East Africa in the late 1960s and early 1970s). At specific historic moments, these diasporic communities have engaged in public reflections on the history of colonialism whose contours were shaped by the British and Dutch societies of which they became part, and this paper positions their engagements with the past with reference to their post-migration lives in multicultural European nations.
Zeit
(Donnerstag) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-D
Philosophenturm
Überblick
(Heike Bungert, Münster) Jana Weiß, Wisconsin-Madison: »Celebrating
Überblick
(Heike Bungert, Münster)
Jana Weiß, Wisconsin-Madison:
»Celebrating One Nation Under God«: Feiertage als zivilreligiöse Inklusionsinstrumente
Heike Bungert, Münster:
Zwischen Integration und Legitimation: Zivilreligion in Inaugurationen US-amerikanischer Präsidenten
Ulrike Stedtnitz, Münster:
Die »City on a Hill« als »City of Refuge«: Zivilreligion in der evangelikalen Debatte um Flüchtlings- und Einwanderungspolitik in den USA
Rolf Schieder, Berlin:
Zivilreligiöse Rituale in Deutschland: Leisten sie einen Beitrag zur Integration?
Abstracts (scroll down for English version):
Gerade im Kontext der gegenwärtigen Flüchtlingskrise scheint die Frage nach dem Zusammenhalt des Staates und damit auch nach dem „Glauben“ an die Mission der eigenen Nation hoch aktuell. In der amerikanischen Sozialwissenschaft werden die enge Verbindung von Religion und Politik und der Glaube an die US-amerikanischen Werte seit Robert Bellahs einflussreichem Aufsatz von 1967 unter dem Begriff der Zivilreligion gefasst, als „a genuine apprehension of universal and transcendent religious reality (…) revealed through the experience of the American people“. Zivilreligion verbindet Bürger und Gesellschaft mit einem transzendenten Referenzpunkt, verleiht dem politischen Leben der Gemeinschaft sakrale Bedeutung und stiftet Einheit. Während zivilreligiöse Vorstellungen durch ihre religiöse Interpretation der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Einzelnen in die heterogene, konstruierte US-amerikanische Gemeinschaft integrieren können, sind sie zugleich Ausdruck zeitbedingter Kontexte und können die jeweilige politische Agenda legitimieren. Darüber hinaus kann Zivilreligion eine kritisch-prophetische Funktion erfüllen, indem sie moralische Normen vorgibt und eine spezifische Verantwortung von US-Amerikanern als Gottes auserwähltes Volk voraussetzt. Die Sektion fragt danach, welche Möglichkeiten und Grenzen das Konzept von Zivilreligion birgt. Ziel ist es, die internationale, interdisziplinäre Diskussion über Zivilreligion anhand von Vorträgen von Historikerinnen und Theologen einem deutschen Publikum vorzustellen. Einerseits wird das jeweilige Konzept von Zivilreligion in allen Vorträgen dargelegt bzw. eingeordnet, sowohl für die Geschichtswissenschaften, für welche insbesondere die Fluidität des Konzepts wichtig ist, als auch für die Religion(spolitik) in zunehmend multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften. Andererseits werden Akteure, Praktiken und Funktionsweisen von Zivilreligion in Fallbeispielen aus den USA und Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert untersucht.
Jana Weiß, Wisconsin-Madison:
»Celebrating One Nation Under God«: Feiertage als zivilreligiöse Inklusionsinstrumente
Die US-amerikanische Zivilreligion manifestiert sich insbesondere an nationalen Feiertagen wie dem Independence Day, dem ältesten Feiertag in Gedenken an die Gründung der Nation am 4. Juli 1776, und dem Memorial Day, dem Feiertag, der dem Gedenken an die Kriegsgefallenen seit dem Bürgerkrieg (1861-1865) dient. Als fester Bestandteil der zivilreligiösen Liturgie werden die Feiertage jährlich zu öffentlichen Schauplätzen, an denen zivilreligiöse Vorstellungen in Ritualen aktiviert, die nationale Identität und Mission bekräftigt, die Einheit der Nation heraufbeschworen und tagespolitische Entwicklungen debattiert, aber auch legitimiert werden.
Insbesondere in Kriegszeiten nutzen US-amerikanische Politiker eine zivilreligiöse Deutungsbrille, welche die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Nation in einen transzendenten Sinnzusammenhang setzt und die Nation „under God“ vereinen soll. Dabei behandelt der Vortrag die Nutzung der Feiertage als Inklusionsinstrumente im Zuge des Kalten Kriegs, insbesondere während des Vietnamkriegs, der einen historischen Einschnitt markiert.
Exemplarisch für die Spaltung der Nation wird die Friedensbewegung untersucht, die einerseits den Gebrauch zivilreligiöser Symbole durch das politische Establishment kritisierte, andererseits die gleichen Symbole für sich selbst reklamierte und diese umdeutete, um den Kriegseinsatz zu delegitimieren.
Der kritische Diskurs an den Feiertagen über die Bedeutung und das Inklusionspotenzial der Zivilreligion zeigt, dass diese an die jeweiligen historischen Umstände und das Selbstverständnis der Nation sowie verschiedener Gruppierungen innerhalb dieser angepasst werden kann. Dementsprechend kann Zivilreligion die Gesellschaft integrieren, muss dies aber nicht zwangsläufig mit mehrheitlich-konsensfähigen Inhalten tun.
Heike Bungert, Münster:
Zwischen Integration und Legitimation: Zivilreligion in Inaugurationen US-amerikanischer Präsidenten
Amtseinführungen US-amerikanischer Präsidenten sind eines der wichtigsten Rituale der US-amerikanischen Zivilreligion. Sie haben drei Funktionen: Die Macht in einer Demokratie friedlich zu übertragen, dem neu gewählten Präsident und seinem politischen Programm Legitimität zu verleihen und nach einem harten Wahlkampf die Nation wieder zu einen. Für all diese drei Funktionen ist Zivilreligion notwendig.
Nach einer kurzen Einleitung zu Zivilreligion und den Funktionen wird der Vortrag zivilreligiöse Elemente in den einzelnen Teilen von Inaugurationen untersuchen, von den Vorfeiern über die Gebete und Gottesdienste bis hin zu den Inaugurationsreden, gemeinsamen Mahlzeiten, Paraden und Bällen. Hier werden einerseits Tradition, andererseits Unterschiede und Regenerationen im Laufe der Zeit und durch verschiedene Präsidenten analysiert. Auch die Nutzung zivilreligiöser Aspekte durch Demonstranten bei einzelnen Inaugurationen wird eine Rolle spielen.
Ulrike Stedtnitz, Münster:
Die »City on a Hill« als »City of Refuge«: Zivilreligion in der evangelikalen Debatte um Flüchtlings- und Einwanderungspolitik in den USA
In einem offenen Brief an Präsident Obama sowie an die Abgeordneten des amerikanischen Kongresses vom 1. Oktober 2015 forderte eine Gruppe bekannter evangelikaler Christen die Erhöhung der Aufnahmequoten von Flüchtlingen in die USA. Samuel Rodriguez, Präsident der größten Organisation latino-evangelikaler Christen (National Hispanic Christian Leadership Conference), appellierte an die „‚city on a hill’ to shine the light of compassion once again“. José Garcia von Bread for the World forderte: „As a nation ‚under God’ we have the faith and moral imperative to become the hands and heart of God by reaching out and welcoming the stranger.“ US-amerikanische Christen greifen in der aktuellen Flüchtlingsdebatte – wie schon in vergangenen Debatten um die Aufnahme von Flüchtlingen, zum Beispiel aus Vietnam – auf das korrektive Element der prophetischen Funktion von Zivilreligion zurück. Sie appellieren an Werte, die sich aus einer besonderen Verantwortung und Mission des Landes ergeben und kritisieren auf dieser Grundlage empfundene gesellschaftliche Missstände. Dieser Sektionsbeitrag soll danach fragen, wie amerikanische evangelikale Christen in aktuellen und vergangenen Debatten zur Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik den US-amerikanischen Staat imaginierten: An welche Werte appellierten sie, wenn sie auch in den eigenen Reihen um die Aufnahme von Flüchtlingen warben oder das Bleiberecht nicht dokumentierter Einwanderer diskutierten? Und wie stellten sie die Flüchtlinge und Einwanderer dar – zwischen Gesetzesbrechern und idealen Staatsbürgern? Welche Rückschlüsse lassen diese frames über den evangelikalen Glauben an die amerikanische Nation zu?
Rolf Schieder, Berlin:
Zivilreligiöse Rituale in Deutschland: Leisten sie einen Beitrag zur Integration?
Eine strikte Trennung von Staat und Kirche gibt es in Deutschland nicht. Auch nach der Wiedervereinigung setzt Deutschland auf ein Modell der Kooperation des Staates mit den Religionsgemeinschaften. Das wird im Blick auf das enorme Engagement des Staates bei der religiösen Bildung seiner heranwachsenden Bürgerinnen und Bürger evident. Alle Parteien des deutschen Bundestages befürworten die Einrichtung eines eigenen islamischen Religionsunterrichtes mit dem Ziel, durch eine enge Kooperation mit den islamischen Verbänden die Integration heranwachsender junger Muslime zu fördern.
Aber nicht nur auf Gebiet der religiösen Bildung setzt der Staat auf die Kooperation mit den Religionsgemeinschaften – auch bei Inszenierung zivilreligiöser Rituale kooperieren deutsche staatliche Behörden eng mit den Religionsgemeinschaften. Bei Katastrophen, die das Gemeinwesen in seinen Grundwerten erschüttern, finden seit einigen Jahren nicht nur „Staatsakte“ statt, bei denen man sich der gemeinsamen Grundlagen versichert, vielmehr geht dem Staatsakt immer ein Gottesdienst am gleichen Ort voraus, so dass Staatsakt und Gottesdienst entweder in einer protestantischen oder einer katholischen Kirche mit besonderer Strahlkraft stattfinden – ein Vorgang, der etwa in Frankreich undenkbar wäre. Am Beispiel des Staatsaktes (und des diesem vorausgehenden Gottesdienstes) im Kölner Dom am 17. April 2015 anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Absturzes einer Germanwings-Maschine soll der besondere Charakter zivilreligiöser Rituale in Deutschland erhoben werden und die Frage nach der Integrationsfähigkeit dieser Rituale angesichts zunehmender religiöser Pluralisierung in Deutschland gestellt werden.
Abstracts (English version):
In the context of the present refugee crisis the question of the cohesion of society and hence of “faith” in the mission of one’s own nation seem particularly relevant. Since Robert Bellah’s influential 1967 essay, U.S. social scientists have summarized the close connection between religion and politics as well as the faith in American values in the term civil religion, meaning “a genuine apprehension of universal and transcendent religious reality (…) revealed through the experience of the American people”. Civil religion links citizens and society to a transcendent reference point, confers sacral meaning to the political life of the community and creates unity among the different members of society. While civil religious beliefs in general are able to integrate the individual into the heterogeneous, constructed U.S.-American society by their religious interpretation of the past, present, and future, they are also an expression of the context of the time and thus are able to legitimate political agendas. Moreover, civil religion can serve a critical-prophetic function by defining moral norms and by assuming a specific responsibility for U.S. Americans as God’s chosen people.
This section analyzes the possibilities and limitations of the concept of civil religion. Its goal is to present the international, interdisciplinary discussion about civil religion to a German audience via papers by historians and theologians. On the one hand, the concept of civil religion will be explained and defined in all papers, both for historians, for whom the fluidity of the concept is of particular importance, and for religion (and religious policies) in increasingly multicultural and multi-religious societies. On the other hand, agents, practices and modes of operation of civil religion will be analyzed in case studies from the United States and Germany in the 20th century.
Jana Weiß, Wisconsin-Madison:
‚Celebrating One Nation Under God‘: Holidays as Civil Religious Instruments of Inclusion
U.S. American civil religion especially manifests itself on national holidays such as Independence Day, the oldest holiday in commemoration of the founding of the nation on July 4, 1776, and Memorial Day, the holiday which is to remember the fallen soldiers since the Civil War (1860-1865). As part of the civil religious liturgy, these holidays are public arenas where civil religious beliefs and rituals are activated, and in turn, the national identity and mission are affirmed, the unity of the nation evoked and political agendas discussed, but also legitimized.
Especially in times of war, U.S.-American politicians use a civil religious interpretation to contextualize the past, present and future of the nation within a transcendent framework in order to unify the nation “under God”. Hence, this paper will address the use of holidays as civil religious instruments of inclusion during the Cold War, in particular the Vietnam War which marked a historic turning point. On the one hand, the peace movement (as an example for the division of the nation) criticized the government for its use of civil religious symbolism. On the other hand, it used the same civil religious symbols and reinterpreted them in order to delegitimize the war.
Overall, the critical discourse on the meaning and inclusive potential of U.S.-American civil religion shows that civil religion can be adapted to the changing historical circumstances and the nation’s self-perception as well as adjusted by different groups within the nation. Accordingly, civil religion can unite society but not necessarily with generally agreed-upon agendas.
Heike Bungert, Münster:
Between Integration and Legitimation: Civil Religion in Inaugurations of U.S. Presidents
Inaugurations of U.S. presidents are one of the most important rituals in U.S. civil religion. They serve three functions: To transfer power peacefully in a democracy, to bestow legitimacy on the newly elected president and his political program, and to unify the nation after a controversial election campaign. Civil religion is necessary for all three aspects.
After a short introduction on civil religion and its functions, the paper will look at civil religious elements in the individual parts of inaugurations, from the pre-inaugural celebrations via the prayers and services to the inaugural addresses, the joint dinners, parades, and inaugural balls. On the one hand, the talk will analyze the maintenance of traditions, on the other hand, it will address changes and regenerations over the course of time and different presidents. The use of civil religious aspects by protesters at individual inaugurations will also be investigated.
Ulrike Stedtnitz, Münster:
The ‘City on a Hill’ as a ‘City of Refuge’: Civil Religion in the Evangelical Debate on Immigration and Refugee Policy in the United States
In October 2015, a group of well-known evangelical leaders penned an open letter to President Obama and members of the U.S. Congress. They asked the Obama administration and Congress to increase significantly the number of refugees to be admitted in the next fiscal year. Samuel Rodriguez, president of the largest Hispanic evangelical organization (National Hispanic Christian Leadership Conference) called on the “‘city on a hill’ to shine the light of compassion once again.” José Garcia of Bread for the World urged: “As a nation ‘under God’ we have the faith and moral imperative to become the hands and hearts of God by reaching out and welcoming the stranger.” In the current debate on refugee admissions, evangelical leaders are using the corrective element of the prophetic function of civil religion. They invoke values derived from a special responsibility and mission of the country, and on this basis criticize perceived social injustices – a practice that goes back to previous refugee crises, such as the Southeast Asian refugee crisis in the 1970s and 1980s.
This talk probes the question how U.S. evangelical Christians have imagined the American nation in current and past debates on immigration and refugee policy. Which values did they invoke when they recruited refugee sponsors among their own congregants or when they discussed pathways to citizenship for undocumented immigrants in their churches? How did they frame refugees and undocumented immigrants – between lawbreakers and ideal Americans? And what do these frames tell us about the evangelical faith in the American nation?
Rolf Schieder, Berlin:
Civil Religious Rituals in Germany: Do They Contribute to Integration?
In Germany, there is no strict separation of church and state. Even after reunification, Germany opted for a model of cooperation between the state and religious communities. This becomes evident in view of the immense involvement of the state in the religious education of its adolescent citizens. All parties of the German Bundestag support the implementation of separate Islamic religious education by means of a close cooperation with the Islamic organizations with the aim of encouraging the integration of young adolescent Muslims.
However, not only in the field of religious education does the state opt for cooperation with religious communities – even in the enactment of civil religious rituals, German governing authorities cooperate closely with religious communities. In case of disasters which shake the fundamental values of the community, for the past few years, not only state ceremonies have taken place, in which shared basic values are reaffirmed; these ceremonies are always preceded by a religious service in the same place, so that state ceremony and religious service are celebrated either in a Protestant or a Catholic church with an exceptional charisma – a procedure, which, for instance, would be unthinkable in France.
Using the example of the state ceremony (and the religious service preceding it) in the Cologne Cathedral on April 17, 2015, in commemoration of the victims of a Germanwings plane crash, the special character of civil-religious rituals in Germany will be analyzed and the ability of these rituals to integrate will be explored in light of an increasingly religious pluralization in Germany.
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(Heidi Hein-Kircher, Marburg) Heidi Hein-Kircher, Marburg: Einführung Steven
Überblick
(Heidi Hein-Kircher, Marburg)
Heidi Hein-Kircher, Marburg:
Einführung
Steven Seegel, Colorado:
Spatial Politics, Religion, and Identity: Uses and Abuses of Antemurale
Vanessa Conze, Gießen:
»… ein Bollwerk christlicher Kultur gegen heidnisches Chaos.« Das »Abendland« im Kalten Krieg
Paul Srodecki, Gießen/Ostrava:
»Bollwerke Europas« – Die Bollwerksrhetorik reloaded. Antemurale-Topoi vor dem Hintergrund der aktuellen Ukraine und Flüchtlingskrise
Guido Hausmann, München:
Bollwerk(e) gegen die ausländische Gefahr: Historische Kontinuitäten gegenwärtiger Geschichtsbilder in der Ukraine
Liliya Berezhnaya, Münster:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version)
Ausgehend von der Feststellung, dass gegenwärtig die Errichtung von Grenzzäunen gegen die Flüchtlingsströme auch symbolischen Charakter annimmt, führt die Einleitung knapp in die historische Mythosforschung ein. Diese Perspektive erlaubt es, Bedrohungsszenarien und Sicherheitsversprechen als politischen Mythos zu interpretieren, durch den sich die Vergangenheit mit der Gegenwart und letztlich auch mit Zukunftsvorstellungen verbinden lässt. Gerade letzteres ist die eigentliche Botschaft von solchen Bollwerkvorstellungen, weil gerade „Sicherheit“ zu den diskursiv vermittelten politisch-gesellschaftlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen mit einem erheblichen Mobilisierungspotential gehört.
Guido Hausmann, München:
Bollwerk(e) gegen die ausländische Gefahr: Historische Kontinuitäten gegenwärtiger Geschichtsbilder in der Ukraine
Vor 1991 grenzte sich die Ukraine kulturgeographisch und politisch vor allem nach Westen ab. Von 1991 bis heute kam es dann zu einem Wandel mit einer wachsenden Abgrenzung nach Osten hin, gegenüber Russland. Diese Abgrenzung hat sich 2013-15 durch die Gewalterfahrung aus Russland beschleunigt. Im Mittelpunkt des Vortrags wird die Frage stehen, auf welche geschichtspolitischen und -kulturellen Ressourcen dabei mit welchen neuen Narrationen Bezug genommen wurde.
Vanessa Conze, Gießen:
„… ein Bollwerk christlicher Kultur gegen heidnisches Chaos.“ Das `Abendland´ im Kalten Krieg.
Der Sektionsbeitrag wird sich mit der „Abendland“-Idee auseinandersetzen, die in Zeiten des Kalten Krieges zum elementaren Bestandteil des Gesamtkomplexes einer konservativ-katholischen westdeutschen Sicherheitskonzeption gehörte. Sie bezog sich weniger auf außenpolitisch-militärische Dimensionen von Sicherheit, sondern verwies auf eine christliche Wertegemeinschaft, die der Bedrohung durch den „heidnischen Osten“ als „geistiges Bollwerk“ entgegenwirken und die Verteidigungskraft Europas auch in ideeller Hinsicht stärken sollte. Beispielhaft sollen diese Zusammenhänge dargestellt werden an den Jubiläumsfeierlichkeiten, die 1955 in Augsburg zur Erinnerung an die „Schlacht auf dem Lechfeld“ 955 stattfanden und bei denen Kampf Kaiser Ottos I. gegen die Ungarn tausend Jahre zuvor gleichgesetzt mit der Situation des Kalten Krieges. An den Augsburger Feierlichkeiten lassen sich zentrale Komponenten der in der Sektion im Mittelpunkt stehenden „Bollwerks“-Metapher exemplarisch auffächern. Und in Zeiten von Pegida ist das Thema auch nicht ohne Gegenwartsbezug.
Paul Srodecki, Gießen/Ostrava:
„Bollwerke Europas“ – Die Bollwerksrhetorik reloaded. Antemurale-Topoi vor dem Hintergrund der aktuellen Ukraine- und Flüchtlingskrise
Der Vortrag soll kurz die in den letzten Jahren stark zu beobachtende „Reaktivierung“ der in Ostmitteleuropa seit spätestens dem ausgehenden Mittelalter weit verbreiteten, auf Alteritäts- und Alienitätskonstruktionen aufbauenden antemurale-Topoi skizzieren. Dass die ostmitteleuropäischen Bollwerksdiskurse vor allem in Polen und Ungarn nichts an ihrer Aktualität verloren haben, zeigen sowohl die jüngsten Ereignisse in der Ukraine als auch insbesondere die im Zuge des Syrienkonflikts aufgekommene „Flüchtlingskrise“ 2015/2016. Vor dem Hintergrund der angespannten politischen Situation an den östlichen und südöstlichen Grenzen der Europäischen Union wurde bzw. wird auch das Bollwerksargument als breitenwirksames Propagandamittel von den jeweiligen Konfliktparteien und politischen Akteuren zusehends bemüht.
Steven Seegel, Greely, Col.
“Das geheime Leben von Karten: Entschlüsselung von Religion und Geopolitik in modernen Antemurale-Diskursen”
Karten waren ein integraler Bestandteil der Projekte ostmitteleuropäischer Zivilisatoren. Einmal publiziert, entwickelten sie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch die Verschränkung von Geschichte mit Kartografie und von Geografie mit Geopolitik ein institutionelles Eigenleben. Dieser Beitrag untersucht das „geheime Leben“ von Karten von ihrer Produktion und Publikation bis zu ihrer Verbreitung im Leben professioneller Geografen; Männer, die für die Konstruktion von Mythen des Schutzes in den umstrittenen/ Räumen transnationaler Grenzgebiete verantwortlich sind. Durch die Untersuchung der Biografien von fünf Kartografen, die in einem grenzübergreifenden Netzwerk durch persönliche Korrespondenz miteinander in Verbindung standen – Isaiah Bowman, Albrecht Penck, Eugneniusz Romer, Pál Teleki, and Stepan Rudnyts’kyi – kontextualisiert der Vortrag die Intensität solcher Mythen und ihrer Mediatoren und zeigt deutlich die geschlechtsspezifischen Ängste hinter der visual history und (visuellen) Praktiken.
Abstracts (English version)
Starting with the diagnosis, that the building of border fences against the current flow of refugees also gets a symbolic character, the paper introduces shortly into the historical research on political myths. Through that perspective, it is possible to interpret threat scenarios and security promises as political myths, which tie up past, present and future. In effect, that connection is the message and fundament of bulwark-notions, because „security“ belongs to the discursively mediated political and social values and order notions with an eminent potential of social mobilization.
Guido Hausmann, München:
Bulwark(s) Against the Foreign Danger: Historical Continuities of Present Historical Consciousness in Ukraine
Ukraine largely distanced itself from the west before 1991. As a national state however a steady change occurred after 1991 replacing the west with the east – Russia. The cultural geographical and political change was dynamized in 2013-15 with the new experience of violence and war. The paper explores in more detail the historical and cultural roots and narrations of this process.
Vanessa Conze, Gießen:
„… a Bulwark against Pagan Disorder.“ The Occident in the Cold War
This paper sets its focus on the idea of the „Abendland“ [the English words ‘occident’ and ‘West’ do not convey the specific Catholic-European dimensions of the German term ‘Abendland’], which played an important role in a conservative-catholic West-German security policy in the 1950s. The “Abendland” was less a foreign-policy or military term, but a reference to a Christian order in Europe, that could – for its advocats – become a bulwark against the “godless East” and protect Europe in a spiritual sense. The paper will use the example of the festivities in Augsburg 1955, remembering the 1000 jubilee of the “Schlacht auf dem Lechfeld” in 955. Here, the fight of emperor Otto I. against the Hungarians 1000 years before was compared to the situation of the Cold War. By analysing the “Lechfeld”-memory, important elements of the “Bollwerk”-metaphore will be demonstrated. And in times of Pegida the concept “Abendland” ist not without current interest
Paul Srodecki, Gießen/Ostrava:
“Bulwarks of Europe” – The Bulwark Rhetoric Reloaded. Antemurale Topoi Against the Background of the Contemporary Ukraine and Refugees Crises
This paper will briefly outline the notable reactivation in recent years of the East Central European antemurale topoi, the roots of which can be traced back to the outgoing Middle Ages, and which are built on constructions of alterity and alienity. Contemporary events in Ukraine and, above all, the so-called “refugee crisis” of 2015/2016 demonstrate that the East Central European bulwarks discourses have lost none of their relevance, particularly in Poland and Hungary. Against the background of the tense political situation at the Eastern and South-Eastern borders of the European Union, the bulwark argument continues to be used as a widespread instrument for propaganda by particular political actors and parties in the conflict.
Steven Seegel, Greely, Col.
„Secret Lives of Maps: Decoding Religion and Geopolitics in Modern Antemurale Discourses“
Maps were integral to the projects of East Central Europe’s civilizing men. Once published, the maps took on institutional lives of their own by entangling history with cartography, and geography with geopolitics in the late 19th and early 20th century. This paper examines the “secret lives” of maps, from production to publication to circulation, in the lives of professional geographers, men responsible for engineering myths of protection in the contested spaces of transnational borderlands. By examining biographically five cases of “map men” within a cross-border network of experts in personal correspondence with each other — Isaiah Bowman, Albrecht Penck, Eugneniusz Romer, Pál Teleki, and Stepan Rudnyts’kyi, the paper contextualizes the intensity of such myths and their mediators and demonstrates sharply the gendered anxieties behind visual history and practices.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
HWF-221
Hauptgebäude Westflügel
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(Carola Dietze, Gießen) Carola Dietze, Gießen: Einleitung:
Überblick
(Carola Dietze, Gießen)
Carola Dietze, Gießen:
Einleitung: Konturen einer Geschichte des Rechtsterrorismus in Europa und den USA von 1865 bis heute
Daniel Schmidt, Münster/Gelsenkirchen:
Rechtsterroristische Gewalt im Europa der Zwischenkriegszeit: Italien und Deutschland im Vergleich
Constantin Iordachi, Budapest: Manufacturing Martyrdom: Ideology and Practice of the Fascist Iron Guard in Inter war Romania
Michael Sturm, Münster:
»Taten statt Worte«: Zur Anatomie des Rechtsterrorismus in Europa nach 1945
Christoph Kopke, Berlin:
Kommentar
Abstract (scroll down for English version)
In der sozialwissenschaftlichen sowie auch in der historischen Terrorismusforschung hat der Rechtsterrorismus – anders als der Linksterrorismus und der ethnisch-nationalistische Terrorismus – bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten. Nicht zuletzt angesichts der Gewalttaten der Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) sowie anlässlich der Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Oktoberfestattentat im Jahre 1980 erscheint es jedoch wünschenswert, dass die Geschichtswissenschaft sich der Erforschung des Rechtsterrorismus stärker widmet, um über die Beschäftigung mit einzelnen Gruppen und Gewalttaten hinaus, Kontinuitäten und Veränderungen sowie typische Strukturen und Rezeptionsprozesse aufzuzeigen. Ziel dieser Sektion ist es, anhand der Analyse ausgewählter Fallbeispiele Ansätze zu einer solchen Geschichte des Rechtsterrorismus zu entwickeln.
Abstract (English)
Until recently, right-wing terrorism has received comparatively less attention than forms of left-wing, ethnic-nationalist and religious terrorism; this is true both in the social sciences and in the historical profession. Current events such as the terrorist violence perpetrated by the right-wing group “Nationalsozialistischer Untergrund” around the turn of the millenium and the reopening of the investigation of a right-wing background of the “Oktoberfestattentat“ in 1980 (when a bomb exploded at the main entrance to the Oktoberfest-compound, killing 13 people and injuring more than 200) call on historians to pay more attention to forms of right-wing terrorism. On the basis of studies that deal with different groups and their violent acts we need to frame an analysis of continuities and changes as well as typical structures and reception processes in the history of right-wing terrorism. The aim of this section which focuses on selected cases is to present and discuss a preliminary outline of such a more comprehensive history of right-wing terrorism.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
Phil-B
Philosophenturm
Überblick
(Eva Brugger, Jörn Happel, Basel) Anja
Überblick
(Eva Brugger, Jörn Happel, Basel)
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Währung, Ware, Wunschobjekt. Felle zwischen Markt und Hof im 15. Jahrhundert
Eva Brugger, Basel:
Transatlantisches Begehren.
Biberpelz und die Kolonie New Netherland (1609–1664)
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Biber und Vikuña: Globale Rohstoffe für die europäische Hutproduktion am Beispiel Wiens im 17. und 18. Jahrhundert Jörn Happel, Basel:
Pelzrausch. Sibirien in Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts
Heiner Lang, Bamberg:
Kommentar
Abstracts (scroll down for Englisch version):
Die Sektion „Globaler Rausch. Das Projekt Pelz vom 15. bis in das 19. Jahrhundert“ nimmt das Begehren nach einem globalen Objekt aus der Perspektive einer integrierten Wirtschaftskulturgeschichte in den Blick. Sie verfolgt das Ziel, Pelze als Motor und Antrieb globaler ökonomischer Projekte zu begreifen, die von wirtschaftstheoretischen Modellen wie Angebot und Nachfrage ebenso geprägt sind, wie von sozialen Beziehungen, Affekten und Materialitäten. Als Projekt – im Sinne zeitgenössischer Definitionen, wie sie etwa Daniel Defoe für das späte 17. Jahrhundert liefert – verstanden, sind Pelze vom 15. bis in das 19. Jahrhundert in besonderem Maße dazu geeignet, die Unsicherheiten und Gefahren ökonomischer Investitionen mit dem Versprechen auf Wohlstand und Prestige zu tilgen. Mit diesem Ansatz greift die Sektion zentrale Aspekte der aktuellen methodischen Diskussion auf: Zunächst stellen sich die Beiträge dem Vorwurf der Unvereinbarkeit von wirtschafts-, kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen. Die Ausbildung und Etablierung von (transatlantischen) Handelskompanien wird vielmehr ebenso thematisiert wie die Aushandlungen sozialer Distinktion und religiöser wie kultureller Unterschiede in Reiseberichten, Luxusverordnungen und Kostümbüchern. Die Beiträge greifen Fragen des material turns in den Geschichtswissenschaften auf und untersuchen Pelze auch als globale Objekte, die durch ihre Haptik und Ästhetik ein Begehren hervorbringen, das wiederum die Entstehung von Konsum- wie Luxusgütern, von Second-hand Märkten und Reproduktionen begünstigte. Dem Rausch der Pelze will die Sektion aus global- und verflechtungshistorischer Perspektive nachgehen und damit unterschiedliche, in der disziplinären Forschung meist getrennte regionale Perspektiven miteinander verschränken. Aus interepochaler wie interregionaler Perspektive sollen ökonomische Praktiken und ihre Affekte gleichermaßen in den Blick genommen und nach den historischen Netzwerken, Verbindungen und Handelswegen gefragt werden, die das Begehren nach Pelzen in der Vormoderne begründen und den Rausch antreiben.
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Währung, Ware, Wunschobjekt. Felle zwischen Markt und Hof im 15. Jahrhundert
Im Vortrag wird die Rolle von Fellen (z.B. Eichhörnchen, Zobel, Hermelin) im Handel zwischen der Hanse und anderen Kaufleuten und den europäischen Höfen im Spätmittelalter analysiert. Die Felle werden in ihrer Mehrfachbedeutung als Währung und Ware in ökonomischer Perspektive einerseits sowie als repräsentative Luxusobjekte und Bedeutungsträger in kulturhistorischer Perspektive andererseits untersucht. Fragen nach Ankauf, Transport und Wert(-schätzung) geraten dabei ebenso in den Blick wie die Verwendung der Felle als Kleiderschmuck und Raumausstattung im Schnittfeld von „Masse & Klasse“.
Eva Brugger, Basel:
Transatlantisches Begehren. Biberpelz und die Kolonie New Netherland (1609-1664)
Die Pelzvorkommnisse in nordamerikanischen Gebieten weckten im 17. Jahrhundert das Begehren europäischer Seemächte ebenso wie das von Handelscompanien, einzelnen Händlern und Projektemachern. Die Nachfrage nach Biberpelzhüten, Muffs, Kappen und Mänteln war durch die (west-)europäischen Biberbestände kaum zu befriedigen. Männer wie Frauen in den europäischen Metropolen wie Paris, London oder Amsterdam gierten nach den modischen Kleidungsstücken oder suchten nach Möglichkeiten einer kostengünstigen Reproduktion. Nicht zuletzt um dieses Begehren zu stillen, bemühten sich Engländer, Franzosen und Niederländer während des 16. und 17. Jahrhunderts Handelsstützpunkte mit kolonialen Strukturen in den Gebieten des heutigen Nordamerika und Kanada aufzubauen.
Das Paper schliesst an diese Beobachtung an und nimmt mit der Kolonie New Netherland ein Projekt in den Blick, das maßgeblich auf dem Begehren nach Pelzen fusst. Mit New Amsterdam – dem heutigen New York – steht eine Siedlung im Mittelpunkt, die im 17. Jahrhundert zum zentralen Umschlagsplatz für Pelze wurde. Vom Hafen Fort Amsterdam aus wurde entlang des Hudson Rivers mit den umliegenden nordamerikanischen Kolonien gehandelt. Die unbearbeiteten Felle wurden von hier aus nach Europa zur Verarbeitung oder als Kleidungsstücke nach Asien verschifft. Während sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten mit den so genannten „contact zones“ zwischen Europäern und Indigenen befasst hat, sind die wirtschafs-, kultur- und sozialhistorischen Implikationen des transatlantischen Pelzhandels bislang kaum analysiert. Mit dem Fokus auf die Ware wie die Währung Pelz will das Paper das Begehren nach Pelzen in den Mittelpunkt stellen und die Ausbildung ökonomischer Handelskompanien wie der Westindischen Handelskompanie (WIC) mit wirtschaftlicher Risiken und Versprechen auf Wohlstand verschränken. Ihre Gestalt gewinnt das Begehren in diesem Spannungsfeld bezeichnenderweise nicht zuletzt in Kleidung, die aus Pelz gefertigt oder mit Applikationen versehen, auf den sozialen Status ihrer Besitzer verweist.
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Biber und Vikuña: Globale Rohstoffe für die europäische Hutproduktion am Beispiel Wiens im 17. und 18. Jahrhundert
Der schwarze Biberhut Ludwigs XIV. mit scharlachroten Straußenfedern und Goldborte, abgebildet auf Henri Testelins Gemälde zur Gründung der Académie des Sciences 1666, wurde zum Inbegriff barocker Hutmode. Die europäische Hutproduktion orientierte sich insbesondere im Luxussegment im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an der französischen Mode. Auch Wien, das sich lange dem französischen Modediktat widersetzte, übernahm schließlich den französischen Biberhut als wichtiges Modeaccessoire. Obwohl Biber in Mitteleuropa kein unbekanntes Tierfell war, gab es in Wien keine ausgesprochene Biberhutproduktion. Denn der Biber war in Mitteleuropa längst ausgestorben und musste teuer importiert werden, zunächst aus Russland, ab dem 16. Jahrhundert aber vermehrt aus Kanada. Kaum ein Hutmacher in Wien war in der Lage, die exquisiten Biberhüte nach französischem Vorbild herzustellen, sodass ein Großteil des Adels seine Biberhüte direkt aus Frankreich importieren ließ. Biberfelle und ihre noch teurere Alternative, Vikuña aus den südamerikanischen Anden, zeichneten sich durch eine besondere Fellqualität aus, die dem Hut nach einer Reihe langwieriger und komplexer Verarbeitungsprozesse besondere Robustheit, Steifheit, aber auch Feinheit und Glanz verliehen. Der Vortrag zeigt die Globalisierung der Rohstoffe in der Hutproduktion auf und untersucht am Beispiel Wiens die Auswirkungen dieser Globalisierung auf das lokale Handwerk. Im Zuge des Biberhut-Hypes kam es nämlich zur Ansiedlung von französischen und italienischen Hutmachern in Wien, die das Gefüge des ansässigen Handwerks durcheinanderbrachten.
Jörn Happel, Basel:
Pelzrausch. Sibirien in Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde Sibirien im Zuge zahlreicher wissenschaftlicher Großexpeditionen gründlich erforscht, vermessen, kartographiert, beschrieben. Immer wieder faszinierte die Reisenden der Pelzreichtum des Landes, wenngleich den Gelehrtenvor Ort auch bewusst wurde, dass die Bejagung von Zobeln und weiteren Pelztieren wenig auf Nachhaltigkeit setzte. Zudem kam es aufgrund des Eintreibens der Pelzsteuer (jazak) bei der indigenen Bevölkerung Sibiriens immer wieder zu großen Auseinandersetzungen mit der russischen Verwaltung oder mit russischen Pelzjägern. Der Vortrag konzentriert sich auf die Erfahrung des Pelzlandes Sibirien im 18. und 19. Jahrhundert durch vornehmlich wissenschaftliche Reisende. Es interessiert, wie die russische Verwaltung an die Pelze gelangte, die anschließend über Moskau nach Westeuropa exportiert wurden, und wie Jagd und jazak die Kolonie veränderten und schrittweise durch das Zurückdrängen der einheimischen Völker auch russifizierten. Neben der Faszination für die Schönheit Sibiriens und seiner Pelze spielte in den Reise- und wissenschaftlichen Berichten stets die überall verbreitete Korruption, Gewalt und Misswirtschaft eine Rolle. All dies ist auch ein Teil der letztlich erfolgreichen Eroberung und Erschließung Sibiriens und lässt sich am Umgang mit den Pelztieren im besonderen Maße aufzeigen.
Abstracts (English version):
The panel “Global rush. The project fur from 15th to 19th century” discusses the desire for a global object from a perspective that integrates economic with cultural history. We see fur as an engine and motivation for global economic projects, which are characterized by economic models like supply and demand as well as by social relations, affects and materialities. In terms of a contemporary definition of projects such as Daniel Defoe’s definition from the late 17th century – fur is a particularly suitable example to show how the promise of wealth and prestige leveled uncertainties and risks of economic investments. With this approach the panel picks up central aspects of the current methodological discussion: The papers deal with the accusation of the incompatibility of economic, cultural and socio historical approaches. The development and establishment of (transatlantic) companies will be discussed as well as the negotiation of social distinction and religious and cultural differences in travelogues, sumptuary laws and costume books. The papers pick up questions of the material turn in history: The authors consider fur as global objects that create desire based on their textures and aesthetics. In turn, this desire promotes the development of luxury goods, second-hand markets and replicas. The panel will follow the rush of furs from a global historical perspective. By doing so, the aim is to entangle different regional perspectives that are often separated in disciplinary research. From an inter-epochal and inter-regional point of view the panel takes economic practices and their affects into account and asks for historic networks, connections and trade routes that boosted the global fur rush in Early Modern times.
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Currency, Goods, and Objects of Desire. Furs between Market and Court in 15th-Century Europe
The lecture will consider the role of furs (e.g. of squirrel, sable, ermine) in trade relations between the Hanseatic League, other merchants, and European courts during the later Middle Ages. They will be examined in their multiple meanings from an economic as well as from a cultural point of view: on the one hand they are currency and trading goods on the other they are used as representative luxury objects and cultural symbols. At the intersection of „mass and class“ the use of furs in fashion and room decoration will be analysed as well as questions regarding acquisition, transport and value.
Eva Brugger, Basel:
Transatlantic Desires. Beaver Fur and the Colony New Netherland (1609-1664)
Fur occurrences in North America generated the desire of European naval powers, trading companies, individual merchants and entrepreneurs in Early Modern times. The (West-) European fur resources were not able to meet the demand for beaver hats, fur muffs, caps and coats. Men and women in the European metropolises such as Paris, London and Amsterdam were longing for fashionable clothing or were searching for possibilities to replicate them affordably. Not least to satisfy this desire, merchants and the English, French and Dutch governments sought trading bases with colonial structures in the areas of today`s North America and Canada.
The present paper studies the colony New Netherland, which was mainly founded based on the desire for fur. The colony’s capital New Amsterdam – today`s New York – is the focal point of the paper as it became the main place of fur transshipment in the 17th century. From Fort Amsterdam fur was traded with the surrounding colonies along the Hudson River, raw pelts were shipped to Europe and fur clothing was shipped to Asia. In recent decades research focused mainly on the so-called “contact zones” between Europeans and Indigenes from an economic or cultural historical point of view. The entanglement of economic, cultural and socio historical impact on the transatlantic fur trade is less analyzed until today. By studying fur as both – a product and a currency – I intend to explain the development of trading companies like the West India Company (WIC) with economic risks and the promise on wealth.
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Beaver and Vicuña: Globalized Commodities for the European Hat Production, the Viennese Example in the Seventeenth and Eighteenth Centuries
Louis‘ XIV black beaver hat with scarlet ostrich feathers and a golden border, depicted on Henri Testelins‘ painting on the foundation of the Académie des Sciences in 1666, became exemplary for the baroque hat fashion. The European luxury hat production looked to Paris in the seventeenth and eighteenth centuries. Even Vienna, which resisted much longer than any other German-speaking territory to the French influences in fashion, finally adopted the French beaver hat as important accessory. Although beavers were native in Central Europe, there was no particular beaver hat production in Vienna because long ago, the beaver was extinct in Europe and had to be expensively imported from Russia. Since the sixteenth century France imported increasingly Canadian beaver. Viennese hatters were barely able to make those exquisite French hats. As a consequence, the Viennese nobility had imports made directly from Paris to a large extent. Beaver furs and the even more expensive alternative vicuña from the central Andes in South America were famous for their quality. Robustness, starchiness as well as delicateness and lustre were the features of the beaver hats after a long row of complex processing procedures. This paper explores the globalization of the raw materials in the European hat production and its effects on the local handicraft by taking the example of Vienna. In the course of the beaver hat hype, French and Italian hatters settled in Vienna and gave rise to changes in the fabric of the local handicraft.