September
Überblick
(Eva Schlotheuber, Düsseldorf, Clemens Rehm,
Überblick
(Eva Schlotheuber, Düsseldorf, Clemens Rehm, Stuttgart)
Bettina Joergens, Duisburg, Nicola Wurthmann, Marburg:
Archive
Christoph Mackert, Leipzig, Claudia Fabian, München:
Handschriftenzentren
Lena Vosding, Andreas Kistner, Düsseldorf:
Netzwerk Grundwissenschaften
Andrea Stieldorf, Bonn Jürgen Wolf, Marburg:
Wissenschaftliche Forschung
Abstract
Die Sektion schließt sich inhaltlich an die Aufforderung des VHD an, den kommenden Historikertag in Hamburg für eine Selbstreflexion über die Grundlagen des Faches zu nutzen. Die Kompetenz, schriftliche und materielle Originalquellen vergangener Zeiten entschlüsseln und für die eigene Fragestellungen fruchtbar machen zu können, ist die Grundvoraussetzung für die Arbeit aller historisch ausgerichteten Disziplinen. Die Fähigkeit zur adäquaten Erschließung und Quellenkritik der Originalüberlieferung markiert einen wesentlichen Unterschied zwischen Geschichtsinteresse und Forschung. Für die Vermittlung dieser Kompetenzen sind die Historischen Grundwissenschaften zuständig, die heute aus der deutschen Hochschullandschaft zu verschwinden drohen. Jenseits der Erschließung vormoderner Quellen sind jedoch mit der Zeitgeschichtsforschung neue Herausforderungen entstanden, für die profunde Kenntnisse der Medien- und Quellenkritik zentral sind. Dazu gehören die statistische Vermessung der Gesellschaft, visuelle, auditive und audiovisuelle Quellen sowie digitalisierte Massenquellen (etwa Zeitungen), die besondere Kompetenzen der Methodenkritik erfordern. Zudem ist die Geschichtswissenschaft nicht mehr in erster Linie national zentriert und die zunehmend globale Orientierung erfordert eine Quellenanalyse, die über die klassischen Aktenformate weit hinaus reicht. Ein nennenswerter Teil der für die historische Forschung und fachspezifische Informationssysteme bereitgestellten Gelder wird dementsprechend für Digitalisierungsvorhaben und moderne Verwaltungssysteme der Digitalisate aufgewendet, was grundsätzlich sehr zu begrüßen ist. Nur läuft diese sinnvolle Investition wissenschaftlich ins Leere und kann ihr Potential nicht entfalten, wenn die wissenschaftliche Community sukzessive die Fähigkeit verliert, dieses immense und zunehmend besser zugängliche kulturelle Erbe adäquat zu erschließen und für die eigene Forschung fruchtbar zu machen.
Die „digitale Wende“ erfordert somit erweiterte und vertiefte Kompetenzen sowohl der klassischen Quellenkritik als auch der Medienkritik. Die Entgrenzung des Zugangs zu historischen Originalquellen durch Digitalisierung und Open Access muss mit einer wachsenden Kompetenz der heutigen und zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer einhergehen. Nur so können wissenschaftliche Standards nachhaltig gewahrt werden und die Forschungsergebnisse international standhalten. Diese Kompetenzen zu vermitteln, gehört zu den genuinen Aufgaben der universitären Ausbildung der Geschichtswissenschaften. Mit der augenblicklichen Ausstattung der historischen Institute oder Seminare ist diese gewachsene und im Prozess der digitalen Wende aktuelle dringliche Aufgabe aber nicht zu leisten. Diese Sektion möchte die Situation aus verschiedenen Perspektiven, nämlich der bestandhaltenden Institutionen (Bibliotheken und Archive) sowie der Wissenschaft und des Nachwuchses darstellen sowie mögliche Lösungswege diskutieren.
Problematik aus Sicht der Archive
In der digitalen Welt erfährt der Umgang mit historischem Material einen radikalen Wandel. Zum einen werden Bilder und Dateien räumlich und zeitlich unbegrenzt verfügbar gemacht. Zum anderen ist es jeder Person möglich, eigenständig Informationen ins Netz zu stellen. Darüber hinaus verändert im digitalen Zeitalter – was weniger bekannt ist – auch das übernommene Archivgut seine Erscheinungsformen und Aussagewerte.
Angesichts dieser Situation erhalten die schon von jeher zentralen archivischen Kategorien ‚Ordnung‘ und ‚Struktur‘ neue Relevanz für die Interpretation historischen Materials. Zur quellenkritischen Interpretation der ‚Quellen von morgen‘ wird es darüber hinaus wichtig, sich mit den Prozessen der Entstehung von Informationen in modernen Verwaltungen vertraut zu machen. Archivarinnen und Archivare tragen daher mit ihren archivwissenschaftlichen Fachkenntnissen zur aktuellen Diskussion über Grundwissenschaften bei.
Problematik aus Sicht der Bibliotheken
Die historischen Quellenbestände in den wissenschaftlichen Bibliotheken werden von einer weiterhin archivzentrierten Geschichtswissenschaft zu wenig wahrgenommen und genutzt. Gleichzeitig erweitert sich durch die digitale Wende das Angebot und die Zugänglichkeit zu diesen Quellen dramatisch. Die DFG-Pilotphase Handschriftendigitalisierung, aber auch die DFG-geförderten Digitalisierungsprogramme für Alte Drucke sind hier Meilensteine. Jüngst angestoßen wurde der Aufbau eines neuen zentralen Handschriftenportals, das einen wichtigen Beitrag zu einer virtuelle Forschungsumgebung für das Handschriftenerbe leisten wird. Den wissenschaftlichen Nachwuchs für diese Angebote zu sensibilisieren und die Nutzerbedürfnisse der neuen Forschergenerationen adäquat bei Erschließung und Präsentation zu bedienen, ist eine wichtige infrastrukturelle Aufgabe der Bibliotheken. Auf der anderen Seite bedarf es intensivierter Qualifizierungsmaßnahmen der universitären Ausbildung, damit Kompetenzen wie paläographische oder kodikologische Kenntnisse sowie Arbeitstechniken der Digital Humanities vertieft erworben und die Angebote der Bibliotheken adäquat genutzt werden können. Auch für die Qualifizierung künftigen Bibliothekspersonals ist dies von zentraler Bedeutung.
Problematik aus Sicht des wissenschaftlichen Nachwuchses
Ein Erfahrungsaustausch des wissenschaftlichen Nachwuchses (Anf. Des Jahres 2015 an der LMU) hat gezeigt, dass die Möglichkeit, die Qualifikationsarbeiten auf der Basis nicht edierte Quellen zu schreiben, unmittelbar mit der Qualität der universitären Ausbildung zusammenhängt. Ebenso wurde deutlich, dass die Vermittlung dieser Fähigkeiten inzwischen sehr vom Standort und / oder von der Lehre engagierter Einzelpersonen abhängt. Der wissenschaftliche Nachwuchs erkennt aus seiner Perspektive die veränderte Situation bzw. die Mängel mit besonderer Schärfe. Die in München aus der Taufe gehobene Initiative eines Nachwuchsnetzwerkes ‚Historische Grundwissenschaften‘ möchte hier ansetzen und speziell dem graduierten Nachwuchs an deutschen Forschungseinrichtungen eine Stimme geben.
Problematik aus Sicht der Wissenschaft
Für die Wissenschaft sind die Originalquellen die Basis jeder Erkenntnis. Selbst komplexe Vorstellungswelten, Forschungsthesen und Theoriegebäude verlangen immer wieder danach, auf die materialen Grundlagen zurückgeführt zu werden. Diese Quellengrundlagen eines Tages nicht mehr verstehen, nicht mehr lesen zu können, oder gar sie überhaupt nicht mehr zu (er)kennen, würde den Verlust des wissenschaftlichen Zugangs bedeuten – mit erheblichen Folgen auch für die Forschungen der Nachbardisziplinen. Die grundwissenschaftliche Forschung sieht sich einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck auch innerhalb der Fächer Geschichte und Germanistik (Altgermanistik) ausgesetzt; dies macht sich beispielsweise bei Stellen(wieder)besetzungen und Drittmittelanträgen bemerkbar. Dem kann nur entgegengewirkt werden, indem die inhaltlichen und methodischen Stärken der grundwissenschaftlichen Disziplinen offensiv vertreten werden. Die Problematik des Verlusts von Kompetenzen soll sowohl aus der Sicht des Fachs (AG Grundwissenschaften) also auch aus Sicht der benachbarten Philologien (Germanistik) in den möglichen Perspektiven bzw. (negativen) Konsequenzen analysiert und diskutiert werden.
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
HWF-121
Hauptgebäude Westflügel
Überblick
(Christian Wendt, Berlin, Neville Morley,
Überblick
(Christian Wendt, Berlin, Neville Morley, Bristol)
Christian Wendt, Berlin:
Glauben an und bei Thukydides
Neville Morley, Bristol:
Belief in an Unhistorical Thucydides
Liisi Keedus, Helsinki:
O ye of different faith—Leo Strauss and his school
Uwe Walter, Bielefeld:
Kommentar
Abstracts (scroll down for English version):
Die Kategorie des Glaubens ist aus der Selbstdefinition der Historiker und Historikerinnen gestrichen – Nachprüfbares oder im Mindesten plausibel zu Machendes, bestenfalls auf der Basis einer breiten Datensammlung, soll die Arbeit am historischen Sujet abgrenzen von einer bloßen informierten Meinungsäußerung, vom Dilettieren.
Wie aber steht es mit dem Glauben an Instanzen oder Personen, denen Glaubwürdigkeit beigemessen wird, etwa an das Renommee einer Koryphäe, das unanfechtbar geglaubte Referenzwerk, die treffendste methodische Schule?
Am Beispiel des Thukydides und seiner Rezeption soll diese Frage exemplarisch gestellt werden: Wie gelingt es, einem fernen Autor ein derartiges Maß an Glaubwürdigkeit zuzusprechen, dass man an ihn glauben kann wie an eine quasi unanfechtbare Instanz? Und daraus leitet sich die Frage ab: Wieviel Glauben oder auch Glauben-Wollen steckt in der Überzeugungskraft eines historischen Arguments?
Christian Wendt, Berlin, behandelt das Moment des Glaubens oder der Überzeugung bei Thukydides selbst, um anhand dessen die Konstruktion von Glaubwürdigkeit in bezug auf den athenischen Autor als Mechanismus zu hinterfragen.
Neville Morley, Bristol, geht dem Phänomen auf den Grund, wie es dazu kam, daß ein als Musterhistoriker wahrgenommener Autor in anderem Kontext zu nahezu unanfechtbarer Glaubwürdigkeit gelangen konnte, wie also der Transfer des Thukydides von der Geschichts- zur Politik- und Sozialwissenschaft zu erklären ist.
Liisi Keedus, York, setzt sich mit der Rezeption des Thukydides bei Leo Strauss auseinander und problematisiert die Glaubwürdigkeit des Interpreten, der einen besonderen Zugang zu einem selbst als glaubwürdig verstandenen Urtext genießt, seine Autorität dementsprechend doppelt konstruiert.
Uwe Walter, Bielefeld, wird diese Denkanstöße kommentieren und erweitern. Denn dem gewählten Beispiel zum Trotz soll es nicht allein um Thukydides und sein Nachleben gehen, sondern eine geschichtstheoretische, auch experimentelle Perspektive eingenommen werden.
Abstract (English version):
The category of ‚belief‘ is excluded from the self-definition of historians; the verifiable, or at the very least the plausible, preferably on the basis of a broad range of data, should distinguish work on the historical subject from a simple expression of informed opinion, from dilettantism.
But what about belief in authorities, or persons to whom credibility is attached, such as the reputation of a genius, the automatically believed reference work, or the most perceptive methodological school?
This question can be illustrated through the example of Thucydides: how is it possible to grant an ancient author such a degree of credibility that one can believe in him as an almost unquestionable authority? And this also raises the question: How much belief, or wish to believe, is contained in the persuasive power of a historical argument?
Christian Wendt, Berlin, explores the moment of belief or conviction in Thucydides himself, as the basis for questioning the construction of credibility in relation to the Athenian author.
Neville Morley, Bristol, gets to the bottom of the phenomenon whereby an author perceived as a model historian can attain in a quite different context an almost unchallenged authority, as in the case of the transfer of Thucydides from history to political and social science.
Liisi Keedus, York, deals with the reception of Thucydides by Leo Strauss, and problematizes the credibility of the interpreter, who enjoys special access to an original text understood as being itself credible, and thus doubly establishes his authority.
Uwe Walter, Bielefeld, will comment and expand on these ideas, since these issues concern not only Thucydides and his reception, but engage with a historical-theoretical, even experimental perspective.
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 11:00
Ort
HWF-221
Hauptgebäude Westflügel
MIT21SEP9:00- 12:00Geschichtsglauben/ Belief in History9:00 - 12:00 PHIL-C
Überblick
(Christoph Dartmann, Hamburg, Kaja Harter-Uibopuu,
Überblick
(Christoph Dartmann, Hamburg, Kaja Harter-Uibopuu, Hamburg)
Christoph Dartmann, Hamburg:
Einführung
Vinay Lal, Los Angeles:
World History and History in the World: Some Dissenting and Futurist Thoughts on Studying the Past
Kaja Harter-Uibopuu, Hamburg:
(Re-)Konstruktionen von Geschichte in der griechischen Polis
Christoph Marx, Duisburg-Essen:
Die Siedler von Ophir. Geschichtsmythen und Legitimationsideologien in Rhodesien (Zimbabwe)
Christoph Dartmann, Hamburg:
Politik und Wissenschaft während der Etablierung einer universitären Mittelalterhistorie
Angelika Schaser, Hamburg:
»Voraussetzunglose Geschichtswissenschaft« und »katholische Geschichtsschreibung« zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Achim Landwehr, Düsseldorf:
Kommentar
Zeit
(Mittwoch) 9:00 - 12:00
Ort
PHIL-C
Philosophenturm
Überblick
(Peter Haslinger, Marburg/Gießen, Christoph Schäfer, Trier) Podiumsdiskussion - Mareike König, Paris - Christoph Schäfer,Trier - Karoline Döring, Innsbruck - Joachim Berger, Mainz - Charlotte Jahnz, Bonn - Annalena Schmidt, Bautzen - Simone Lässig, Washington
Überblick
(Peter Haslinger, Marburg/Gießen, Christoph Schäfer, Trier)
Podiumsdiskussion
– Mareike König, Paris
– Christoph Schäfer,Trier
– Karoline Döring, Innsbruck
– Joachim Berger, Mainz
– Charlotte Jahnz, Bonn
– Annalena Schmidt, Bautzen
– Simone Lässig, Washington
Überblick
(Renate Dürr, Tübingen, Irene van
Überblick
(Renate Dürr, Tübingen, Irene van Renswoude, Den Haag/Utrecht)
Irene van Renswoude, Den Haag:
What Not to Read. Lists of »Suspicious« Books Before the Index (500–1500)
Carine van Rhijn, Utrecht:
»A Good Day to Move your Bees«. Early Medieval Prognostic Texts Between Fabula and Pastoral Care.
Martin Mulsow, Gotha:
Unter der Oberfläche der Gewissheit: »katholische« Lehre um 1700
Eric Jorink, Den Haag:
The Ark and the Temple. Visualizing Biblical Constructions in the Dutch Republic (17th century)
Renate Dürr, Tübingen:
War Noah ein Chinese? Heterodoxie im christlichen Universalismus jesuitischer Weltchroniken des 17. und 18. Jahrhunderts
Abstracts (scroll down for English version)
Angesichts der Rhetorik, mit der man nicht nur in der Vormoderne versucht hat, gesichertes Wissen von hypothetischem, Wahrheit von Betrug, Rechtgläubigkeit von Häresie zu unterscheiden, erscheinen sich Glaubensfragen schnell in der Gegenüberstellung von richtig oder falsch zu erschöpfen. Was als rechtgläubig zu gelten hat und worin gesichertes Wissen besteht, erscheint nach dieser Rhetorik eindeutig definierbar und damit klar abgrenzbar von Häresie oder Phantasterei. Folgt man dieser Rhetorik und fragt nach der jeweils anerkannten kodifizierten Wahrheit, dann reproduziert man zum einen die spezifische Lesart einer spezifischen Zeit und Gesellschaft, auch dann, wenn man sich für die jeweils andere Seite interessiert. Zum anderen impliziert diese Rhetorik von Gewissheit zumindest die Idee von ewiger oder grundsätzlicher Gültigkeit. Insofern verbindet sich mit dem Konzept von Orthodoxie gerade nicht die Frage nach deren gesellschaftlicher Konstruiertheit, nach den Prozessen von Adaptation und Überformung, nach Uneindeutigkeiten und dem Zusammenspiel mit dem, was jeweils für heterodox gehalten wurde. Wandel ist in Glaubensfragen eigentlich nicht vorgesehen. Wandel erscheint dann als Bruch mit alten Traditionen oder als wissenschaftliche Revolution, jedenfalls als etwas, das die Rhetorik der Gewissheit von außen erschütterte. Nicht nur in modernisierungstheoretisch angehauchten Erklärungsmodellen wird eine solche Rhetorik der Gewissheit für ein typisches Moment der Vormoderne gehalten.
Mit dem Konzept des „Wissens“ verbindet sich häufig ebenfalls nicht die Idee der Vorläufigkeit. Denn auch der Begriff „Wissen“ scheint als Gegenbegriff zu Glauben und Nicht-Wissen grundsätzliche Gültigkeit zu beanspruchen – jedenfalls aus Perspektive der jeweiligen Akteure. Dass dies stets eine Illusion darstellt, haben wissenssoziologische wie auch wissenshistorische Forschungen seit geraumer Zeit herausgestellt. Auch aus der Vormoderne gibt es Hinweise darauf, dass man sich der Vorläufigkeit des Wissens bewusst sein konnte. Zur Rhetorik der Gewissheit gehörte jedoch die Evokation einer klaren Gegenüberstellung von kodifiziertem und verworfenem Wissen. Dagegen interessieren wir uns für die Implikationen des „apokryphen“ Wissens, das trotz oder vielleicht sogar wegen ihres apokryphen Status rezipiert wurde. Was dies für die Konzeption von Wissen überhaupt bedeutet, wird in der neueren Wissenschafts-und Ideengeschichte manchmal unter Rückgriff auf den Begriff „prekäres Wissen“ diskutiert, den Martin Mulsow (2012) für bestimmte Wissensstränge und bestimmte Wissensträger in der Frühen Neuzeit geprägt hat, der allerdings vielleicht auch dazu dienen kann, „Wissen“ überhaupt „dynamisch“ zu fassen.
Irene van Renswoude, Den Haag:
Nicht lesen! Listen ‘verdächtiger’ Bücher vor dem Index (500-1500)
Lange vor dem Index verbotener Bücher (1559) zirkulierten Kataloge und Listen empfehlenswerter und abzulehnender Bücher. Was aber bedeuteten Klauseln wie ‚abzulehnen‘ oder ‚nicht aufzunehmen‘ in mittelalterlichen Buchlisten genau? Unterlagen solche Bücher, die als häretisch, apokryph oder auf andere Weise verdächtig klassifiziert wurden, tatsächlich einem Leseverbot? Sollten sie vernichtet werden? Oder wurde ihnen eher ein besonderer Status zugewiesen? Dieser Vortrag nimmt die Kommentare und Anmerkungen von Lesern an den Rändern abgelehnter Texte in den Fokus, um herauszufinden, wie die Vorschriften in präskriptiven Buchlisten bezüglich nicht zu lesender Bücher interpretiert und in die Praxis umgesetzt wurden. Tatsächlich, so die These des Vortrags, war der Übergang zwischen akzeptierter und abgelehnter Lektüre fließend und verhandelbar.
Carine van Rhijn, Utrech:
‚Ein guter Tag, um deine Bienen umzusiedeln‘. Frühmittelalterliche Prognostiken zwischen fabula und Seelsorge
Prognostische Texte, die beispielsweise dem Zyklus der Woche oder des Mondes folgen, um alltägliche Dinge wie die Ernte, die Bedeutung von Träumen, die Aussichten, eine Krankheit zu überleben, oder den Charakter eines Neugeborenen vorherzusagen, sind für die Zeitspanne von der ausgehenden Antike bis in die Frühe Neuzeit in beachtlicher Anzahl überliefert. Meist wurden sie als Texte interpretiert, die sich außerhalb der religiösen Sphäre im engeren Sinne bewegten, entweder als Volksglaube, Aberglaube, heidnisches Überbleibsel oder sogar Magie. Auf der Basis einer Fallstudie aus der karolingischen Zeit (8./9. Jhdt.) soll dagegen aufgezeigt werden, dass diese Texte vielmehr Teil der frühmittelalterlichen religiösen Kultur waren und ihnen eine wichtige Rolle in der Seelsorge spielen konnten, wenn sie sich in den ‚richtigen‘ Händen befanden. Das Beispiel einer Handschrift führt in die Welt ländlicher Laiengemeinschaften, in denen solche Texte eine Brücke zwischen den Idealen christlichen Verhaltens und den Anforderungen des alltäglichen Lebens bauen konnte, für die das Christentum keine konkrete Orientierung bot.
Martin Mulsow, Gotha:
Unter der Oberfläche der Gewissheit: „katholische“ Lehre um 1700
Unter „doctrina catholica“ verstand man im 17. Jhdt. nicht nur die römische Konfession, sondern konnte sich auch auf die noch „allumfassende“ Lehre der Kirchenväter vor dem Konzil von Nizäa beziehen. Die Autorität dieser Väter war ungebrochen – dennoch wurde ihre Logostheologie inzwischen heiß diskutiert. Es war umstritten, ob die subordinatianische Trinitätstheologie nur „noch nicht“ ganz orthodox, aber auf dem Wege dahin war, oder ob sie „nicht“ orthodox war und den Antitrinitariern in die Hände spielte. Eine Vermittlungsposition entwickelte der Engländer George Bull, und an ihm orientierte sich der preußische Theologe Johann Georg Wachter, der eine nie veröffentlichte „Theologia martyrum“ schrieb und die Logoslehre mit Spinoza und der Kabbala assoziierte. Was war Wachter nun? Ein Freidenker, der langsam katholisch wurde, oder ein patristisch gebildeter Theologe, der auf den Abweg des Spinozismus geriet? Dass Wachter seine „Theologia Martyrum“ nicht veröffentlichen konnte, zeigt, dass die Dynamik des Wissens ihn ins Prekäre geführt hatte.
Eric Jorink, Den Haag:
Die Arche und der Tempel. Visualisierungen biblischer Konstruktionen in der Niederländischen Republik (17. Jhdt.)
Frühneuzeitliche Gelehrte waren davon fasziniert, im Anschluss an frühe Bibelkommentare Gebäude und andere Konstruktionen auf der Basis der biblischen Berichte zu visualisieren – z.B. den Turm zu Babel. Oft aus religiösen Motiven begonnen, brachten diese Vorhaben erhebliche Schwierigkeiten mit sich, neben philologischen Details v.a. hinsichtlich der Einbindung mathematischer Berechnungen, neuer empirischer Befunde und Vernunftüberlegungen. Der Vortrag konzentriert sich auf Willem Goeree (1636-1711), einen zu seiner Zeit berühmten niederländischen Architekten, Theologen, Sammler und selbsternannten Gegner von Spinoza, Adriaan Koerbagh, Isaac Vossius und anderen Bibelkritikern. Er wollte von den künstlerischen Fantasien über biblische Geschichten wegkommen und stattdessen die Wahrheit des wörtlichen Schriftsinns belegen, indem er die relevanten Textstellen sowohl mit seiner eigenen orthodoxen Sichtweise als auch mit dem Wissen der Antike und der Völker des Orients in Einklang zu bringen suchte. Dennoch geriet er mit seinen Rekonstruktionen der Arche und des Tempels in gefährliche Nähe zu radikalen Bibelkritikern.
Renate Dürr, Tübingen:
War Noah ein Chinese? Heterodoxie im christlichen Universalismus jesuitischer Weltchroniken des 17. und 18. Jahrhunderts
Im Mittelpunkt des Vortrages soll eine Chronologie des Grazer Jesuiten Joseph Stöcklein stehen, die er im Jahre 1729 in dem von ihm herausgegebenen „Neuen Welt=Bott“ veröffentlicht hatte. Stöcklein war der erste, der die gestellte Frage, ob Noah ein Chinese war, klar mit „ja“ beantwortete, insofern er sämtliche alttestamentlichen Patriarchen mit chinesischen Kaisern aus der Frühzeit der Überlieferung gleichsetzte. Die Frage selbst lag allerdings spätestens seit der ersten lateinischen Geschichte Chinas von 1658 des Jesuiten Martino Martini in der Luft. Das Wissen um die Geschichte und Kultur in China (und Ägypten) forderte die europäischen Gelehrten darum nun schon seit Jahrzehnten heraus. Welche Methoden erlauben Gewissheit über das Alter von Kulturen, wurde gefragt? Wie ist Gewissheit über die unterschiedlichen Versionen der biblischen Geschichte zu erlangen? Und: Sind nicht vielleicht doch verschiedene Anfänge der Menschheitsgeschichte anzunehmen? Von grundsätzlicher Bedeutung waren all diese Fragen, weil mit diesem Wissen aus anderen Kontinenten die Idee des christlichen Universalismus, der konfessionsübergreifend die Vorstellung von Welt und Geschichte bis dahin prägte, zunehmend brüchiger wurde. Joseph Stöckleins Antwort auf diese Fragen liest sich nun als ein besonders eloquentes Plädoyer für diesen christlichen Universalismus – ein Universalismus allerdings, der sich unter der Hand als ein chinesischer entpuppt.
Abstracts (English version)
Rhetorics of Certainty – Dynamic Knowledge: Negotiating Faith and Certainty in Premodern Europe
Could statements in matters of knowledge only be either right or false? Premodern rhetorical attempts to define certain knowledge, truth, and orthodoxy and to distinguish them from fantasy, fraud, and heresy convey this impression. From a modern viewpoint, this concept of certainty, implying eternal and fundamental validity, is often considered to be characteristic of the premodern era. The concept of ‘orthodoxy’ is inherently incompatible with the notion of truth as a social construct. It leaves no room for processes of adaptation and transformation, for ambiguity or even interaction with what was regarded as heterodoxy. In matters of knowledge, to put it briefly, change seems impossible. It can only appear as a breach with tradition or scientific revolution, hence a blow from outside against the rhetoric of certainty.
Similarly, the concept of ‘knowledge’ does not convey the idea of something preliminary. As the opposite to belief and unknowing, ‘knowledge’ seems to claim fundamental validity, too, at least from the perspective of those involved. Research into the sociology and history of knowledge have revealed these claims as illusory. Nevertheless, the rhetoric of certainty involved the evocation of a clear juxtaposition of codified and rejected knowledge. But what were the implications of declaring certain knowledge as ‘apocryphal’, which was received despite or perhaps because of this status? And what did this categorization mean for the concept of knowledge in general? In 2012, Martin Mulsow has proposed the term ‘precarious knowledge’ for certain strands of knowledge and its protagonists in the early modern period. This panel intends to demonstrate that this term has the potential to interpret ‘knowledge’ as dynamic.
Irene van Renswoude, Den Haag:
What not to Read. Lists of ‘Suspicious’ Books before the Index (500-1500)
Catalogues and lists that prescribed which books were good to read and which ones should be rejected circulated long before the Index of Forbidden books (1559). But what did the clause ‘to be rejected’ or ‘not to be received’ in medieval book lists precisely imply? Were those books that were classified as heretical, apocryphal or otherwise suspicious, actually banned from being read? Were they meant to be destroyed? Or were they rather allotted a special status? This paper will discuss the comments and annotations of readers in the margins of rejected texts, to see how the regulations in prescriptive book lists on ‘what not to read’ were interpreted and put into practice. It will demonstrate that the line between acceptable and unacceptable reading was in fact fluid and open to discussion.
Carine van Rhijn, Utrecht:
‚A good day to move your bees‘. Early Medieval Prognostic Texts between Fabula and Pastoral Care.
Prognostic texts, which follow for instance the cycle of the week or the moon to ‚predict‘ every-day matters such as the harvest, the verity of dreams, the chances of surviving disease, or the character of a new-born child, survive in respectable quantities from Late Antiquity up into the Early Modern Period. Generally they have been interpreted as texts that move outside the realm of ‚real‘ religion, either as folk belief, as superstition, as pagan remnants or even as magic. This paper is a case study set in the Carolingian period (s.VIII/IX), in which I would like to argue that, quite to the contrary, these texts were part of early medieval religious culture, and that they played a role in pastoral care if in the hands of the right people. The case of one manuscript will take us to the world of rural, lay communities, in which these texts may have functioned as a bridge between ideals of good Christian behaviour and the many demands of daily life for which Christianity had no fitting format.
Martin Mulsow, Gotha:
Under the Surface of Certainty: ‘Catholic’ Doctrine around 1700
In the 17th century, ‘Doctrina catholica’ did not only mean the Catholic confession, but could also refer to the ‘all-encompassing’ teachings of the church fathers before the council of Nicaea. The authority of the church fathers remained unquestioned; their theology of ‘logos’, though, had by then become a matter of hot debates. Catholic theologians argued over whether the subordinatian version of trinitarian theology could be regarded as merely ‘not yet’ orthodox but on the way towards it, or whether it was in fact unorthodox and a played into the hands of the antitrinitarians. The Englishman George Bull developed a compromise, which had an influence on the Prussian Theologian Johann Georg Wachter, who in his unpublished ‘Theologia martyrum’ associated the teaching of ‘logos’ with Spinoza and the Cabbala. What do we make of Wachter? Was he a libertine who slowly turned into a Catholic, or a theologian well-versed in patristic teaching, who went astray into Spinozism? The fact that he refrained from publishing his ‘Theologia Martyrum’ shows that the dynamics of knowledge led him into precarious terrain.
Eric Jorink, Den Haag:
The Ark and the Temple. Visualizing Biblical Constructions in the Dutch Republic (17th Century)
Elaborating on the work of the early commentators of the Bible, early modern scholars were increasingly fascinated by visualizing buildings and constructions as described in the Bible, such as for example the tower of Babel. However, what often started as deeply religious enterprise, turned out to be fraught with difficulties, both with regard to philological detail as well as to mathematics, new empirical data and sound reason. I will focus on Willem Goeree (1636-1711) a little known, but then famous Dutch architect, theologian, collector and self-appointed enemy of Spinoza, Adriaan Koerbagh, Isaac Vossius and other biblical critics. Goeree wanted to get rid of artistic fancy concerning biblical stories and, instead, tried to demonstrate the truth of the literal reading. His aim was to make the surveying ground texts consistent with his own orthodox views as well as with his great knowledge of the ancient peoples and of the Middle East. However, his reconstruction of the Ark and the Temple brought him dangerously close to the radical biblical critics.
Renate Dürr, Tübingen:
Was Noah Chinese? Heterodoxy in the Christian Universalism of Jesuit World Chronicles of the 17th and 18th Centuries
This paper focuses on a chronological essay of the Jesuit Joseph Stöcklein from Graz, which he published in 1729 in his journal New World Messenger. Stöcklein was the first to answer the question as to whether Noah was Chinese with a clear yes, for he equated all Old Testament patriarchs with Chinese emperors from the earliest tradition. The question itself had been debated at least since the publication of the first history of China by Martino Martini in 1658; for decades, knowledge about the history and culture of China and Egypt had been a challenge to European scholars. Which methods offered certainty about the age of cultures? How could one make sense of the different versions of biblical history? And: Does one need to assume several origins of human history instead of one? Questions like these proved fundamental because the increasing input of knowledge from other continents threatened the concept of Christian universalism that had dominated notions of the world and of history across the confessions. Stöcklein’s answer seems to be a particularly eloquent plea for this Christian universalism –one which, as a by-product, also emerged as Chinese.
Überblick
(Robert Kretzschmar, Stuttgart/Tübingen, Rainer Hering,
Überblick
(Robert Kretzschmar, Stuttgart/Tübingen, Rainer Hering, Kiel)
Robert Kretzschmar, Stuttgart/Tübingen:
Einführung
Gerald Maier und Christina Wolf, Stuttgart:
Das Archivportal-D und die Deutsche Digitale Bibliothek. Neue übergreifende Recherchemöglichkeiten nach Quellen für die historische Forschung
Matthias Razum, Karlsruhe:
Tear down this wall – Offene Schnittstellen für die vernetzte Forschung
Michael Hollmann, Koblenz:
Angebote des Bundesarchivs im Netz
Stefan Kuppe, Udo Schäfer, Hamburg:
Das Transparenzportal Hamburg – Open Government Data als Angebot auch an die historische Forschung
Rainer Hering, Kiel:
Präsenz durch Publikationen. Open-Access-Publishing als Angebot der Archive
Rüdiger Hohls, Berlin:
Statement aus der Sicht der historischen Forschung
Abstracts (scroll down for English version)
Welche Angebote der Archive stehen heute der historischen Forschung im Netz zur Verfügung, um nach Archivgut zu recherchieren? Inwieweit sind Informationen zu Archivgut abrufbar und in welchem Umfang sind die Archivalien selbst digitalisiert? Welche Möglichkeiten bestehen für die Weiterverwendung der Daten und Digitalisate? Welche Strategien verfolgen die Archive bei der online-Stellung von Informationen zu Archivgut und Digitalisaten? Welche Anforderungen sollten dabei aus der Sicht der Forschung Beachtung finden? Diese Fragen stehen im Vordergrund der Sektion, die den Dialog zwischen den Archiven und der historischen Forschung fördern soll. Neben der reinen Information zielt die Sektion vorrangig auf eine wechselseitige Sensibilisierung für Bedarfe und Möglichkeiten.
Im September 2014 wurde das Archivportal-D innerhalb der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) freigeschaltet, das dazu eingerichtet ist, aus allen Archiven Deutschlands Informationen zu Archivgut zusammenzuführen und spartenübergreifend mit Metadaten und Digitalisaten anderer Kulturinstitutionen – insbesondere der Bibliotheken und Museen – zu vernetzen. Die Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder (KLA) hat 2015 ein Positionspapier verabschiedet, demzufolge sich das Archivportal-D zu d e m zentralen Nachweisinstrument für Archivgut in Deutschland und Nukleus einer in der nächsten Zeit konsequent auszugestaltenden Portallandschaft entwickeln soll. Was damit gemeint ist, wird in der Sektion erläutert. Auf dieser Grundlage werden sodann aktuelle Angebote des Bundesarchivs, des Staatsarchivs Hamburg und des online-Publishing vorgestellt.
Die Referate greifen ineinander und werden jeweils unmittelbar im Anschluss diskutiert. Das abschließende Statement erfolgt aus der Sicht der historischen Forschung und soll in eine umfassende Abschlussdiskussion einmünden.
Christina Wolf, Gerald Maier, Stuttgart:
Das Archivportal-D und die Deutsche Digitale Bibliothek. Neue übergreifende Recherchemöglichkeiten nach Quellen für die historische Forschung
Noch vor wenigen Jahren gestaltete sich die Recherche nach Archivgut im Internet als sehr mühsam: Meistens erforderte sie den Besuch individueller Webseiten einzelner Archive; die stellenweise vorhandenen gemeinsamen Angebote mehrerer Einrichtungen waren i.d.R. auf regionale oder themenspezifische Zugänge beschränkt. Die Handhabung der Recherchesysteme erwies sich zudem häufig als wenig intuitiv oder doch zumindest sehr heterogen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass wissenschaftliche Nutzer/innen, Fördergremien und die Archivwelt selbst schon seit den frühen 2000er Jahren die Entwicklung eines Archivportals auf nationaler Ebene erwarteten und forderten.
Dieses Vorhaben wurde ab Oktober 2012 mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und in enger Verbindung mit der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) verwirklicht: Das Archivportal-D (www.archivportal-d.de) steht seit Herbst 2014 für die öffentliche und kostenfreie Nutzung zur Verfügung. Damit existiert erstmals ein zentraler, deutschlandweiter Zugangspunkt zu archivischen Erschließungsleistungen und digitalisierten Archivalien. Das deutsche Archivportal bietet historisch Forschenden und allen Interessierten eine Plattform für die Recherche nach fachgerecht aufbereiteten Informationen zu deutschen Archiven, deren Beständen, Findmitteln und Archivgut. Es ist sowohl technisch als auch organisatorisch eng mit der spartenübergreifenden Deutschen Digitalen Bibliothek verknüpft, woraus sich Synergien und Vorteile für Anwender/innen ebenso wie für beteiligte Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen ergeben. Mit derzeit mehr als 11 Millionen Datensätze von über 80 Archiven und Adressangaben von über 600 Institutionen (Stand: Januar 2016) steht im Archivportal-D inzwischen eine wertvolle Datenbasis für Forschung und Wissenschaft bereit, die beständig erweitert wird.
Der Beitrag stellt zunächst die Genese und Zielsetzungen des Archivportals-D vor. Eingehend werden dann die Portaloberfläche und Recherchefunktionalitäten erläutert. Des Weiteren wird ein Ausblick auf die zukünftigen Herausforderungen und Entwicklungen im Bereich des Archivportals-D und der Deutschen Digitalen Bibliothek gegeben und dargestellt, wie sich beide Angebote in die Landschaft bestehender Online-Portale einfügen und welche Chancen die angestrebte enge Vernetzung eröffnet.
Matthias Razum, Karlsruhe:
Tear down this wall – Offene Schnittstellen für die vernetzte Forschung
Die tiefgreifende Transformation der Wissenschaft durch deren fortschreitende Digitalisierung betrifft auch die Geisteswissenschaften. Der sich etablierende Bereich der „Digital Humanities“ zeigt dies ebenso wie die verstärkte Orientierung von Gedächtniseinrichtungen hin zu Angeboten im Netz. Immer mehr Metadaten, Erschließungsinformationen wie z.B. Findbücher, aber auch Digitalisate sind online verfügbar. Dabei zeigt sich, dass die Stärke des Internets – nämlich die Verteilung – auch ihre Nachteile hat. Das Angebot stellt sich für Nutzende hochgradig fragmentiert dar. Wie kann also das Potenzial der verteilten Informationsinfrastrukturen für die Forschung nutzbar gemacht werden?
Gedächtniseinrichtungen haben (glücklicherweise) feste Häuser mit Mauern – im Digitalen aber sind Mauern als tragende Strukturelemente nicht mehr notwendig. Ganz im Gegenteil: hier verhindern sie den freien Fluss der Daten und damit auch, den vollen Nutzen aus den mit intellektuellem und finanziellen Aufwand erschlossenen und digitalisierten bzw. digitalen Quellen zu ziehen. Diese Daten können in vielfachen Nutzungskontexten relevant sein. Dem stehen aber Einrichtungen gegenüber, die aufgrund beschränkter Ressourcen nur Zugriffswege für wenige dieser Kontexte ermöglichen können, etwa in Form ihrer Zugangs- und Rechercheportale. Offene Schnittstellen erlauben es Dritten, weitere Nutzungskontexte zu eröffnen, etwa in Form von virtuellen Forschungsumgebungen. In diesen können Forschende Daten aus unterschiedlichsten Quellen zusammenführen, tiefer erschließen, miteinander in Beziehung setzen und publizieren. Zentrale Portale wie die Deutsche Digitale Bibliothek oder Archivportal-D ermöglichen eine übergreifende Vernetzung und Recherche der Daten und überwinden so die Mauern der vielen Einzelsysteme in einer verteilten Informationsinfrastruktur.
Die Vernetzung setzt aber einige Bedingungen voraus: die Daten müssen eindeutig und persistent identifiziert sein, sie müssen unter einer möglichst offenen Lizenz nutzbar, umfänglich mit Normdaten erschlossen und über dokumentierte und standardisierte Schnittstellen zugreifbar sein – etwa über Programmierschnittstellen (API: Application Programming Interface). Erst die konsequente Erfüllung dieser Bedingungen hebt den digitalen Schatz vollständig, der in den vielfältigen digitalen Angeboten der Gedächtnisorganisationen zu finden ist.
Matthias Razum ist Leiter des Teilbereichs eScience, IT, Development & Applied Research beim FIZ Karlsruhe – Leibniz Institut für Informationsinfrastruktur.
Michael Hollmann, Koblenz:
Angebote des Bundesarchivs im Netz
Seit Jahren ist das Bundesarchiv bemüht, seine Erschließungsdaten – soweit rechtlich möglich – über das Internet allgemein zugänglich zu machen. Nach der Freischaltung seiner Suchmaschine invenio und dem Aufbau der Basisfunktionen eines Digitalen Archivs wird das Bundesarchiv in der Zukunft bemüht sein, verstärkt auch digitalen Content über das Internet für die Online-Benutzung bereitzustellen. Da es seine Erschließungsdaten samt digitalem Content auch an das Archivportal D weitergibt, leistet das Bundesarchiv so gleichzeitig einen Beitrag zum Auf- und Ausbau vernetzter historischer Informationssysteme.
Aufbauend auf seinen bisherigen Erfahrungen wird das Bundesarchiv bei der Digitalisierung und Onlinepräsentation von Archivgut im Internet künftig doppelgleisig verfahren. Zum einen werden Digitalisate, die im Kontext konkreter Benutzungen on demand erstellt werden, künftig auch über das Internet allgemein und dauerhaft verfügbar gemacht. Auf diese Weise entsteht im Laufe der Zeit ein neuartiges Referenzsystem für die historische Forschung, das über die traditionellen Verweise auf die Fundorte archivischer Bezugsquellen hinaus diese Quellen selbst als Digitalisat verfügbar macht und so den fachlichen Diskurs befördert.
Daneben wird das Bundesarchiv sein Onlineangebot konzeptionell ausbauen. Den Einstieg in das umfassende Projekt der Online-Präsentation seines Archivguts nimmt das Bundesarchiv über ein Projekt mit dem Arbeitstitel „Deutschland in zwei Nachkriegszeiten“. Ziel wird es sein, Archivgut zu identifizieren, zu digitalisieren und online zu präsentieren, das – gleich ob es sich um Schriftgut, Fotos, Filme oder Töne handelt – für eine Vielzahl von Themen und Forschungsansätzen als Leitquelle relevant ist. Dabei sollen immer vollständige Akten oder sogar Aktengruppen digitalisiert werden, damit dem archivischen Kontext-Gebot entsprochen wird.
Von entscheidender Bedeutung wird es sein, Archivgut auszuwählen, das tatsächlich eine offene Auseinandersetzung und Deutung der Geschichte der Weimarer Republik bzw. der Nachkriegsgeschichte anregen soll und dessen Auswahl nicht bereits ein eigenes Narrativ enthält. „Weimar“ etwa soll nicht von vorneherein aus der Perspektive des Scheiterns dokumentiert werden, sondern als zwar immer gefährdeter, zumindest zeitweise aber durchaus erfolgversprechender Versuch der Errichtung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland erkennbar werden – die Zwischenkriegszeit soll als offen und gewissermaßen „in Fahrtrichtung“ nachvollzogen werden können.
Stefan Kuppe, Udo Schäfer, Hamburg:
Das Transparenzportal Hamburg – Open Government Data als Angebot auch an die historische Forschung
Das Hamburgische Transparenzgesetz (HmbTG) legt eine umfassende Veröffentlichungspflicht für Informationen des öffentlichen Sektors fest, durch die die Transparenz staatlichen Handelns und die demokratische Meinungs- und Willensbildung gefördert werden soll. Unter den Informationen, die unter Beachtung des Schutzes personenbezogener Daten öffentlich zugänglich gemacht werden, finden sich zum Beispiel Geodaten, Statistiken, Verträge und Beschlüsse des Senats. Der Zugriff erfolgt seit dem 1. Oktober 2014 über das Transparenzportal Hamburg. Der Fachliche Betrieb des Portals liegt in der Zuständigkeit der Fachlichen Leitstelle Transparenzportal Hamburg des Staatsarchivs.
Der Vortrag wird das Transparenzportal Hamburg in den verwaltungswissenschaftlichen Diskurs über Open Government Data einordnen und die Frage aufwerfen, ob nicht auch die historische Forschung als Adressat dieses Angebots in den Blick zu nehmen ist. Darüber hinaus wird er aus archivwissenschaftlicher Perspektive Aspekte erörtern, die von Seiten der Geschichtswissenschaften zu bedenken sind, wenn sie aus Aufzeichnungen Informationen erheben, die bisher nicht als Archivgut übernommen worden sind und deren Erhaltung auf Dauer die historische Forschung deshalb nicht voraussetzen darf.
Rainer Hering, Kiel:
Präsenz durch Publikationen. Open-Access-Publishing als Perspektive für Archive
Für Archive ist die Präsenz im Internet – wie für alle anderen gesellschaftlichen Institutionen – notwendig, um adäquat wahrgenommen zu werden. Neben Portalen bietet das Open-Access-Publizieren eine zusätzliche Möglichkeit, die Sichtbarkeit von Archiven durch eigene Publikationen zu vergrößern. Dabei werden Bücher zugleich als klassische, hochwertige Printpublikationen, aber auch als ansprechend aufbereitete Online-Publikationen, die kostenfrei im Internet zur Ansicht und zum Herunterladen angeboten werden, bereitgestellt. Ergänzungen und Neuauflagen können schnell und kostengünstig realisiert werden; durch das Print-on-Demand-Verfahren werden Lagerkosten gespart. Innovative Publikationsverfahren bieten zudem die Chance, das vielfältige archivische Spektrum von Text, Bild, Ton und Film geschickt zu verbinden.
Der Beitrag erläutert grundsätzlich das Open-Access-Publizieren und dessen Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung. Am Beispiel des Staatsarchivs Hamburg und des Landesarchivs Schleswig-Holstein wird dieses neue Publikationsmodell konkret vorgestellt, das die Vorteile von Internetpräsenz mit hoher weltweiter Sichtbarkeit und solider Buchveröffentlichung kombiniert.
Abstracts (English version)
Which services do archives offer historical researchers today to access their holdings on the internet? In what degree do they provide information on archival material and digitized documents? How can the data and digital facsimiles be further processed and reused? Which strategies do archives pursue when providing information online? Which requirements of researchers have to be considered? These are the main topics of this session that aims at promoting the dialogue between archivists and historical researchers. It’s objective is not only information sharing, but creating a mutual understanding for needs and opportunities.
The German Archives Portal, Archivportal-D, was launched in September 2014 and acts as the central platform for archival information in Germany. It gathers metadata and digital reproductions from all kinds of archives and links them with the content of other cultural heritage institutions, especially libraries and museums.
The purpose of Archivportal-D as the central access point to archival material within a growing network of cultural portals has also been outlined in a position paper published by the conference of heads of state archives in Germany in 2015. This will be described further in the session. The following talks will cover current services of the Bundesarchiv, the Staatsarchiv Hamburg and of online-publishing.
The interlocking presentations will be discussed subsequently. A concluding position statement from the angle of historical research will lead into a wide-ranging closing discussion.
Christina Wolf, Gerald Maier, Stuttgart:
Archivportal-D and Deutsche Digitale Bibliothek. New Comprehensive Services for Historical Research
Only a few years ago, the research for archival material on the internet proved to be very troublesome: Generally, users had to visit each and every archives’ website separately. Online search systems spanning more than one institution in this field were scarce, often limited to specific regions or topics and inconvenient. Knowing this, it is no surprise that more and more voices were raised that deemed a nationwide archives portal necessary.
This German Archives Portal, Archivportal-D, was finally realized thanks to funding by the German Research Foundation and a close connection with the German Digital Library (Deutsche Digitale Bibliothek). It is publicly and freely available since autumn 2014 and offers for the first time central and comprehensive access to records of all kinds of German archives. Researchers are able to find information on archival institutions, to look through finding aids provided by participating archives, to view search results and to study digital copies of archival records – all by browsing one single website.
Archivportal-D forms part of the Deutsche Digitale Bibliothek, the overall German Digital Library, and is embedded in its structure in terms of organization and technical background which guarantees sustainability beyond the project’s lifetime. At the same time, the interconnectedness creates positive outcomes for both users and cultural heritage institutions. With currently more than 11 million records from over 80 archives and address details of over 600 institutions (as of January 2016), Archivportal-D has already become a valuable information resource for research and science that is continually being extended.
The lecture will first introduce the beginnings and objectives of the German Archives Portal. The portal interface and search functionalities will then be presented in depth. After that, explanations on future challenges and developments in the field of Archivportal-D and Deutsche Digitale Bibliothek will follow. Finally, it will be shown which position both services take in the network of other online portals and what opportunities arise from the close cross-linkage.
Mathias Razum, Karlsruhe:
Tear Down This Wall – Open Interfaces for Networked Research
The profound transformation of research triggered by the progressing digitization affects both science and humanities. This is illustrated by the establishing field of Digital Humanities and the increase in web-based offerings by memory institutions. More and more metadata, indexing information like finding aids, and digitized materials are available online. It becomes apparent that the strength of the Internet – distributed resources – also has its downsides. For users, the offering turns out to be highly fragmented. Thus, the question is how to leverage the potential of distributed information infrastructures?
Memory institutions (fortunately) own buildings with sound walls – in the digitized world, however, walls are not needed any longer as supporting structures. Quite the opposite: walls block the free flow of data and thereby circumvent realising the full benefit of digitized materials that have been indexed with substantial intellectual and financial resources. This data may be relevant in multiple application contexts. Memory institutions with their typically limited resources can only address the most important application contexts, e.g. by means of search and dissemination portals. Open interfaces enable third parties to address the remaining application contexts, e.g. in the form of virtual research environments. These environments facilitate merging data from various sources, index it, create relations, and finally publish it. Central access portals like the German Digital Library (Deutsche Digitale Bibliothek) and the German Archives Portal (Archivportal-D) allow for comprehensive referrals and searches across the many data sources of a distributed information infrastructure, thus tearing down institutional walls.
The interconnectedness requires several preconditions to be met: all data is uniquely and persistently identified, it is reusable under an open license, authority data is used where appropriate, and the data is accessible via standardized and well-documented application programming interfaces. Only if all the preconditions are fulfilled, the true value of the digital treasure hidden in the manifold web-based offerings of memory institutions can be uncovered.
Michael Hollmann, Koblenz:
Content Offers on the Internet: The Federal Archives‘ Strategy
For the past years, the Federal Archives (Bundesarchiv) made considerable efforts to enable online access to all its description information – as far as legally possible. Following the launch of its research database “invenio” and the establishment of basic functionalities of a digital repository, the Federal Archives henceforth will also focus on the online presentation of ever more digital content. In addition to that, all description information and digital content is transmitted to the national archives portal (Archivportal-D). Thus the Federal Archives contributes to the creation and expansion of linked historical information systems.
Based on the experience gained so far, the Federal Archives will follow a double strategy of digitization and online presentation of archival material. First, documents digitized “on demand” – i.e. by order of users being interested in digital copies of specific sources – will also be presented on the internet and permanently made accessible. Thus, as time goes by, a new kind of reference system for historical research could be established: When in future not only locations and reference numbers of archival sources are indicated, but the sources themselves made available in digital form, discussions among professionals might well be fostered.
Furthermore, the Federal Archives is going to amend its web concept. A project preliminary titled “Germany in two post-war eras” (“Deutschland in zwei Nachkriegszeiten”) marks the starting point of the long process of significantly extending the amount of archival material presented online. The project aims at identifying, digitizing and presenting online archival material of high relevance for a number of topics and research approaches – no matter whether we talk about files, pictures, films or sounds. In order to be in line with the tradition of presenting archival sources within their context, files or record groups shall always be digitized as a whole.
A crucial point is the selection of archival material to be digitized. It is highly important to choose sources that stimulate an open research in and analysis of the history of the Weimar Republic and the years after 1945. The selection has to be made without any prejudgment – the Weimar Republic, for example, shall not be presented from the perspective of failure, but recognized as an – even if permanently threatened – at least partially successful attempt to establish a parliamentary democracy in Germany. The chosen sources shall thus help to understand the inter-war period “in the direction of travel”.
Stefan Kuppe, Udo Schäfer, Hamburg:
The Transparency Portal Hamburg – Open Government Data as an Offer as well for Historical Scientific Research
According to the Hamburg Transparency Law the public authorities of the Free and Hanseatic City of Hamburg are obliged to publish certain categories of public sector information in order to enhance transparency and democratic participation. The categories of public sector information which are made accessible within the limitations set up by the protection of privacy include geographic and statistical information as well as contracts and decisions of the senate. Since 2014, October 1 the access is provided via the Transparency Portal Hamburg. A special unit of the State Archives of the Federal State of Hamburg is responsible for the portal.
The presentation will connect the Transparency Portal Hamburg with the discourse concerning open government data within the administrative science and will raise up the question if the historical scientific research should be addressed as well by this offer. Besides the presentation will discuss several aspects from the perspective of archival science which should be taken into account by the historical sciences in case they make use of records which have so far not been transferred to public archives and whose preservation is therefore uncertain.
Rainer Hering, Kiel:
Open Access Publishing for Archives
Archives as any other organizations have to be visible in the internet. Besides their own websites one or more archival gateways as Archivportal D or Europeana are important to be visible in our modern world. Another opportunity is open access-publishing. Archives will be more visible if their publications are distributed in the classical way as printed books with high quality but as E-books or internet publications as well.
Open access means that the internet publications are free of charge. Open access publications are visible all over the world 24 hours a day. Revised editions are very fast and easy to be produced at a very low price. Especially finding aids or inventories could be published and revised very quickly. The paper books are published as prints on demand, so that there are no storage costs. Open access-publishing offers the opportunity to mingle different media in one publication, e.g. photos, sound- and film-sequences with are directly combined with the text. The paper will show the opportunities of open access-publishing which is practiced at the State Archives of Hamburg and Schleswig-Holstein.
Überblick
(Simone Lässig, Washington, Hedwig Röckelein,
Überblick
(Simone Lässig, Washington, Hedwig Röckelein, Göttingen, Kerstin von der Krone, Braunschweig)
Simone Lässig, Washington DC:
Einführung: Religion, Wissen und Resilienz: Zur Wandlungsfähigkeit sozialer Gruppen im Angesicht der Moderne
Kerstin von der Krone, Washington:
Alte und neue Wissensordnungen in der deutsch-jüdischen Geschichte
Anthony Steinhoff, Montreal:
Religiöses Wissen im Grenzland: Religionsunterricht und akademische Theologie in Elsaß-Lothringen, 1870–1914
Jana Tschurenev, Göttingen:
Religion und Sozialreform im kolonialen Indien: Anti-Kasten-Bewegung, Feminismus und und die Kritik des »Hinduismus«
Esther Möller, Mainz:
Transnationale Dimensionen religiösen und kulturellen Wissens im spätkolonialen Nahen Osten
Hedwig Röckelein, Göttingen:
Wissensordnungen und Religion. Ein Kommentar aus der Perspektive der Vormoderne
Abstracts (scroll down for English version)
Die Sektion untersucht anhand verschiedener religiöser Gruppen, Regionen und Epochen religiöses Wissen als Referenzebene für die Auseinandersetzung mit der Transformation sozialer und kultureller Ordnungen an der Schwelle zur Moderne. Die Vorträge beschäftigen sich mit dem Wandel religiöser Semantiken und Praktiken und der Bedeutung von Vertrautem für die Auseinandersetzung mit und Akzeptanz von gesellschaftlichen Umbrüchen. Dabei geht die Sektion der Frage nach, ob und wie Religion bzw. die Anrufung religiöser Traditionen für unterschiedliche soziale Gruppen zur Resillienzressource wurde und inwieweit hierdurch die Produktion neuen sozialen Wissens begünstigte wurde. Damit einher geht die Frage, ob Religion und religiöses Wissen nicht zugleich zum Ausgangspunkt sozialer Innovation wurden.
Diese und ähnliche Fragen hat die Geschichtswissenschaft unter dem Diktum der Säkularisierungsthese lange vernachlässigt. Mit der Hinwendung zu einer Kulturgeschichte von Religion bzw. Religiosität und einer auf ‚Gesellschaft’ gerichteten Geschichte des Wissens hat sich das Forschungsinteresse deutlich erweitert. Es geht nicht mehr nur um die Beharrungskraft, sondern auch um die Wandlungsfähigkeit und Erneuerungspotenziale des Religiösen in der Moderne.
Für die Formierung religiösen Wissens in der Moderne sind zwei Momente wesentlich: Erstens der Wandel der Stellung von Religion und religiösen Autoritäten zu Staat und Gesellschaft, aus dem weitreichende Individualisierungs-, Differenzierungs- und Pluralisierungsprozessen folgten. Zweitens die Herausbildung neuer Wissensordnungen, bedingt durch Universalisierung und Systematisierung, Rationalität und Kritik. Hierauf gründen die moderne Wissenschaft und ein gänzlich neues Verständnis von Erziehung und Bildung. Nicht von ungefähr wurde das Erziehungs- und Bildungswesen in Europa wie in seinen Kolonien bzw. kolonial geprägten Regionen zum zentralen Handlungs- und Verhandlungsfeld gesellschaftlicher Transformation.
Simone Lässig, Washington DC:
Religion, Wissen und Resilienz: Zur Wandlungsfähigkeit sozialer Gruppen im Angesicht der Moderne
In ihrer Einführung zur Sektion erörtert Simone Lässig das Erkenntnispotenzial, das aus der Verschränkung historischer Forschung zu Religion und Religiosität mit wissens- und bildungsgeschichtlichen Fragenstellungen erwächst. Dabei wird die Frage diskutiert, wie religiöse Gruppen auf den tiefgreifen Wandel von sozialen Strukturen, Wissensordnungen und kulturellen Praktiken reagierten, wie sie diesen zu gestalten versuchten, und welche Rolle der Rückgriff auf vermeintlich vertraute religiöse Traditions- und Wissensbestände als Resilienzressource und Innovationspotenzial für soziale Gruppen in Transformationsprozessen spielte.
Kerstin von der Krone, Washington:
Alte und neue Wissensordnungen in der deutsch-jüdischen Geschichte
Kerstin von der Krone widmet sich dem deutschsprachigen Judentum der „Sattelzeit“; einer Periode, in der sich vor dem Hintergrund eines umfassenden und nahezu alle Lebensbereiche betreffenden sozio-kulturellen Wandels auch die strukturellen und konzeptionellen Fundamente jüdischer Erziehung und Gelehrsamkeit durchgreifend änderten. Die Erneuerung bestehender und Schaffung neuer Institutionen des Lehrens und Lernen, die Adaption moderner Lehrmethoden, die Integration neuer, dem Judentum letztlich fremder Lehrinhalte und die Auseinandersetzung mit nicht-religiösen Denk- und Deutungskategorien bedingten eine Differenzierung und Pluralisierung religiöser Wissensordnungen. Hierzu zählte nicht nur ein grundlegender Wandel der Methoden und Strukturen jüdischer Gelehrsamkeit und eine Professionalisierung der Rabbinerausbildung, sondern auch die Herausbildung einer in inhaltlicher wie formeller Hinsicht neuartigen religiösen Erziehung, einschließlich der Etablierung eines modernen jüdischen Religionsunterrichts. Dieser erfolgte sowohl in reformierten jüdischen Schulen, die ein umfassendes, um neue Lehrinhalte erweitertes Unterrichtsprogramm offerierten als auch in ergänzenden Religionsschulen, welche jene jüdischen Kinder erreichen sollten, die in zunehmende Maße öffentliche, d.h. christliche Schulen und dort keinen jüdischen Religionsunterricht erhielten. Die Vermittlung religiösen Wissens —in Schule, Gemeinde und Familie — erfuhr vor diesem Hintergrund grundlegende Veränderungen und war zugleich untrennbar verbunden mit den vielfältigen, oft widerstreitenden Versuchen der Re-Definition des Judentums in der Moderne. Der Vortrag daher im Besonderen der Frage nachgehen, inwieweit die religiös-kulturellen ‚Traditionen’ des Judentums zur Referenzebene für die Formierung neuartiger ‚jüdischer’ Wissensordnungen wurden.
Anthony Steinhoff, Montreal:
Religiöses Wissen im Grenzland: Religionsunterricht und akademische Theologie in Elsaß-Lothringen, 1870-1914
Neuere Forschungen zu den europäischen Kulturkämpfen des späten 19. Jahrhunderts haben zu Recht die Bedeutung des Schulwesens hervorgehoben. Diese Forschungen befassen sich dabei zunächst mit der Frage, welche Zweck Schule dienen sollte, Christen oder Staatsbürger hervorzubringen. Zugleich wird betont, dass liberale und antiklerikale Kräfte in ihrer Forderung nach einem staatlichen Schulwesen und der Beschneidung kirchlicher Vorrechte, die Relevanz des schulischen Religionsunterrichts und religiös fundierten Wissens in der Moderne in Frage stellten.
Diese Perspektive lässt zwei zentrale Dimensionen der sozio-kulturellen Landschaft Europas des 19. Jahrhunderts außen vor: Erstens, wird die Bedeutung von Religion im Allgemeinen wie für die Wissensproduktion im späten 19. Jahrhundert unterschätzt, vor allem in Bezug auf das „protestantische“ Deutschland und Großbritannien. Zweitens wird übersehen, wie sehr religiöse Gemeinschaften mittels des Schulwesens Glaubensinhalte vermittelten und „religiöses Wissens“ verbreiteten.
Ausgehend hiervon beleuchtet der Vortrag die Entwicklung in Elsass-Lothringen nach Angliederung an das Deutsche Reich im Jahre 1871 und die hierauf folgende Reform des schulischen Religionsunterrichts und die Neustrukturierung der Protestantischen Theologie an der Universität Straßburg. In Folge dessen sahen sich Katholiken, Protestanten und Juden mit einem Wandel religiöser Wissensbestände konfrontiert, der neue Vorstellungen vom Verhältnis von Glaube und Wissen hervorbrachte. Der deutsche Staat propagierte eine Modernisierung (Germanisierung) und erkannte doch die Bedeutung von Religion und religiösem Wissen im Rahmen seiner Bildungspolitik an. Die Religionsgemeinschaften betrauerten wiederum den Verlust an Vorrechten im Bildungswesen und waren doch in der Lage, schulische Bildung und die Formierung religiöser Identität weiterhin zu verknüpfen, teils auch indem sie selbst eine Modernisierung von Curricula vorantrieben, wie etwa die Protestanten.
Jana Tschurenev, Göttingen:
Religion und Sozialreform im kolonialen Indien: Anti-Kasten-Bewegung, Feminismus und die Kritik des „Hinduismus“
Jana Tschurenev untersucht das Verhältnis von religiöser Identitätsbildung und individueller Konversion mit sozialpolitischen Auseinandersetzungen im kolonialen Indien. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es zu eine Neukonstitution des „Hinduismus“, gewissermaßen nach christlich-protestantischem Vorbild und schließlich zu verschiedene Versuchen, sich als eine der „Weltreligionen“ international zu positionieren. Gleichzeitig formieren sich Gegenbewegungen, die vor dem Hintergrund liberaler politischer Ideen brahmanische Ordnungsvorstellungen – oft zusammengefasst als varnashrama dharma – ablehnten. KritikerInnen bestehender Kasten- und Geschlechterhierarchien forderten dabei nicht nur das Ende männlich-brahmanischer Bildungsprivilegien: auch Frauen und „niedrigkastige“ Shudras und „Unberührbare“ sollten den Sanskrit-Kanon studieren dürfen und Zugang zu moderner Bildung erhalten. Wie der Beitrag zeigen wird, kam Auseinandersetzungen um religiöse Ideen und Identitäten dabei eine zentrale Bedeutung zu. Während Jotirao Phule, prominenter Vertreter der Anti-Kasten Bewegung, den „Brahmanismus“ ablehnte und ein strategisches Verhältnis zur Frage religiöser Zugehörigkeit vorschlug, konvertierte die international bekannte Bildungsaktivistin und Sozialreformerin Pandita Ramabai zum Christentum, ohne jedoch ihre Identität als „Inderin“ und Vertreterin einer hochkastigen Sanskrit-Kultur aufzugeben. Der Beitrag wird solchen komplexen Verortungstrategien und den sozialpolitischen Konflikten, in denen diese stattfanden, nachgehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so wird gezeigt, spitzten sich die Auseinandersetzungen zu: die Ablehnung konservativer Hindu-Normen wurde zum Verrat an der sich formierenden Nation. Gleichzeitig nahmen sowohl KritikerInnen als auch VertreterInnen des „Hinduismus“ bzw. der Hindu-Gesellschaft zunehmend auf die entstehende Weltöffentlichkeit Bezug.
Hedwig Röckelein, Göttingen:
Wissensordnungen und Religion aus der Sicht der Moderne und der Vormoderne: ein Kommentar
Der Kommentar von Hedwig Röckelein wird erstens die Vorträge auf dem Hintergrund der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit Religion im Europa des 19. Jahrhunderts historisieren; zweitens sich mit der Zurückweisung des Modernisierungs- und Säkularisierungsparadigmas für die Moderne in Bezug auf Religion und das Religiöse auseinandersetzen und drittens das Verhältnis von Religion und Wissen, Bildung und Erziehung zu Staat und Gesellschaft aus dem Blickwinkel vormoderner europäischer und mediterraner Gesellschaften als Kontrastfolie für die Entwicklungen im 19. Jahrhundert beleuchten.
Abstracts (English version)
Simone Lässig, Washington, DC:
Religion, Knowledge, and Resilience: On the Ability of Social Groups to Change in the Face of Modernity
In her introduction to the session, Simone Lässig will discuss the potential gains in understanding through the intersection of the history of knowledge and education with the history of religion and religiosity. She will take up the question of how religious groups react to and try to shape fundamental changes in social structures, knowledge orders, and cultural practices. She will also consider recourse to familiar religious knowledge and traditions as a source of resilience and as a basis for innovation for groups experiencing social change.
Kerstin von der Krone, Braunschweig:
Old and New Knowledge Orders in German-Jewish History
Kerstin von der Krone will focus on German-speaking Jews during the Sattelzeit, the period of transition from the premodern to modern eras (c. 1750–1850). During this period, against the background of social change extending to almost every facet of life, Jewish education and ideas of learning underwent fundamental conceptual and structural change. The updating of existing institutions of learning and the creation of new institutions, the adaptation of modern teaching methods, the integration of new subject matter that was alien to Jewry, and the coming to terms with non-religious thought and categories of thought shaped a differentiation and pluralization of the religious knowledge order. This change was not limited to a fundamental change in the methods and structures of Jewish learning and the professionalization of rabbinical training. It also entailed the creation of a new approach to Jewish religious education that was modern both in form and content. The transmission of religious knowledge – in the school, in the congregation, and in the family – underwent fundamental change and was inextricably bound up with attempts to redefine Judaism in the modern era. The paper will thus give particular attention to the question of how far Jewish religious tradition served as a point of reference in the formation of a new Jewish order of knowledge.
Anthony Steinhoff, Montreal:
Religious Knowledge on the Imperial Frontier: Religious Education and Academic Theology in Alsace-Lorraine, 1870-1914
Recent research on the late nineteenth-century European culture wars has underscored the centrality of schools and schooling in these conflicts. Yet, it also tends to frame the basic question in these debates as follows: should the modern school serve to form Christians or citizens? Namely, while liberals and anticlericals claimed schooling as a central state concern, rather than an ecclesiastical prerogative, they also challenged the place of religious education in school curricula and the contemporary relevance of religious-based knowledge.
This paper suggests that this perspective obscures critical dimensions of late nineteenth-century Europe’s socio-cultural landscape. It underestimates religion’s important and ongoing contributions to knowledge production, especially in “Protestant” Germany and Great Britain. It also overlooks the high degree to which religious communities continued to rely on schools and schooling to promote faith and the dissemination of religious knowledge.
Specifically, the paper explores the debates over the Alsatian primary and secondary schools’ religious education programs as well as the restructuring of the University of Strasbourg’s program in Protestant theology following Alsace-Lorraine’s incorporation in to the German Empire. As the local Catholic, Protestant and Jewish communities quickly understood, these developments altered how religious knowledge was produced and prompted new ideas about the relationship between faith and knowledge. The German state certainly promoted a modernizing and Germanizing agenda there; nevertheless, its educational policies admitted religion’s and religious knowledge’s importance. Likewise, while the Alsatian Catholic, Protestant and Jewish communities bemoaned their reduced influence over education, they continued to link schooling to religious identity formation. Alsatian Protestants even sought to enhance these ties by promoting curricular modernization in the schools and at the university.
Jana Tschurenev, Göttingen:
Religion and Social Reform in Colonial India: The Anti-Caste Movement, Feminism, and the Critique of „Hinduism“
Jana Tschurenev will examine the relationship between religious identity and socio-political engagement in colonial India. Over the course of the nineteenth century, “Hinduism“ underwent a profound reconstitution, seeking to position itself internationally as a “world religion“patterned on the model of Protestant Christianity At the same time, several counter-movements arose, which, influenced by liberal political ideas, rejected the Brahmanical, or high-caste, conceptions of social order commonly referred to as varnashrama dharma. Critics of existing caste and gender hierarchies demanded the opening up of education – in both the Sanskrit canon and in modern subjects – to women, “lower caste“ Shudras, and “untouchables.“ In the process, as the paper will show, the engagement with religious ideas and identities took on central importance. Whereas Jotirao Phule, a prominent figure in the anti-caste movement, rejected “Brahmanism“ and proposed a strategic position on the issue of religious identity, Pandita Ramabai, an internationally renowned activist for educational and social reform, converted to Christianity but without abandoning her identity as an “Indian“ grounded in high-caste Sanskrit culture. The paper will examine these complex positioning strategies and the socio-political conflicts in which they were employed. Toward the end of the nineteenth century, the situation became more heated: the rejection of conservative Hindu norms was taken as a form of treason to the nation that was taking shape. Such accusations of collaboration with the imperial project still frame the confrontation of Hindu nationalism and oppositional, particularly Dalit and feminist movements, until today.
Esther Möller, Mainz:
Transnational Dimensions of Religious and Cultural Knowledge in the Late Colonial Middle East
Esther Möller’s paper will explore the transnational dimensions of religious and colonial knowledge in the Middle East. She will analyze the educational institutions the French established in Lebanon while it was a part of the Syrian province of the Ottoman Empire and, in turn, after it had been made a French mandate by the League of Nations. In addition to Catholic schools, the French also opened Protestant, Jewish, and secular educational institutions. Many Lebanese families made use of French-founded schools. Although widely praised, French schools also came under criticism from the local population. Through the schools, distinct transnational communities of knowledge came into being in which the issue of religious knowledge played an important role. There was considerable agreement and reciprocal exchange on religious values between Lebanese Christians and French Christian schools. Muslim students attending French Christian and secular schools and their parents, on the other hand, were of widely varying opinions on the religious knowledge transmitted in those institutions. With the strengthening of colonial structures during the mandate period, these interconnections were transformed, leading to new practices by schools in disseminating religious knowledge – precisely at the time that negotiations on Lebanese independence were underway. Esther Möller’s paper examines the potential benefits and risks of those new practices. The special Franco-Lebanese relationship will be considered in connection with the (post-) colonial educational situation in other Middle Eastern countries.
Hedwig Röckelein, Göttingen:
Knowledge Orders and Religion, Modern and Premodern: A Commentary
Hedwig Röckelein’s commentary will, first, set the papers in the historical context of the intellectual and political engagement with religion in Europe during the nineteenth century. Second, it will consider the rejection of the modernization and secularization paradigms in regard to religion and religiosity in the modern era. Third, it will cast light on the relationship of religion, knowledge, and education to state and society by setting conditions in premodern European and Mediterranean societies in contrast to developments in the nineteenth century.
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
PHIL-G
Philosophenturm
Überblick
(Daniel Föller, Frankfurt/M., Ulla Kypta,
Überblick
(Daniel Föller, Frankfurt/M., Ulla Kypta, Basel, Silke Schwandt, Bielefeld, Benjamin Steiner, Erfurt)
Silke Schwandt, Bielefeld:
Einleitung
Daniel Föller, Frankfurt am Main:
Radikaler Bruch oder gradueller Wandel: Transformationsnarrative über das Ende des Römischen Reichs
Ulla Kypta, Basel:
Empirie und Kausalität: Transformationsnarrative über die Pest 1347–1353.
Benjamin Steiner, Erfurt:
Kontinuität oder struktureller Umbruch: Transformationsnarrative über den Englischen Bürgerkrieg
Hartmut Leppin, Frankfurt am Main:
Schlusskommentar
Zeit
(Mittwoch) 15:15 - 18:00
Ort
H-Hörsaal J
Hauptgebäude
Überblick
(Johannes Hahn, Münster, Sabine Ullmann,
Überblick
(Johannes Hahn, Münster, Sabine Ullmann, Eichstätt)
Sabine Ullmann, Eichstätt:
Einleitung
Johannes Hahn, Münster:
‚Wo steht der Feind?‘ Konversion(en), anti-jüdischer Diskurs und der Zusammenbruch des ‚market place‘ der Religionen im 4. Jahrhundert n. Chr.
Wolfram Drews, Münster:
Die Kontroverse zwischen dem Proselyten Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus von Córdoba: Ein jüdisch-christlicher Disput über die Glaubwürdigkeit von Konversionen im umayyadischen Spanien des 9. Jahrhunderts
Yosef Kaplan, Jerusalem:
Converts or Returnees to the Bosom of Judaism? How the Western Sephardic Diaspora Dealt with Marranos who Adopted the Jewish Faith
Thomas Kaufmann, Göttingen:
Proselytenmacherei‘ als antijüdisches Narrativ. Beobachtungen zur Reformationszeit
Christine Magin, Greifswald:
Schlusskommentar und Moderation
Die jüdisch-christliche Geschichte im vormodernen Europa ist von einer Dialektik zwischen Polemiken und Konfrontationen einerseits sowie gegenseitigen Anleihen und Einflussnahmen andererseits geprägt, die sich in lokal bzw. regional spezifischen Kontakt- und Konfliktzonen realisierten. Daraus erwuchsen religiös-kultische Annäherungen, Missionsbemühungen bzw. -konkurrenzen bis hin zu Konversionen. Während meist die freiwilligen wie unfreiwilligen Wege vom Judentum zum Christentum fokussiert werden, stellen dagegen die Teilnehmer dieser Sektion den umgekehrten Weg in den Mittelpunkt und fragen nach der historischen Faktizität und Narrativität eines jüdischen Proselytismus. Welche explizite wie implizite Anziehungskraft entwickelte die jüdische Religion in verschiedenen räumlichen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten vor dem Beginn der Moderne? Wann galt eine Konversion zum Judentum den Zeitgenossen als glaubwürdig und wie wurde die (neue) religiöse Identität wahrgenommen? In welcher Weise wurde ein möglicher Religionswechsel Gegenstand antijüdischer Propaganda und damit Teil eines kontroversen interreligiösen Diskurses?
Das Thema wird in einer epochenübergreifenden Perspektive von der Spätantike (Johannes Hahn) bis in das 17. Jahrhundert hinein (Yosef Kaplan) behandelt und umspannt damit den Zeitraum vom Aufstieg des Christentums zu einer Mehrheitsreligion bis an die Schwelle der in Europa einsetzenden Aufklärungsbewegung, die den Religionen einen anderen sozialen Ort zuwies. Der geographische Rahmen reicht von der östlichen Mittelmeerregion und Nordafrika über das muslimische Spanien (Wolfram Drews) bis zum frühneuzeitlichen Reich (Thomas Kaufmann). Obwohl die christlich-jüdische Kontroverse dabei als Leitfaden dient, liegt der Fokus nicht nur auf der Anziehungskraft, die das Judentum in christlichen Gesellschaften ausüben konnte, sondern berücksichtigt wird auch die Bedeutung dieser religiösen Auseinandersetzung in pagan geprägten Gesellschaften der Spätantike sowie in islamischen Herrschaftsgebieten.
Abstract (English version):
Jewish-Christian history in pre-modern Europe is marked by polemical and antagonistic dialectic on the one hand, and by mutual borrowing and influence on the other, which took place in local and regional contact and conflict zones. Originating from that are forms of religious-cultic rapprochement and missionary effort or competition, as well as conversions. Voluntary and compulsory transitions from Judaism to Christianity have often been analyzed. The panel, however, intends to focus on the reverse process and will investigate the historical reality and literary discourse of Jewish proselytism.
Which explicit and implicit forces of attraction did the Jewish religion develop in different regional contexts and at different times in the pre-modern period? When was conversion to Judaism seen as credible by contemporaries and how was the (new) religious identity perceived? And in what ways did the possibility of changing one’s religion become an issue of anti-Jewish propaganda and thus part of interreligious controversy?
The topic will be dealt with across epochs, from late antiquity (Johannes Hahn) to the 17th century (Yosef Kaplan). Thus it covers the time span from the rise of Christianity as a majority religion to the beginning of the Enlightenment in Europe, when religions came to be allocated a different social place. Geographically, the discussion encompasses the Eastern Mediterranean and North Africa, Muslim Spain (Wolfram Drews) and the early modern German Empire (Thomas Kaufmann). Although the panel concentrates on Christian-Jewish controversy, emphasis is not placed solely on the attraction that Judaism had in Christian societies. Similar consideration is given to the importance of this religious conflict in the pagan societies of late antiquity and in territories dominated by Islam.
Zeit
(Donnerstag) 11:15 - 13:15
Ort
H-Hörsaal J
Hauptgebäude
Überblick
(Harriet Rudolph, Regensburg) Harriet Rudolph, Regensburg: Viktimisierung
Überblick
(Harriet Rudolph, Regensburg)
Harriet Rudolph, Regensburg:
Viktimisierung als interdisziplinäres Forschungskonzept
Norman Housley, Leicester:
Opfer der Gewalt als politisches Argument im spätmittelalterlichen Kreuzzugsdiskurs
Margit Kern, Hamburg:
Entangled Histories. Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
Joanna Simonow, Zürich:
Die mediale Inszenierung indischer Hungersnotleidender in politischen und humanitären Diskursen der 1940er Jahre
Ger Duijzings, Regensburg:
Viktimisierung im Kontext der militärischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien im 20. Jahrhundert
Abstracts (scroll down for English version):
Harriet Rudolph, Regensburg:
Viktimisierung als interdisziplinäres Forschungskonzept
In den medialen Diskursen der Gegenwart sind Opfernarrative und Opferbilder allgegenwärtig: Opfer von Krieg, Hunger, Terror, Kriminalität, sozialer Diskriminierung, politischer und religiöser Verfolgung prägen die Berichterstattung in starkem Maße. Sie können als Elemente von Prozessen der Fremd- und Selbstzuschreibung begriffen werden, die mit Blick auf ihre Eigendynamik, ihre Entstehungskontexte und ihre Rückbezüge auf tradierte Opferimaginationen (sacrificium/victima) bislang unzureichend untersucht worden sind. Im Gegensatz zum Begriff „Opfer“ betont das Konzept der Viktimisierung das Prozesshafte der Vorgänge, durch die Opferschaft im Empfinden der Betroffenen selbst, aber auch von Institutionen und Öffentlichkeit hergestellt wird. Entscheidend für die Analyse von Viktimisierung ist damit weniger ein dem Opfersein – tatsächlich oder vermeintlich – zugrundeliegender Akt der Gewalt als vielmehr dessen Deutung durch die geschädigten Individuen und deren Umwelt. Der Beitrag plädiert zudem dafür, den Opferbegriff im Rahmen der Analyse von Viktimisierungsprozessen seiner aktuell stark moralisierenden Bedeutungsdimensionen zu entledigen: Opfer sind weder per se unschuldig, ohnmächtig, bedauernswert, moralisch überlegen oder benachteiligt. Historiker und Historikerinnen können nicht das Opfersein als eine existentielle, als solche kaum historisierbare Erfahrung untersuchen. Sie können jedoch histories of victimhood (Jensen/Ronsbo 2014) im Sinne des Sprechens über, des Erinnerns an und des sozialen Aushandelns von Opfervorstellungen innerhalb einer oder auch zwischen Generationen, Gesellschaften und Kulturen erarbeiten und dabei gängige Deutungsmuster wie die „Säkularisierung/Resakralisierung“ oder „Nationalisierung/ Globalisierung“ des Opfers in der Neuzeit hinterfragen. Sie können die politics of victimhood (Jeffery/Candea 2006), verstanden als in bestimmten Kontexten präferierte Handlungsmuster politischer Eliten im Umgang mit Opferschaft, analysieren und dies ohne Rücksicht auf politisch gewünschte Deutungen.
Norman Housley, Leicester:
Opfer der Gewalt als politisches Argument im spätmittelalterlichen Kreuzzugsdiskurs
Seit dem ersten Kreuzzug waren die Brutalität der Feinde Christi, und das Leid, das diese über unschuldige Menschen brachten, Themen von zentraler Bedeutung in den Kreuzzugspredigten. Sie harmonierten nicht nur perfekt mit der auf das Martyrium Christie bezogenen Andacht, welche die crucesignati motivieren sollte, sondern auch mit den Werten der christlichen Nächstenliebe sowie mit der feudalen Lehensverpflichtung als weiteren Predigtinhalten, mit welchen die Kreuzzugsprediger erfolgreich auf die Vorstellungskraft einer kämpfenden Elite Europas einwirkten. Das Opfertum, und die hochgradig emotionalen Reaktionen, welche seine Darstellung in Bild und Text bei den Rezipienten zeitigen konnte, förderten nicht nur die Bereitschaft zum Selbstopfer, sondern auch zu Vergeltung und Blutvergießen. Im 15. Jahrhundert war die Bevölkerung Europas keineswegs immun gegenüber solcher Rhetorik der Gewalt. Wie schon ihre Vorfahren konnte auch sie durch anschauliche Berichte über grausame Gewalttaten zu Zorn und Trauer bewegt werden, auch wenn ihre Reaktion auf solche Nachrichten nun meist in Geldspenden und nicht mehr in einer persönlichen Dienstverpflichtung bestand. Dabei waren es vor allem drei Gruppen, die man als Feinde des Glaubensbegriff. Die wichtigste Gruppe verkörperten die osmanischen Türken, deren sprichwörtliche und systematische Grausamkeit eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Türkenbildes in Zentral- und Osteuropa spielte. Zweitens wurden die in das Deutschordensgebiet einfallenden Russen durch Vertreter dieses Ordens als nicht weniger brutal dargestellt. Und schließlich wurde das durch die hussitischen „Häretiker“ verursachte Leid der böhmischen und deutschen Katholiken in Texten und Bildern dargestellt, welche den Versuch einer gewaltsamen Unterdrückung der Hussiten durch die Kirche zwischen 1420 und 1431 legitimieren sollte. Das Fortwirken der Kreuzzugsidee im 15. Jahrhundert führte im frühneuzeitlichen Europa zu einem wirkmächtigen Vermächtnis von Opferschaft, auch wenn dessen Bedeutungsgehalte vielfältiger waren als jene früherer Kreuzzüge.
Margit Kern, Hamburg:
Entangled Histories. Transkulturelle Imaginationen des Opfers in der Antikenrezeption der Frühen Neuzeit
Die Berichte von Menschenopfern bei den Mexica erregten von Anfang an große Aufmerksamkeit in Europa. Die im 16. Jahrhundert in diesem Zusammenhang erzeugten Fremdbilder indigener Gewalt erscheinen als eine regelrechte Obsession, die bis heute im kulturellen Gedächtnis nachwirkt. Eine eingehendere Betrachtung der Quellen offenbart jedoch, dass dieses Faszinosum auch deshalb so große Anziehungskraft entwickeln konnte, weil die Bilder aus der „Neuen Welt“ eine Eindeutigkeit in der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt versprachen, die in der Gewalterfahrung der Religionskriege des 16. beziehungsweise 17. Jahrhunderts in Europa nicht immer so leicht herzustellen war, weder im Alltag noch in der medialen Aufbereitung des Tötens in Flugschriften und illustrierten Einblattdrucken. Den Wandel vom religiös legitimierten (sacrificium) und zum illegitimen Opfer (victima) diskutierten bereits antike Quellen, die im 16. Jahrhundert intensiv aufbereitet wurden. Im Zentrum des Vortrags soll ein prominentes Beispiel stehen: das gesteigerte Interesse der Zeit an antiken Gladiatoren als eine Form von antikem Menschenopfer mit religiöser Funktion, wobei ein Verlust an religiöser Sinnstiftung – die Entwicklung hin zum banalen, öffentlichkeitswirksam als Spektakel inszenierten Morden – bereits in der Antike zu beobachten ist. Die eingehende Untersuchung von frühneuzeitlichen Texten sowie Bildquellen dokumentiert, dass die intensive Beschäftigung mit antiken Gladiatoren Teil eines transkulturellen Aushandlungsprozesses war. Die Antike diente als Vergleichsort, um die Erfahrungen in den Kolonien zu reflektieren. Antike Imaginationen ermöglichten die Abgrenzung vom amerikanischen Anderen und offenbarten doch gerade indirekt in ihrer transkulturellen Reformulierung die Existenz einer Verflechtungsgeschichte zwischen Amerika und Europa. Diese Verflechtung rief ein Bewusstsein von Nähe und Vergleichbarkeit der Gewaltkonzepte hervor, das anschließend wieder unterdrückt und marginalisiert werden musste.
Joanna Simonow, Zürich:
Die mediale Inszenierung indischer Hungersnotleidender in politischen und humanitären Diskursen der 1940er Jahre
Der Vortrag widmet sich der Analyse von Darstellungen des Hungers in Indien in den 1940er Jahren, die unter Gebrauch verschiedener Medienformen und -arten in und ausserhalb Indiens produziert und verbreitet wurden. Der Großteil dieser ‚Zeugnisse‘ entstand im Zusammenhang der bengalischen Hungersnot von 1943, in deren tragischem Verlauf Millionen von Menschen durch Hunger und Krankheit ihr Leben verloren. Anhand einer vergleichenden Analyse zielt der Vortrag darauf ab, Formen und Funktionen der Darstellung von Opferschaft zu erörtern und somit den Gebrauch visueller und verbaler Bilder des ‚indischen Hungers‘ im Nexus politischer und humanitärer Diskurse zu besprechen. In der politisch angespannten Lage der 1940er Jahre avancierte der Hunger in Indien zum Politikum: Durch die Erstarkung der indischen Nationalbewegung und der zunehmenden Ausbreitung des Faschismus befand sich das British Empire an gleich mehreren Fronten ‚im Krieg‘. Obgleich England und die Sowjetunion Alliierte im Kampf gegen das faschistische Deutschland waren, sah sich ersteres weiterhin bedroht durch die wachsende Einflusssphäre des Bolschewismus: Durch ihre offizielle Kriegsunterstützung nach 1941 war es den kommunistischen Parteien Englands (CPGB) und Indiens (CPI) möglich ein grösseres Publikum zu erreichen und, auf diese Weise, das Ziel einer antiimperialen Revolution weiterhin zu verfolgen. Trotz der wirksamen Pressezensur durch die britische Regierung gelang es engagierten Einzelpersonen sowie sozialen und politischen Gruppen, auf die Not in Indien aufmerksam zu machen, Spenden zu akquirieren und das politische Establishment anzuklagen. Der Vortrag richtet seinen Blick auf eine Auswahl dieser Akteure, die an der medialen Inszenierung des Hungers beteiligt waren und diskutiert die öffentliche Ausgestaltung der ‚Opferschaft‘ der von Hunger betroffenen Bevölkerung. Durch Bezugnahme auf visuelle Darstellungen des Hungers in anderen regionalen und historischen Kontexten soll darüber hinaus eine versuchsweise Einordnung der Darstellungsformen und Funktionen indischer Hungersnot in einen überregionalen und transepochalen Kontext erfolgen.
Ger Duijzings, Regensburg:
Viktimisierung im Kontext der militärischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien im 20. Jahrhundert
Der Beitrag diskutiert die starken Traditionen von Viktimisierungsnarrativen im serbischen Nationalismus mit seinen vielfältigen Rückbezügen auf die Schlacht auf dem Amselfeld (1389) und den Völkermord durch die ultranationalistische Ustasha gegen die serbische Bevölkerung im unabhängigen Staat Kroatien im Zweiten Weltkrieg. Opfererzählungen mit Bezug auf das Amselfeld wurden zunächst durch die serbische orthodoxe Kirche kultiviert, welche sich selbst seit dieser Zeit als leidende Kirche begriff. Im 19. Jahrhundert wurde dieses religiös definierte Leiden in einen aufkommenden serbischen Nationalismus integriert, welcher die anhaltende Viktimisierung Serbiens als Nation zu einer Schlüsselidee der eigenen Selbstbeschreibung erhob. Sie bildete die ideologische Grundlage eines Programms der territorialen Expansion und der nationalen „Wiederherstellung“ Serbiens im serbischen Befreiungskampf, der als Vergeltung für den Verlust des Kosovo und als Wiederauferstehung des mittelalterlichen serbischen Reiches verstanden werden sollte. Der Beitrag spürt den ideologischen und politischen Aktualisierungen und Reenactments der Idee der „Serben als ewige Opfer“ während der Kriege des 20. Jahrhunderts (Balkankriege, Erster und Zweiter Weltkrieg) nach. Der Hauptteil beschäftigt sich jedoch mit den neuesten Versionen des Kosovo Mythos während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren. Er analysiert die wirkmächtigen lokalen Versionen des serbischen religiösen Nationalismus, welche in der Serbischen Republik in Bosnien als ideologische Grundlage für Akte der Vergeltung, so beim Massaker von Srebrenica (1995), gegenüber der muslimischen Bevölkerung dienten. In Anlehnung an Michael Fischers Terminologie in Bezug auf den Kerbela Mythos im schiitischen Islam charakterisiere ich General Mladics Appell eine siegreiche Armee zu schaffen, den er in einer Rede einige Tage vor diesem Massaker äußerte, als Beispiel für die Vorstellung eines „Amselfeld in the active mood“: als Aufruf historisches Unrecht zu korrigieren, den degradierenden Status des Opfers abzuschütteln und den Muslimen eine „Endlösung“ aufzuzwingen, die den Serben gleichermaßen „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ und „Wiedergutmachung“ bringen sollte.
Abstracts (English Version):
Harriet Rudolph, Regensburg:
Victimization as a Research Concept in Historiography
In current mass media, the victim is omnipresent. We are confronted by narratives and images of victims of war, starvation, terror, crime, social discrimination, and political as well as religious persecution. They represent elements of victimization processes that historians have so far not sufficiently investigated with regard to their media-related dynamics, their historical context and their references to older imaginations of the victim (sacrificium/victima). In contrast to the term ‘victim’, the concept of ‘victimization’ emphasizes that victimhood might be considered the result of complex attribution processes in which victims, institutions or else the public in general participate in various ways. If we analyse processes of victimization, we should not only look at violent acts which may have been understood as the origin of victimization but also concentrate on perceptions and interpretations of the respective individuals and their surroundings. In my lecture, I argue that we should discard moral and emotional semantics of the term ‘victim’ while researching victimization. We should not consider victims innocent, powerless, pitiable, or else morally superior human beings. In addition, they do not necessarily belong to underprivileged minorities. Historians are hardly able to investigate victimhood as an existential experience. However, they may trace and compare histories of victimhood (Jensen/Ronsbo 2014). They may examine how people spoke about victims, how people remembered experiences of victimhood, and how generations and societies tried to negotiate imaginations and roles of the victim in the past. At the same time historians should question interpretive patterns such as the secularization/resacralization or else the nationalization/globalization of the victim in modern times. Historians should also explore the politics of victimhood (Jeffery/Candea 2006): the preferred strategies of political elites in dealing with victimhood at a certain time. In doing so, they should certainly not make allowances for any interpretation which may either be favoured or considered inexpressible by representatives of mass media and politics.
Norman Housley, Leicester:
Victims of violence in the discourse of crusading, c. 1400-1500
From the First Crusade onwards the brutality of the enemies of Christ, and the suffering which they inflicted on the innocent and vulnerable, were themes of central significance in the preaching of crusades. They harmonized perfectly with the Christological devotion which motivated crucesignati, as well as with the values of Christian charity (caritas) and feudal obligation which enabled crusade preachers to capture the imagination of Europe’s fighting elite. Victimhood, and the heightened emotional response which its depiction could generate, gave rise not just to self-sacrifice but also to darker expressions including vengeance and blood lust. The inhabitants of fifteenth-century Europe were not immune to such rhetoric. Like their ancestors they could be moved to anger and sorrow by accounts of atrocities, even if their response more often took the shape of financial donations than of personal service. The enemies of the faith fell principally into three groups. The main group was of course the Ottoman Turks, and their proverbial and systematic cruelty played a substantial part in the formation of their image in Central and Eastern Europe. Secondly, the invading Russians were depicted by the Teutonic Order in Prussia and Livonia as no less brutal than the Turks. Lastly, the sufferings of Czech and German Catholics at the hands of the Hussite heretics were depicted in graphic terms in the course of the Church’s attempt to suppress the Hussites by force between 1420 and 1431. The prolongation of crusading into the fifteenth century bequeathed to early modern Europe a potent legacy in terms of victimhood, albeit one that was more diverse than that of the earlier period of crusading.
Margit Kern, Hamburg:
Entangled Histories: Transcultural Imaginations of Ssacrifice and Victimhood in the Early Modern Reception of Antiquity
From the outset, reports of human sacrifice among the Mexica were a source of fascination in Europe. The images of the “other” that were produced in this connection during the 16th century appear to be a veritable obsession that has survived to this day in Europe’s cultural memory. Yet closer perusal of the sources reveals that the topic owed part of its appeal to the fact that the images from the ‘New World’ offered a clear distinction between legitimate and illegitimate violence – one not so readily found in perceptions of violence during the religious wars in 16th- and 17th-century Europe, whether in everyday life or in the images of killing published in pamphlets and illustrated broadsheets. The shift from religiously legitimised sacrifice to illegitimate victimhood had been debated in ancient sources that were closely studied in the 16th century. The lecture will focus on one prominent example: the increased interest at the time in ancient gladiators as a form of ancient human sacrifice with a religious function, in which a loss of religious meaning and a shift towards killing staged as crude public spectacle could already be observed in antiquity. Careful study of early modern texts and pictorial sources shows that this close interest in ancient gladiators was part of a transcultural negotiation process. Antiquity provided a point of comparison for reflecting on experiences in the colonies. Ancient imaginations allowed a demarcation with the American ‘other’; and yet, indirectly, their transcultural reformulation revealed the existence of historical entanglements between America and Europe. These entanglements created an awareness of closeness and similarity between the concepts of violence – which then had to be suppressed and marginalised once more.
Joanna Simonow, Zürich:
Framing the ‘Indian victim of hunger and starvation’ in political and humanitarian discourses of the 1940s
The paper explores verbal and visual images of hunger and starvation in India in the 1940s, which were produced and disseminated in different media types in- and outside of India. Most of these depictions were created during and after the Bengal famine of 1943 which induced severe human suffering and, ultimately, led to the death of millions. Comparing the varying forms and functions attached to depictions of victimhood in this particular context, the paper sheds light on the extent to which images of famine-affected populations were embedded into political and humanitarian discourses. In the politically charged context of the 1940s, famine in India evolved as an issue of political contention and as a palpable instrument in the hands of the Raj’s enemies. With the acceleration of Indian demands of national self-determination and the global expansion of fascism, the British Empire saw itself ‘at war’ on multiple fronts. Although Britain and the Soviet Union were allied in the battle against fascist Germany, the perceived threat of an expanding Bolshevist sphere of influence remained: Declaring their support of the British war effort after 1941, the Communist Party of Great Britain (CPBG) and India (CPI) could reach out to a wider audience and, hence, continue to aim for an anti-imperialist revolution. Notwithstanding British press censorship that severely limited the reach and form of information about the crisis, a diverse set of social and political groups exploited verbal and visual accounts of the ravaging famine to solicit donations and to incriminate the government. The paper will highlight the contribution of a selected number of these actors who participated in the staging of famine in India and, thereby, in the construction of notions of victimhood. Building upon visual depictions of hunger in other regional and historical contexts, the paper will further attempt to place the forms and functions evident in the depictions of Indian famine within a larger transregional and trans-epochal perspective.
Ger Duijzings, Regensburg:
Victimization Narratives in the Context of Military Conflicts in the Former Yugoslavia in the Twentieth Century
This paper will discuss the strong tradition of victimization narratives in Serbian nationalism, with its references to the Kosovo Battle (which Serb forces lost against the Ottoman armies in 1389) and the genocide committed by the ultranationalist (Croatian) Ustashe against the Serbian population in the Independent State of Croatia during World War Two. The victimization narratives related to the lost Kosovo Battle were initially cultivated in the Serbian Orthodox Church, which saw itself ever since as a suffering church. In the nineteenth century, this religiously defined suffering was integrated into an emerging Serbian nationalism, which proclaimed the continuous victimization of the Serbs as a nation into a key ideological premise. It was harnessed to a program of territorial expansion and recovery, providing the ideological underpinnings of Serbia’s liberation struggle, that is, the revenge for Kosovo’s loss and the resurrection of the medieval Serbian empire. The paper will trace the ideological and political reactivations and re-enactments of the ‘Serbs-as-eternal-victims’ idea during the wars of the twentieth century (the Balkan Wars, and the First and Second World War). The main part of the paper, however, will focus on the recent permutations of the Kosovo Myth during the Wars of Yugoslav Succession, analyzing particularly the powerful ‘local’ version of Serbian religious nationalism that emerged in the Republika Srpska (the Serbian Republic in Bosnia) which offered fertile ideological ground, moral justification and (church) legitimacy to acts of revenge against the Muslim population, such as in the case of the Srebrenica massacre (1995). Borrowing from M. Fischer’s terminology in respect of Shi’ite Islam, I characterize general Mladić’s plea to create a ‘winning army’, uttered in a speech to his troops days before the attack on Srebrenica, as an example of Kosovo in the active mood, a call to undo historical injustices, throw off the negative and degrading status of ‘the victim’, and impose a ‘final solution’, bringing ‘justice’, ‘liberation’, and ‘redemption’.
Überblick
(Olaf Blaschke, Münster) Olaf Blaschke, Münster: Einführung:
Überblick
(Olaf Blaschke, Münster)
Olaf Blaschke, Münster:
Einführung: Glaubenssache Globalgeschichte?
Margrit Pernau, Berlin:
Religion in der Globalgeschichtsschreibung:
Die Emotionen der kolonialen Moderne in Indien
Volkhard Krech, Bochum:
Globalgeschichte in der Religionswissenschaft
Rebekka Habermas, Göttingen:
Kommentar
Abstract (scroll down for English version):
Mehr und mehr Themenfelder werden von der Globalgeschichtsschreibung erfaßt, allein die Religionen wurden bislang kaum von ihr berührt. Dabei wirken gerade Glaubensfragen grenzüberschreitend, mithin sollte die Überwindung des “methodologischen Nationalismus” Religions- und Kirchenhistorikern besonders leicht fallen. Tatsächlich jedoch bleiben den meisten transnationale, global- und verflechtungshistorische Ansätze fremd. Im Gegenzug ignoriert die Mehrzahl der für das 19. und 20. Jahrhundert zuständigen Globalhistoriker auch die Religionsgeschichte.
Ziel der Sektion ist, eine doppelte Sensibilisierung zu fördern: für globalgeschichtliche Fragen in der Religionsgeschichte einerseits wie für religiöse Themen in der aufstrebenden Globalgeschichtsschreibung andererseits. Überzeugt die bisherige Leistungsbilanz? Wo liegen Zugewinne, Ertragschancen und Grenzen der Globalgeschichte für Glaubensfragen? Dieser Diskussion widmet sich die Sektion in drei Grundsatzbeiträgen: Zunächst wird aus Sicht der etablierten Katholizismus- und Protestantismusforschung sondiert, welcher Mehrgewinn von einer globalgeschichtlichen Öffnung zu erwarten wäre. In einem interdisziplinären Tandem wird sodann zum einen von Seiten der Globalgeschichtsschreibung aus gezeigt, was gewonnen wird, wenn sie sich dem religiösen Feld widmet, zum anderen von Seiten der Religionswissenschaft aus diskutiert, welche Chancen sich für die Disziplin ergeben, wenn sie sich der Globalgeschichte öffnet.
Abstract (English version):
While global history touches on ever more historical fields of investigation, religion has so far been largely neglected. And yet, because matters of religious faith are essentially cross border phenomenon, historians of religion, and church historians, should find it easy to overcome the ‘methodological nationalism’ of their fields. But, most of these scholars shy away from transnational, global or entangled history. In turn, global historians of the 19th and 20th centuries tend to ignore the history of religion.
The aim of the session is to foster a reciprocal sensitivity. On the one hand, among historians of religion for the questions posed by global history, and, on the other hand, for religious issues in the emerging field of global history. How does the history of religion stand to profit and widen its perspective by embracing a global perspective? This discussion is dedicated to three essential themes. What would the well-established history of Catholicism and Protestantism gain from adopting a global perspective? What gains would global history make by integrating religious history? And, conversely, how would the field of religious studies benefit from adopting a global perspective?
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
H-Hörsaal C
Hauptgebäude
Überblick
(Andrew Wells, Göttingen) Gösta Gabriel, Göttingen: Mesopotamische
Überblick
(Andrew Wells, Göttingen)
Gösta Gabriel, Göttingen:
Mesopotamische Tempelrestaurationen zwischen Konservierung und Ikonoklasmus
Erika Manders, Göttingen:
Late Antique Iconoclasm: Pagans and Christians in the Fourth Century AD
Claudia Nickel, Göttingen:
Ikonoklasmus in den Narrationen zu den französischen Religionskriegen
Andrew Wells, Göttingen:
Atlantic Iconoclasm: Protestantism, Profanation and Politics in the First British Empire, c.1640–c.1740
Abstracts (scroll down for English version):
Gösta Gabriel, Göttingen:
Mesopotamische Tempelrestaurationen zwischen Konservierung und Ikonoklasmus
Altorientalische Könige rühmen sich regelmäßig mit der ‚Erbauung‘ von Tempeln, wohinter sich zumeist mehr oder weniger umfangreiche Restaurationen verbergen. Der Vortrag fokussiert den altakkadischen König Narām-Sîn (23. Jh. v. Chr.), der in der späteren Tradition zwiespältig wahrgenommen wird. Besonders negativ stilisiert ihn der epische Text „Fluch über Akkade“, in dem er sich an dem Tempel des Hauptgottes Enlil ‚vergeht‘. Der Vortrag wird die Selbst- und Fremddarstellung von Narām-Sîns Restauration des Enlil-Tempels in den Blick nehmen und die Akteure und Rahmenbedingungen identifizieren, die über den Unterschied zwischen ‚Restauration‘ und ‚Zerstörung‘ entscheiden.
Erika Manders, Göttingen:
Late Antique Iconoclasm: Pagans and Christians in the Fourth Century AD
Nach Konstantins Sieg an der Milvischen Brücke, wurden heidnische Monumente gezielt von Christen angegriffen. Tempel wurden zerstört, Statuen umgestürzt und verschandelt, häufig mit Unterstützung von offizieller Seite. Im Mittelpunkt dieses Vortrags steht der Ikonoklasmus des vierten Jahrhunderts, die Perspektive wird aber erweitert, indem Kontinuitäten und Wandel über Konstantin und die heidnisch-christliche Dichotomie hinaus betrachtet werden: In welchem Ausmaß folgen die christlichen Gewalttaten des vierten Jahrhunderts früheren Beispielen (säkularer und nicht-säkularer) Ikonoklasmen? Wurde übliches Vokabular verwendet? Auf diese Weise soll Aufschluss über einen möglichen Einfluss der Tradition auf den Ikonoklasmus gegeben werden.
Claudia Nickel, Göttingen:
Ikonoklasmus in Narrationen zu den französischen Religionskriegen
Während der Religionskriege (1562-1598) kommt es in Frankreich zu diversen ikonoklastischen Vorfällen. Im Vortrag werden textuelle und ikonographische Beispiele, die diese spezifische Form von Gewalt thematisieren, vorgestellt. Dabei wird untersucht, welche ästhetischen Mittel eingesetzt werden, um von den jeweiligen Zerstörungen und den beteiligten Akteuren zu erzählen, und welche Deutungen und Funktionen diesen Akten zugeschrieben werden.
Andrew Wells, Göttingen:
Atlantic Iconoclasm: Protestantism, Profanation, and Politics in the First British Empire, c.1640-c.1740
Dieser Vortrag untersucht die Bedeutung des Protestantismus während des britischen Kolonialreichs. Es wird gezeigt, dass der Wahnsinn des Ikonoklasmus während der Jahre des Bürgerkriegs kein Einzelfall war, der der als bloße Unterbrechung einer Tradition religiöser Toleranz gelten könnte. Nicht nur gegen Juden und Katholiken, sondern auch gegen andere Protestanten waren Menschenmassen und Behörde gleichermaßen an diesem Ikonoklasmusbeteiligt. Der Vortrag beleuchtet diese Prozesse in Bristol und New York, um zu zeigen, dass die Grenze religiöser Toleranz im ‘protestantischen und freien’ britischen Kolonialreich heftig und gewalttätig sein konnten.
Abstracts (English version):
Gösta Gabriel, Göttingen:
Mesopotamische Tempelrestaurationen zwischen Konservierung und Ikonoklasmus
Ancient Near Eastern kings regularly praised themselves with the ‘edification’ of temples, behind which was concealed more or less extensive restoration work. This paper focuses on the Old Akkadian King Narām-Sîn (23rd century BCE), who according to later tradition has been perceived as divisive. He was portrayed especially negatively in the epic text “Curse of Akkade”, in which he is shown to seriously assault the temple of the chief god Enlil. The paper will examine the self-presentation and representation of Narām-Sîn’s restoration of the temple of Enlil, and identify the actors and contexts that mark the difference between ‘restoration’ and ‘destruction’.
Erika Manders, Göttingen:
Late Antique Iconoclasm: Pagans and Christians in the Fourth Century AD
After Constantine’s victory at the Milvian Bridge, pagan monuments became the target of violent acts committed by Christians. Temples were destructed and statues toppled over and mutilated, often with official support. Central to this paper is fourth-century iconoclasm, yet a broader perspective will be presented by analyzing patterns of continuity and change and thus going beyond Constantine and the dichotomy pagan-Christian: to which extent did these fourth-century Christian acts of violence follow earlier examples of (secular and non-secular) iconoclasm? Were common vocabularies used? In this way, more light will be shed on the possible influence of tradition on iconoclasm.
Claudia Nickel, Göttingen:
Ikonoklasmus in Narrationen zu den französischen Religionskriegen
There occurred varied incidents of iconoclasm in France during the Wars of Religion (1562-1598). This paper will introduce textual and iconographic examples that thematise this specific form of violence. It also examines which aesthetic means are used to narrate destruction and its perpetrators, and which interpretations and functions are associated with these acts.
Andrew Wells, Göttingen:
Atlantic Iconoclasm: Protestantism, Profanation, and Politics in the First British Empire, c.1640-c.1740
This paper interrogates the meaning of Protestantism in the British empire. It will be shown that the iconoclastic frenzy of the Civil War years was no isolated incident in a supposed march towards religious toleration. Crowds and authorities alike engaged in iconoclasm against not only Jews and Roman Catholics, but also other Protestants. Examining these processes in Bristol and New York, it will be shown that the limits to religious toleration in the ‘Protestant and free’ British empire could be severe and violent.
Zeit
(Freitag) 9:00 - 11:00
Ort
Hauptgebäude Ostflügel
HOF-221
Überblick
(Thorsten Logge, Hamburg, Christoph Hilgert,
Überblick
(Thorsten Logge, Hamburg, Christoph Hilgert, München)
Cord Arendes, Heidelberg: Einführung, Moderation
Thorsten Logge, Hamburg:
Geschichte im Bild: Körperliche Aneig nung von Geschichte im »Battle of Gettysburg«-Panorama in den 1880er Jahren
Christoph Hilgert, München:
Der Reiz der gefühlten Wahrheit. Geschichte(n) erzählen in den Massen medien
Claudia Nickel, Göttingen: Geschichte(n) im Text: Zur Konstruktion von Authentizität in Narrativen zu den französischen Religionskriegen
Angela Siebold, Heidelberg:
Kommentar
Abstract (scroll down for English version):
Repräsentationen von Geschichte im öffentlichen Raum sind zentraler Gegenstand der Public History. Für eine forschungsorientierte Annäherung an diese Repräsentationen schlagen die Sektionsbeiträge Performativität, Medialität und Authentizität als ertragreiche Analysekategorien vor. Geschichte wird immer erzählt. In Geschichte(n) finden Ereignisse und Strukturen ihre narrative Fassung. Ereignisse werden über ihre Erzählung erst greifbar und als solche – in verschiedenen medialen Formen und Modi – verbreitet. Performativität, Medialität und Authentizität sind dabei drei wesentliche Aspekte sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Geschichte(n). Sie zeigen zugleich, dass ein interdisziplinärer Ansatz nötig ist, um diese Thematik produktiv zu bearbeiten.
Public History beschäftigt sich in Deutschland bislang im Wesentlichen mit projektorientierten Lehrangeboten. In theoretischen Fragen rekurriert sie weitgehend auf die anglo-amerikanische Public-History-Forschung oder vergleichbare Traditionen der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik, die mit einigem Recht für sich reklamiert, Public History bereits seit Jahrzehnten zu betreiben. Versteht man Public History als Oberbegriff für anwendungsbezogene Formen öffentlicher Geschichtsdarstellung sowie zugleich auch als deren geschichtswissenschaftliche (Begleit-)Forschung, gelingt es den vorliegenden Ansätzen bisher nicht, alle theoretischen und methodischen Herausforderungen des Feldes zu erfassen und zu systematisieren. Ein geschichtswissenschaftlich orientiertes Public-History-Forschungsprogramm steht weiter aus. Die drei Fallbeispiele der Sektion sind in verschiedenen räumlichen wie zeitlichen Kontexten situiert und nutzen zunächst einen disziplinären Zugriff, um die jeweilige Begriffe zu schärfen. Anschließend wird im Sinne der Interdisziplinarität eine Zusammenführung angestrebt, um zu verdeutlichen, wie Prozesse der Narration von Geschichte funktionieren.
Thorsten Logge, Hamburg:
Geschichte im Bild. Zur körperlichen Aneignung von Geschichte im „Battle of Gettysburg“-Panorama in den 1880er Jahren
Der Vortrag behandelt Panoramen (oder Cycloramen) als populäres Massenmedium des späten 19. Jahrhunderts. Am Beispiel des Gettysburg-Panoramas werden Zugänge zur Performativität von Geschichtsbildproduktionen und die emotional-sinnlichen Dimensionen der Auseinandersetzung mit Geschichte im öffentlichen Raum diskutiert. Die Hypothese, dass Bedeutung erst im Moment des Äußerns oder Aufführens generiert wird, wird dabei verbunden mit einem Verständnis von Geschichtsbewusstsein als spezifische Bedeutungsproduktion, die Vergangenes ausgehend von gegenwärtigen Fragestellungen erzählt. Diese jeweilige Gegenwart der Geschichte lässt sich über die Panoramen zur „Schlacht von Gettysburg“, die seit den 1880er Jahren bis heute öffentlich zugänglich sind, historisieren. Auf diese Weise wird ein Zugriff auf die unterschiedlichen, kontextabhängigen, erzählenden Aneignungen des US-amerikanischen Bürgerkriegs in einem populären, massenmedialen Unterhaltungsformat ermöglicht, das schon in seiner Produktion in großem Maße Wert legte auf eine möglichst realistische, „authentische“ Darstellung der Schlacht von Gettysburg.
Christoph Hilgert, München:
Der Reiz der gefühlten Wahrheit. Geschichte(n) erzählen in den Massenmedien
Der Vortrag betrachtet Massenmedien als bedeutsame Mittler, aber auch eigensinnige Akteure der öffentlichen Aushandlung historischen Wissens. Für sie ist Geschichte vor allem für die Gegenwarts¬deutung sowie als Unterhaltungsangebot von Interesse. Basis ihrer Geschichtsrepräsentationen ist die Reduktion historischer Komplexität mittels zielgruppenspezifischer Narrativierung. Dies geschieht durch die bedarfsgerechte Informationsreduktion und -anreicherung sowie durch die Verwendung emotionalisierender Erzählmodi. Die journalistische Erzählung verknüpft und inszeniert dabei ausge¬wählte materielle und immaterielle „Objekte“ der Geschichte zu einem schlüssigen und sinnstiften-den Deutungszusammenhang. Den einzelnen Bestandteilen dieser Geschichtserzählung kommt dabei der Charakter von „Authentizitätsankern“ zu, welche die historische Wahrheit des Erzählten ver¬bürgen sollen. Der Vortrag untersucht das Arrangement und die Funktion dieser Elemente unter an¬derem am Beispiel der Geschichtserzählungen im crossmedialen Angebot „Die Geschichte des Süd¬westens“ (SWR 2015). Der Beitrag will damit Wege zu einer sach-, fach- und mediengerechten Be¬wertung massenmedialer Geschichtsdarstellungen als Bestandteil der Public History aufzeigen.
Claudia Nickel, Göttingen:
Geschichte(n) im Text: Zur Konstruktion von Authentizität in Narrativen zu den französischen Religionskriegen
In dem Beitrag werden Produkte erzählender Geschichtsdeutung vor der Herausbildung wissenschaftlicher Historiografie untersucht. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage nach der authentischen Darstellung und Vermittlung der Ereignisse am Beispiel von Narrativen zu den französischen Religionskriegen (1562–1598).
Literarische und künstlerische Werke, die historische Ereignisse thematisieren, werden von ihren Rezipienten häufig als authentisch eingeschätzt, wenn sie das Dargestellte für diese auf eine glaubwürdige und wahrhaftige Weise darbieten. Ebenso bemühen sich die Autoren um Authentizität, um den Eindruck der Künstlichkeit ihres Produktes zu minimieren und die Echtheit des Erzählten zu betonen. Authentizität ist demnach Form und Effekt der Produktion sowie der Rezeption einer medialen und künstlerischen Vermittlung beziehungsweise Kommunikation.
An ausgewählten Texten über die französischen Religionskriege, u. a. von Pierre de Ronsard und Théodore Agrippa d’Aubigné, wird untersucht, wie ästhetische Mittel, die sich als „Authentizitätsanker“ bezeichnen lassen, eingesetzt werden, um diese Wirkung zu erreichen und das Erzählte glaubhaft zu machen.
Abstracts (English version):
Representations of history in public spheres are core objects of study in the field of public history. To foster a more research-oriented public history approach, the contributors suggest performativity, mediality and authenticity as fruitful categories of analysis to tackle these representations. History is always narrated. In histories, past events and textures are put in a narrative shape. By this, events become tangible and are distributed in various medial forms and modes. Therefore, performativity, mediality and authenticity are crucial aspects for the production as well as reception of histories. They also indicate the necessity of an interdisciplinary approach for public history research.
In Germany, public history is still largely involved with project-oriented academic programs. When it comes to theory, the evolving field resorts to Anglo-American public history research or comparable traditions of the German didactics of history. Considering public history as both an umbrella term for diverse practical uses and primary and secondary research of the past in public, existing approaches have not yet mastered all the theoretical and methodological challenges of the field: a public history research program anchored in historical studies themselves is still missing. The case studies in this section are situated in different spatial and temporal contexts, and begin by using a disciplinary perspective to define and employ hypotheses and definitions. Following this, the concepts are merged in an interdisciplinary manner to illustrate the process of narrating the past.
Thorsten Logge, Hamburg:
History in the Picture: On the Physical Adoption of History in the „Battle of Gettysburg“ Cyclorama in the 1880s
The paper addresses cycloramas as a popular mass medium in the late 19th century. It develops approaches to the performative emergence of concepts of history and the emotional and sensual dimensions of public uses of the past on the example of the “Battle of Gettysburg” cyclorama. Thereby the hypothesis that meaning is produced in the very moment of its expression and performance will be brought together with an understanding of historical consciousness as a specific production of meaning that narrates the past from current needs and issues. This particular presence of the past can be historicized by using the example of the Gettysburg cycloramas. Having been publicly accessible from the 1880s to today, these cycloramas give access to diverse, context-sensitive, and always narrated uses of Civil War history in a popular mass medium, that was put into practice as an outmost realistic and “authentic” depiction of the Battle of Gettysburg.
Christoph Hilgert, München:
The Allure of the Perceived Truth. Representations of History in Mass Media
The paper examines mass media not only as important transmitters, but also as conscious, deliberate, and intentional co-creators of public historical knowledge. First and foremost mass media are interested in history to explain and to interpret the shape of the present age and as a rich reservoir of entertaining anecdotes. The base for such representations of history is the reduction of its complexity by narrativization. This is usually done by choosing an emotional narration as well as by reducing the amount of details while adding explanatory information, which is considered to be useful for the respective audience. The journalistic story, hence, combines selected material and immaterial “objects” of history, creating a conclusive and comprehensive interpretation of the past. The narrative elements, therefore, serve as “anchors of authenticity”, which are supposed to prove the accuracy and the historical truth of the respective story. The arrangement of such elements will be investigated by referring, for instance, to representations of history in 2015’s cross-media offering „Die Geschichte des Südwestens“ (“The history of the Southwest”) by public service broadcaster SWR. Doing this, appropriate ways of evaluating mass media representations of history as part of public history will be discussed.
Claudia Nickel, Göttingen:
(Hi)stories in Texts: On the Construction of Authenticity in Narratives about the French Wars of Religion
The paper examines products of historical interpretation before the formal emergence of historiography. Its main focus will be the authentic representation and mediation of historical events exemplified by narratives about the French Wars of Religion (1562-1598). Consumers of literary texts and art works that depict historical events as a central theme often consider them to be authentic if the subject is represented in a ‘truthful’ way. Authors also strive for authenticity in order to minimize the impression that their work is artificial and to underline the truthfulness of the content. Authenticity is therefore both form and result of the production and reception of a specific mediative and communicative process. Reading texts about the French Wars of Religion, for example by Pierre de Ronsard or Théodore Agrippa d’Aubigné, this paper analyzes how aesthetic features are used to achieve this effect and to make the narrated content credible.
Überblick
(Philipp Müller, Göttingen) Markus Friedrich, Hamburg: Moderation Indra
Überblick
(Philipp Müller, Göttingen)
Markus Friedrich, Hamburg:
Moderation
Indra Sengupta, London:
Muslim‘ Monuments, Historicism and Heritage-Making in Colonial India
Philipp Müller, Göttingen:
Die geöffneten Archive: Historisches Forschen und Arkanpolitik im 19. Jahrhundert
Achim Landwehr, Düsseldorf:
Tempel temporaler Turbulenzen: Archive und die Materialität der Geschichte
Die Lücke in der Überlieferung, die Trennung zusammenhängenden Materials oder auch der mangelnde Glaube an die Überlieferungswürdigkeit populärer Medien gehören zu den alltäglichen Herausforderungen unseres handwerklichen Geschäfts. Dergleichen Erfahrungen mit dem Material haben ihren Grund in der besonderen Verfertigung der Monumente in der Vergangenheit. Denn was ein historisches Zeugnis ist, welchem Glauben zu schenken ist und ob ein Dokument aufzubewahren ist oder nicht, diese Fragen – wie auch die darauf gegebenen Antworten – sind selbst zutiefst historisch. Rechtliche Begriffe, ästhetische Vorstellungen, zeitgenössische Politiken wie auch administrative Verfahren und nicht zuletzt praktische Probleme haben wesentlich Anteil daran, wie diese Fragen beantwortet werden. Die Sektion richtet den Blick gezielt auf das Generieren von Monumenten – noch ehe diese sich als Geschichte in Texten, Denkmälern und Ordnungen materialisierten. Die untersuchten Prozesse des Überlieferns und Ordnens im Archiv (s. Landwehr), die historische Monumentalisierung religiöser Gebäude im kolonialen Indien (s. Sengupta) und die Öffnung der Archive in Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts (s. Müller) reflektieren historisch-spezifische Verhältnisse von Geschichte und Gesellschaft. Diese Verhältnisse in theoretischer Hinsicht und mit Rücksicht auf die europäische und Globalgeschichte zu diskutieren, hat seinen Grund in der politischen Virulenz des ‚Historischen‘ in Gegenwart und Vergangenheit. Ferner ermöglicht eine über die Grenzen Europas hinausreichende Perspektive die taziten Begriffe der europäischen Geschichtskultur zu reflektieren. Aber eine globalgeschichtliche Perspektive überrascht auch mit Ähnlichkeiten der untersuchten Prozesse, z.B. hinsichtlich der tragenden Rolle des Gesuchs in der politischen Kommunikation mit den Behörden oder bezüglich der Bedeutung ästhetischer Vorstellungen bei der Beurteilung von Authentizität.
Abstracts
Indra Sengupta, London:
Muslim’ monuments, historicism and heritage-making in colonial India
This paper will examine how historical preservation in colonial India became a site for negotiating political sovereignty with a Muslim subject population and for writing British rule into Indian history. The preservation of historic buildings, deemed to be monuments, is commonly understood as a function of modernity, nation-building and renegotiations of the relationship with the past in Europe. In India such renegotiations of the relationship with the past and the consequent meaning of the material remains of the past were mediated by colonialism and what is often described as colonial knowledge practices.
British colonial scholars and officials felt the need to document a history and tradition, threatened by decay and extinction. This applies especially to buildings of Muslim origin, that is, those built by India’s Muslim rulers, the Mughals, whom the British unseated to gain sovereign power over India. These buildings – such as the great forts and palaces of the Mughals – served British rulers as evidence to portray themselves as natural successors of Mughal rule. Hence, colonial officials treated these as structures of great political symbolism and used them to prove the legitimacy of the British in India as natural successors to the Mughal rulers. Thus, following a historicist agenda, great care was taken of these structures. However, this also meant considerable intervention on the part of the colonial state, which made itself exclusively responsible for the care of Indian monuments, in the maintenance of these structures. Such intervention often amounted to greatly intrusive practices and conflicts with local Muslim communities.
Philipp Müller, Göttingen:
Die geöffneten Archive: Historisches Forschen und Arkanpolitik im 19. Jahrhundert
Das Archiv als Ort historischen Arbeitens hat eine eigene Geschichte und kann keineswegs vorausgesetzt werden. Uns heute scheint das „historische Archiv“ selbstverständlich. Jedoch ging die Öffnung der staatlichen Archive im 19. Jahrhundert – angesichts der fortwährend rechtspolitischen und administrativen Relevanz der Archive für die Regierungen – mit arkanpolitische Kontrollen einher (v.a. Auswahl von Material; Zensur der angefertigten Exzerpte und Manuskripte). Dies war für das historische Arbeiten mit Archivmaterialien überaus folgenreich. Das Archiv avancierte einerseits zu einer exklusiven Autorität, die die privilegierten Forscher für sich in Anspruch nahmen. Andererseits war die Archivarbeit hinsichtlich der „Ausbeute“ ein unwägbares Unterfangen; es bedurfte auch anderer Zeugnisse (z.B. mündliche, literarische). Schließlich waren es aber die von den Gesuchstellern initiierten politischen Verhandlungen über die historische Verwendung des Archivschatzes, die die Institution des Archivs entscheidend zu verändern begannen. Diese keineswegs konfliktfreie und reibungslose Dynamik war ein gesellschaftlich-politischer Prozess, denn zum einen schloss die schriftkundige Klientel der geöffneten Archive neben Gelehrten z.B. auch Soldaten, Pfarrer, Lehrer und Aktuare ein. Vor allem aber artikulierte sich in der von den Regierungsbehörden verfolgten Archivpolitik im 19. Jahrhundert ein sich wandelndes Verhältnis zwischen Staat und Individuum.
Achim Landwehr, Düsseldorf:
Tempel temporaler Turbulenzen: Archive und die Materialität der Geschichte
Die primäre Aufgabe des Archivs ist es zunächst nicht für die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses zu sorgen sondern vielmehr zu selektieren: Nur circa fünf Prozent des angelieferten Materials werden als bewahrenswert erachtet; der Rest wird kassiert. Vor einem solchen Hintergrund rücken die Materialitäten in den Mittelpunkt, die sich mit dem Archiv verbinden und die für die Ermöglichung wie den Entzug des Historischen verantwortlich zeichnen. Das Archiv verdient hier deswegen gesonderte Aufmerksamkeit, weil es nicht nur Überlieferungs- und Aufbewahrungsanstalt ist, sondern Konkretisierung einer spezifischen Zeittechnik, die Historisches sowohl hervorbringt als auch aushöhlt. Durch einen Blick auf das Ensemble von Material, Archiv und Geschichte können die gegenseitigen zeitlichen Verschränkungen deutlich gemacht werden, die sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, also zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten ergeben und die das Historische in seiner Spezifik überhaupt erst hervorbringen. Dieses temporale Gefüge geht keineswegs in einer eindeutigen Linearität auf, wie sich gerade anhand des Ereignisses zeigen lässt: Denn jedes Sprechen über ein Ereignis findet nicht immer nur nach dem Ereignis statt, sondern verändert das Ereignis auch – weil das Ereignis nach der Beschreibung nicht mehr das gleiche sein wird wie zuvor. Das Archiv erweist sich somit als ein Tempel temporaler Turbulenzen.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
PHIL-C
Philosophenturm
Überblick
(Julia Hauser, Kassel) Gauri Viswanathan, New
Überblick
(Julia Hauser, Kassel)
Gauri Viswanathan, New York:
Moderation
Judith Große, Zürich:
Cosmopolitanism, Secular Morality, and the Boundaries of Universalism in the Transnational Movement for Sexual Reform in the Interwar Years
Julia Hauser, Kassel:
Between Humanitarianism, Colonial Critique, and Nationalism. British Vegetarians and Hindu Activists in Turn-of- the Century India
Isabel Richter ,
Spiritual Seekers, Pilgrims and Psychonauts. Travelers to India and the Transformation of Religion in the long 1960s
Robert Kramm-Masaoka, Seoul: Radical Utopianism at Tolstoy Farm: Building Communities at the Margins of Global Modernity
Hans-Martin Krämer, Heidelberg:
Kommentar
Abstracts (scroll down for english version):
Vorstellungen von Modernität, lange als westliche Errungenschaft erachtet, waren in der Geschichtswissenschaft bis in die 1990er Jahre hinein eng mit linearen Konzepten von Säkularisierung verbunden. In den letzten Jahrzehnten haben sowohl die Modernisierungs als auch die Säkularisierungsthese grundlegende Kritik erfahren. Modernität, so haben u.a.die theoretischen Beiträge Gurminder Bhambras gezeigt, war das Produkt enger Verflechtungen zwischen Europa und anderen Teilen der Welt. Religion, das haben Talal Asad und andere argumentiert, verschwand keineswegs, sondern lebte in Ideen des Säkularen fort.
Diese Sektion fühlt sich diesen kritischen Perspektiven auf Modernität sowie „das Säkulare“ und „das Religiöse“ verpflichtet, Begriffe, die in den Vorträgen problematisiert und im Hinblick auf ihre Interdependenz beleuchtet werden sollen. Ziel der Sektion ist es, die Verflechtungen zwischen Europa, Indien und Afrika in alternativen Bewegungen und Projekten – Sexualreform, Vegetarismus, Siedlungsprojekten, Jugendbewegungen – im 19. und 20. Jahrhundert zu untersuchen. In diesen Kontexten interagierten einerseits Europäer und Menschen aus anderen Teilen der Welt. Andererseits waren sie Szenarien, in denen Europäer Aspekte außereuropäischer Kulturen und Kulturtechniken aneigneten, wobei sie häufig Werte und Normen ihrer eigenen Gesellschaften hinterfragten. In diesen Bewegungen wurden nicht nur Vorstellungen des Modernen verhandelt. Ihre Anhänger beriefen sich auch auf Werte, die im Dialog oder in Spannung mit dem Religiösen oder dem Spirituellen entstanden.
In unseren Beiträgen zu dieser Sektion werden wir untersuchen, in welcher Weise die spirituelle Dimension bzw. Programme, die im Dialog oder in polemischer Auseinandersetzung mit dem Religiösen entstanden, dazu beitrugen, neue Konzepte von gender, Körper und Gesellschaft zu entwickeln. Gleichzeitig wollen wir herausarbeiten, wie die utopischen Entwürfe alternativer Bewegungen kulturelle Hierarchien – omnipräsente Kategorien in Zeiten des Imperialismus und der Dekolonialisierung – unterminierten oder auch untermauerten. Wie prägten kulturelle Aneignungsprozesse zwischen Europa und der außereuropäischen Welt Glaubensfragen, und welchen Stellenwert nahm hier Religion ein? Wie halfen alternative Bewegungen auf diese Weise, universalistische Konzepte von Menschheit zu legitimieren oder in Frage zu stellen? Dies sind die Leitfragen unserer Sektion. Das Panel findet aufgrund der Besetzung in englischer Sprache statt. Selbstverständlich sind deutschsprachige Beiträge zur Diskussion willkommen.
Julia Hauser, Kassel:
Between Humanitarianism, Colonial Critique, and Nationalism. British Vegetarians and Hindu Activists in Turn-of-the Century India
Dieser Vortrag entsteht aus dem Kontext eines größeren Projekts zur Verflechtungsgeschichte des Vegetarismus im 19. und 20. Jahrhundert. Er nimmt eine Episode in den Blick, die weder in der Geschichte des kolonialen Indiens noch in der sozialer Bewegungen ausreichend Beachtung gefunden hat: die Begegnung zwischen britischen Vegetariern und Hindu-Nationalisten im Indien der Jahrhundertwende. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Wahrnehmung indischer Kultur als eindeutig vegetarischer einen wesentlichen Einfluss auf die entstehende vegetarische Bewegung in Großbritannien. Gegen Ende des Jahrhunderts gründeten einige britische und europäische expatriates vegetarische Vereine im kolonialen Indien – mit der Absicht, den Vegetarismus in seine vermeintliche Ursprungsregion zurückzutragen. Diese Bemühungen waren eng mit der Theosophie verbunden die sich als von “asiatischer” Spiritualität inspirierte neue religiöse Bewegung in den Jahrzehnten zuvor entwickelt hatte, jedoch auch mit dem Sozialismus der Fabian Society, Kolonialkritik und Sozialreform. Interessanterweise fanden diese Initiativen Anklang bei indischen Aktivisten, die nicht nur den Vereinen beitraten, sondern auch Schriften britischer Vegetarier in indische Sprachen, und ihre eigenn Schriften ins Englische übersetzten – obgleich sie dabei von ganz anderen Motivationen geleitet waren als ihre englischen Kooperationspartner. In diesem Vortrag werden die unterschiedlichen Motivationen britischer und indischer Akteure untersucht. Beide Seiten in dieser Begegnung, so wird sich zeigen, verhandelten das Religiöse und das Säkulare, sowie Konzepte des Körpers, des Selbst und der Gesellschaft – all dies zu einer Zeit, als wachsende Teile der indischen Gesellschaft sich vom Vegetarismus abwandten, während andere ihn in zunehmend militanter Weise verteidigten. Was britische Akteure als allgemein humanitäres Anliegen verstanden, war für indische Akteure nicht selten Teil eines immer mehr als exklusionistisch verstandenen Nationalismus.
Judith Große, Zürich:
Kosmopolitismus, säkulare Moral und die Grenzen des Universalismus in der transnationalen Sexualreformbewegung
In diesem Beitrag wird die Weltliga für Sexualreform (1921-1935) untersucht, eine institutionalisierte Plattform der radikalen Sexualreformbewegung, in Hinblick auf ihren kosmopolitischen Anspruch, der sich etwa in der Proklamierung „sexueller Menschenrechte“ manifestierte. Die kosmopolitische Ausrichtung geht auf den deutschjüdischen Sexologen Magnus Hirschfeld zurück, der die Organisation in den 1920er Jahren ins Leben rief. Diese Ausrichtung stand in Zusammenhang mit einem allgemeinen Rückgriff auf den Säkularismus der europäischen Aufklärung innerhalb der Sexualreformbewegung – dementsprechend wurde die „repressive“ christliche Sexualmoral, etwa im Gewand der sogenannten Sittlichkeitsreform, zum Hauptfeind erklärt. Die Grenzen dieses liberalen Kosmopolitismus, v.a. der unterschwellige Eurozentrismus, sollen ausgelotet werden, indem der Rolle des indischen Sexologen und Eugenikers A.P. Pillay in der Weltliga nachgegangen wird. Obwohl er erklärtermaßen Anhänger der „modernen Wissenschaften“ war, führte er seine Vorstellung von Ehereform (im Sinne einer gleichberechtigten, kameradschaftlichen Partnerschaft) auf Prinzipien zurück, die er antiken Sanskritschriften entnahm. Mit seiner Deutung dieser Schriften versuchte Pillay, den Antagonismus zwischen „materialistischer Wissenschaft“ und „spiritueller Religion“ zu überbrücken, der für die europäischen Sexualreformer von so fundamentaler Bedeutung war. Schließlich wird argumentiert, dass sich in der Zwischenkriegszeit trotz des Fortbestehens eurozentrischer Denkmuster einige bemerkenswerte Verschiebungen im Internationalismus der Sexualreformbewegung ergaben. Als Beispiel wird das von Pillay in Bombay lancierte International Journal for Sexology herangezogen, das das Erbe der Weltliga in dem Moment fortführte, als der NS-Terror zum Zusammenbruch der Bewegung in Deutschland und zunehmend dem restlichen Europa führte.
Isabel Richter
Sinnsucher, Pilgerinnen und Psychonauten. Reisende nach Indien und die Transformation von Religion in den langen 1960er Jahren
In meinem Vortrag konzentriere ich mich auf die Frage, warum Indien zum Inbegriff von Freiheit, Selbsterkenntnis und eines ganzheitlichen Lebens in Teilen der Alternativbewegungen und Jugendkulturen in den langen 1960ern wurde. Um zu untersuchen, welche Phänomene die Reisenden in den langen 1960ern aufgriffen und an welche Traditionen sie anknüpften, nehme ich einige Aspekte in den Blick, die Flows und Resonanzen zwischen Westeuropa, Indien und der USA seit dem späten 19. Jahrhundert zeigen, etwa den Einfluss einiger Aspekte aus der indischen Philosophie und Kultur auf die frühe psychoanalytische Bewegung, insbesondere auf C.G.Jung. Das zunehmende Interesse an „östlichen“ Religionen (Hinduismus, Buddhismus) im westeuropäischen Bürgertum kommt insbesondere auch in der Lebensreformbewegung zum Ausdruck und der Entdeckung des Vegetarismus, naturheilkundlicher Verfahren und eines Lebens in freier Natur – Praktiken und Ideale, die auch Emigrant/innen im frühen 20. Jahrhundert vor allem an die US- amerikanische Westküste mitbrachten. Auch die Verbreitung von Yoga in Westeuropa und den USA unterstreicht die Resonanz einer religiösen Praxis aus Indien und die Aneignung als vor allem körperkulturelle Praxis in den USA und Westeuropa im 20. Jahrhundert. Meine Interpretation zeigt, daß Indien unter Teenagern und jungen Erwachsenen in den langen 1960er Jahren ein Revival als spiritueller Sehnsuchtsort, aber auch als Projektionsfläche erlebte. In den schriftlichen Selbstzeugnissen beschreiben Autor/innen sich oft als „Pilger“, aber auch als areligiös und säkular. Die Reisen in das zentrale Reiseziel Indien sind geprägt durch interreligiöse Austauschprozesse, sie bringen ein transkulturell-religiöses Patchwork hervor, das als „Spiritualität“ wieder in „den Westen“ zurückkehrt und kein festgesetztes Set an religiösen Normen und Praktiken mehr voraussetzt.
Robert Kramm-Masaoka, Seoul:
Radikaler Utopismus auf der Tolstoy Farm: Gemeinschaftsbildung an den Rändern der globalen Moderne
Als Beispiel der globalen Verbreitung radikaler utopischer Gemeinschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht Robert Kramm-Masaoka (Seoul/Zürich) im darauf folgenden Vortrag die Tolstoy-Farm bei Johannesburg in Südafrika, die Mohandas Gandhi und Hermann Kallenbach 1910 gründeten. Die Tolstoy-Farm war ein Laboratorium für spirituelle und politische Experimente, um eine neue Subjektivität durch kommunales Leben, kooperatives Arbeiten und Vegetarismus zu entwickeln. Gleichzeitig war das Projekt auch ein Versuchsgelände für anti-kolonialen Widerstand, das ebenso indische Migranten wie Südafrikaner und Europäer mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen anzog. Gandhi und Kallenbach eigneten sich auf der Tolstoy Farm verschiedene utopische Ideale u.a. geprägt durch Leo Tolstoy und John Ruskin an. Diese kombinierten sie mit Versatzstücken religiösen Glaubens (Hinduismus), mit dem Ziel, eine Nische und Vorbild für anti-imperialistische Gemeinschaftsbildung zu schaffen. Von Johannesburg aus unterhielten sie Kontakte zu Tolstoy in Russland und dessen Anhänger in der Whiteway Colony in England sowie auch nach Südindien. Dort traf Gandhi Sri Aurobindo, Mirra Alfassa, aber auch Paul Richard, einen französischen Pastor und anti-imperialistischen/pan-asiatischen Aktivist mit langem Aufenthalt in Japan. Trotz der propagierten Ideale von Harmonie und Emanzipation waren Kommunenprojekte wie die Tolstoy Farm jedoch niemals frei von Machtverhältnissen und Ungleichheiten. Die Tolstoy Farm bietet daher eine Möglichkeit, die Reichweite aber auch Grenzen der Akteure der Globalisierung zu untersuchen, und die Verflechtungen und Intersektionalität der modernen Welt herauszuarbeiten.
Abstracts (English version):
Historians’ notions of “modernity”, long considered a feat of the West, have been tied to ideas of the secular well until the 1990s. In recent decades, not just the concept of modernity, but also the secularization theory, have come under crossfire. Modernity, or so the interventions of Gurminder Bhambra and others have shown, was a product of deep-seated entanglements between Europe and other parts of the world. Religion, as scholars like Talal Asad pointed out, did not vanish from the stage but remained tied in with ideas of the secular.
This panel is indebted to these critical perspectives on “modernity” and the secular vs. the religious, terms the members of this panel will problematize and investigate as to their mutual dependence. It seeks to trace and to examine the entanglements between Europe, India, and Africa in counter-cultural movements in which Europeans and non-Europeans interacted viz. Europeans appropriated aspects of non-European culture, often in order to question the values of their own societies. These movements did not only negotiate notions of the modern. They also drew on values that emerged, sometimes unbeknownst to the actors involved, in conversation or tension with the religious or the spiritual more broadly.
In our contributions to the panel, we will investigate to which extent the spiritual dimension resp. agendas indebted to a dialogue with, or diatribe against, the religious/spiritual, served as a means to develop new concepts of body, gender, and society. By the same token, we will also look at how their utopian visions served to undermine, or underpin, or, at any rate, negotiate notions of cultural hierarchies dominant in an age of nationalism and imperialism. How did cultural appropriations between Europe and the non-European world help shape questions of belief, and which role did religion play in this context? How did they help legitimize or question a universalist notion of humanity? Due to its composition, the panel will take place in English. Contributions to the discussion are equally welcome in German or English.
Julia Hauser, Kassel:
Between Humanitarianism, Colonial Critique, and Nationalism. British Vegetarians and Hindu Activists in Turn-of-the Century India
This paper is part of a larger project on the entangled history of vegetarianism during the nineteenth and twentieth century. It is concerned with an episode little looked at in either the history of colonial India or that of social movements: the encounter between British vegetarians and Hindu nationalists in turn-of-the century India. Since the mid-nineteenth century, perceptions of Indian culture as a thoroughly vegetarian one had had an important influence on the emerging vegetarian movement in Britain. Towards the close of the century, some foreign and British residents in colonial India founded vegetarian associations, thus taking back meat abstention to its alleged origins. These endeavors were closely linked to Theosophy, which had emerged as a „new religion“ inspired by Asian spirituality in preceeding decades, but also to Fabian socialism, imperial critique, and social reform. Interestingly enough, these appropriative initiatives found local collaborators, who did not only join these associations, but even translated writings of British advocates of vegetarianism into Indian languages and their own ones into English – albeit for motivations by no means congruent with those of their British partners. This paper examines the varying motivations of British and Indian actors, both of which were characterized by negotiations of the religious and the secular, as well as the body, the self, and society, at a time when increasing parts of Indian society turned away from vegetarianism, while others defended it in an increasingly militant manner. What British actors interpreted as humanitarian concerns, or so will be argued, was framed as an increasingly exclusive form of nationalism by Indian actors.
Judith Große, Zürich:
Cosmopolitanism, Secular Morality, and the Boundaries of Universalism in the Transnational Movement for Sexual Reform
This contribution examines the World League for Sexual Reform (1921-1935), a network of radical sex reformers, in its cosmopolitan aspirations, as a propagator of universal „sexual human rights“. The cosmopolitan outlook was connected to its founding figure Magnus Hirschfeld, a German sexologist of Jewish descent. It was explicitly grounded in the secular tradition of European enlightenment – the proclaimed enemy of the sex reform movement being the „repressive“ Christian sexual mores, for instance in the form of the so-called social purity movement. The limits of this liberal cosmopolitanism, i.e. its underlying Eurocentrism, shall be addressed by following the traces of Indian sexologist and eugenicist A. P. Pillay in the WLSR. While being a strong advocate of „modern science“, he based his vision of marriage reform (in the sense of an equal, companionate partnership) on principles he derived from Sanskrit scriptures. In his reinterpretation, Pillay sought to reconcile the antagonism between „materialist science“ and „spiritual religion“ which European proponents of sexual reform embraced as a fundamental principle. Finally, the paper argues that despite the persistence of Eurocentric thinking, some significant transformations occurred in this pattern of ‚Western‘ internationalism in the interwar sex reform movement. A significant example is the launch of Pillay’s International Journal for Sexology in Bombay that continued the legacy of the WLSR at a time when Nazi terror disrupted the movement in Central Europe.
Isabel Richter
Spiritual Seekers, Pilgrims and Psychonauts. Travelers to India and the Transformation of Religion in the long 1960s
My paper is a part of a larger research project taking up the historico-cultural thesis of value change and the “life-style revolution” in the long 1960s. It explores the cultural effects of travel and temporary migration to India among the youth of the 1960s and 1970s and the question of the making of a generation through “alternative” travel. The increasing number of autobiographical texts and travel-journals about the 1960s underlines the boom in traveling overland to India since the mid 1960s.
In my paper I will focus on the question why India became the epitome of “freedom”, “self-realization” and a holistic life in the counter and youth cultures of the long 1960s. It seeks to trace entanglements between Western Europe, India and the United States since the late 19th century highlighting the early psychoanalytic movement and the impact of some aspects of Indian philosophy and culture especially on C.G.Jung. The increasing interest in Eastern religions (Hinduism, Buddhism) in the middle classes in Western Europe in the late 19th century also underlines the effects and appropriations in the Lebensreform movement and its discovery of vegetarianism, naturopathy, and an outdoor life – practices and ideals which reached the US American West coast with European emigrants in the early 20th century. The evolution of yoga in Western Europe and the U.S. shows the resonance of an Indian religious practice and the metamorphosis into a predominantly physical body culture in the 20th century in “the West” . Furthermore, I will examine flows between Eastern meditation practices and entanglements with mind-expanding practices in the U.S. and in Western Europe in the 20th century.
My paper shall show that in the long 1960s India experienced a revival as a place of spiritual aspirations and hopes but also as a projection screen among teenagers and young adults. This is remarkable because after the Enlightenment in Western Europe philosophers and writers considered religion to be opposed to liberalization and emancipation; later, religion was also seen as the opposite of modernity in Western Europe. In their written self-narratives, contemporary witnesses usually describe themselves as “pilgrims” and “spiritual seekers” but as areligious and secular, too. This discovery of spirituality was closely linked to the contemporary transformation of religion, as a result of which religious attitudes no longer needed to be tied to religious institutions or fixed sets of religious norms or values.
Robert Kramm-Masaoka, Seoul/Zürich
Radical Utopianism at Tolstoy Farm: Building Communities at the Margins of Global Modernity
This paper examines Tolstoy farm near Johannesburg, South Africa, founded in 1910 by Mohandas Gandhi and his companion Hermann Kallenbach as an example for the astounding global pervasiveness of radical utopian communities in the first half of the twentieth century. It became a laboratory for spiritual, political and nutritional experiments to develop and exercise a new subjectivity through ideals of communal living, co-operative labor, and vegetarianism—and also a testing ground for anti-colonial resistance. It attracted Indian immigrants, South Africans and Europeans with different religious backgrounds. At Tolstoy Farm Gandhi and Kallenbach appropriated utopian ideals of Tolstoy and Ruskin, charged them with religious beliefs (Hinduism), and its amalgam envisioned a niche for anti-imperialist community building. From Johannesburg they not only maintained contacts to Tolstoy in Russia and his disciples in the Whiteway Colony, UK, but also to Southern India, where Gandhi met Sri Aurobindo, Mirra Alfassa and Paul Richard, a French anti-imperial, pan-Asianist pastor who was long time based in Japan. Yet, despite the ideals of harmony and emancipatory, communal projects were never free of asymmetric power relations. Tolstoy Farm thus offers an ideal opportunity to analyze the range—and limits—of actors of globalization, and highlights the connectivity and intersectional boundaries of the modern world.
Zeit
(Freitag) 11:15 - 13:15
Ort
Hauptgebäude
Hörsaal B
Veranstalter
H-Hörsaal CHauptgebäude
Überblick
(Eva Brugger, Jörn Happel, Basel) Anja
Überblick
(Eva Brugger, Jörn Happel, Basel)
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Währung, Ware, Wunschobjekt. Felle zwischen Markt und Hof im 15. Jahrhundert
Eva Brugger, Basel:
Transatlantisches Begehren.
Biberpelz und die Kolonie New Netherland (1609–1664)
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Biber und Vikuña: Globale Rohstoffe für die europäische Hutproduktion am Beispiel Wiens im 17. und 18. Jahrhundert Jörn Happel, Basel:
Pelzrausch. Sibirien in Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts
Heiner Lang, Bamberg:
Kommentar
Abstracts (scroll down for Englisch version):
Die Sektion „Globaler Rausch. Das Projekt Pelz vom 15. bis in das 19. Jahrhundert“ nimmt das Begehren nach einem globalen Objekt aus der Perspektive einer integrierten Wirtschaftskulturgeschichte in den Blick. Sie verfolgt das Ziel, Pelze als Motor und Antrieb globaler ökonomischer Projekte zu begreifen, die von wirtschaftstheoretischen Modellen wie Angebot und Nachfrage ebenso geprägt sind, wie von sozialen Beziehungen, Affekten und Materialitäten. Als Projekt – im Sinne zeitgenössischer Definitionen, wie sie etwa Daniel Defoe für das späte 17. Jahrhundert liefert – verstanden, sind Pelze vom 15. bis in das 19. Jahrhundert in besonderem Maße dazu geeignet, die Unsicherheiten und Gefahren ökonomischer Investitionen mit dem Versprechen auf Wohlstand und Prestige zu tilgen. Mit diesem Ansatz greift die Sektion zentrale Aspekte der aktuellen methodischen Diskussion auf: Zunächst stellen sich die Beiträge dem Vorwurf der Unvereinbarkeit von wirtschafts-, kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen. Die Ausbildung und Etablierung von (transatlantischen) Handelskompanien wird vielmehr ebenso thematisiert wie die Aushandlungen sozialer Distinktion und religiöser wie kultureller Unterschiede in Reiseberichten, Luxusverordnungen und Kostümbüchern. Die Beiträge greifen Fragen des material turns in den Geschichtswissenschaften auf und untersuchen Pelze auch als globale Objekte, die durch ihre Haptik und Ästhetik ein Begehren hervorbringen, das wiederum die Entstehung von Konsum- wie Luxusgütern, von Second-hand Märkten und Reproduktionen begünstigte. Dem Rausch der Pelze will die Sektion aus global- und verflechtungshistorischer Perspektive nachgehen und damit unterschiedliche, in der disziplinären Forschung meist getrennte regionale Perspektiven miteinander verschränken. Aus interepochaler wie interregionaler Perspektive sollen ökonomische Praktiken und ihre Affekte gleichermaßen in den Blick genommen und nach den historischen Netzwerken, Verbindungen und Handelswegen gefragt werden, die das Begehren nach Pelzen in der Vormoderne begründen und den Rausch antreiben.
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Währung, Ware, Wunschobjekt. Felle zwischen Markt und Hof im 15. Jahrhundert
Im Vortrag wird die Rolle von Fellen (z.B. Eichhörnchen, Zobel, Hermelin) im Handel zwischen der Hanse und anderen Kaufleuten und den europäischen Höfen im Spätmittelalter analysiert. Die Felle werden in ihrer Mehrfachbedeutung als Währung und Ware in ökonomischer Perspektive einerseits sowie als repräsentative Luxusobjekte und Bedeutungsträger in kulturhistorischer Perspektive andererseits untersucht. Fragen nach Ankauf, Transport und Wert(-schätzung) geraten dabei ebenso in den Blick wie die Verwendung der Felle als Kleiderschmuck und Raumausstattung im Schnittfeld von „Masse & Klasse“.
Eva Brugger, Basel:
Transatlantisches Begehren. Biberpelz und die Kolonie New Netherland (1609-1664)
Die Pelzvorkommnisse in nordamerikanischen Gebieten weckten im 17. Jahrhundert das Begehren europäischer Seemächte ebenso wie das von Handelscompanien, einzelnen Händlern und Projektemachern. Die Nachfrage nach Biberpelzhüten, Muffs, Kappen und Mänteln war durch die (west-)europäischen Biberbestände kaum zu befriedigen. Männer wie Frauen in den europäischen Metropolen wie Paris, London oder Amsterdam gierten nach den modischen Kleidungsstücken oder suchten nach Möglichkeiten einer kostengünstigen Reproduktion. Nicht zuletzt um dieses Begehren zu stillen, bemühten sich Engländer, Franzosen und Niederländer während des 16. und 17. Jahrhunderts Handelsstützpunkte mit kolonialen Strukturen in den Gebieten des heutigen Nordamerika und Kanada aufzubauen.
Das Paper schliesst an diese Beobachtung an und nimmt mit der Kolonie New Netherland ein Projekt in den Blick, das maßgeblich auf dem Begehren nach Pelzen fusst. Mit New Amsterdam – dem heutigen New York – steht eine Siedlung im Mittelpunkt, die im 17. Jahrhundert zum zentralen Umschlagsplatz für Pelze wurde. Vom Hafen Fort Amsterdam aus wurde entlang des Hudson Rivers mit den umliegenden nordamerikanischen Kolonien gehandelt. Die unbearbeiteten Felle wurden von hier aus nach Europa zur Verarbeitung oder als Kleidungsstücke nach Asien verschifft. Während sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten mit den so genannten „contact zones“ zwischen Europäern und Indigenen befasst hat, sind die wirtschafs-, kultur- und sozialhistorischen Implikationen des transatlantischen Pelzhandels bislang kaum analysiert. Mit dem Fokus auf die Ware wie die Währung Pelz will das Paper das Begehren nach Pelzen in den Mittelpunkt stellen und die Ausbildung ökonomischer Handelskompanien wie der Westindischen Handelskompanie (WIC) mit wirtschaftlicher Risiken und Versprechen auf Wohlstand verschränken. Ihre Gestalt gewinnt das Begehren in diesem Spannungsfeld bezeichnenderweise nicht zuletzt in Kleidung, die aus Pelz gefertigt oder mit Applikationen versehen, auf den sozialen Status ihrer Besitzer verweist.
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Biber und Vikuña: Globale Rohstoffe für die europäische Hutproduktion am Beispiel Wiens im 17. und 18. Jahrhundert
Der schwarze Biberhut Ludwigs XIV. mit scharlachroten Straußenfedern und Goldborte, abgebildet auf Henri Testelins Gemälde zur Gründung der Académie des Sciences 1666, wurde zum Inbegriff barocker Hutmode. Die europäische Hutproduktion orientierte sich insbesondere im Luxussegment im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an der französischen Mode. Auch Wien, das sich lange dem französischen Modediktat widersetzte, übernahm schließlich den französischen Biberhut als wichtiges Modeaccessoire. Obwohl Biber in Mitteleuropa kein unbekanntes Tierfell war, gab es in Wien keine ausgesprochene Biberhutproduktion. Denn der Biber war in Mitteleuropa längst ausgestorben und musste teuer importiert werden, zunächst aus Russland, ab dem 16. Jahrhundert aber vermehrt aus Kanada. Kaum ein Hutmacher in Wien war in der Lage, die exquisiten Biberhüte nach französischem Vorbild herzustellen, sodass ein Großteil des Adels seine Biberhüte direkt aus Frankreich importieren ließ. Biberfelle und ihre noch teurere Alternative, Vikuña aus den südamerikanischen Anden, zeichneten sich durch eine besondere Fellqualität aus, die dem Hut nach einer Reihe langwieriger und komplexer Verarbeitungsprozesse besondere Robustheit, Steifheit, aber auch Feinheit und Glanz verliehen. Der Vortrag zeigt die Globalisierung der Rohstoffe in der Hutproduktion auf und untersucht am Beispiel Wiens die Auswirkungen dieser Globalisierung auf das lokale Handwerk. Im Zuge des Biberhut-Hypes kam es nämlich zur Ansiedlung von französischen und italienischen Hutmachern in Wien, die das Gefüge des ansässigen Handwerks durcheinanderbrachten.
Jörn Happel, Basel:
Pelzrausch. Sibirien in Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde Sibirien im Zuge zahlreicher wissenschaftlicher Großexpeditionen gründlich erforscht, vermessen, kartographiert, beschrieben. Immer wieder faszinierte die Reisenden der Pelzreichtum des Landes, wenngleich den Gelehrtenvor Ort auch bewusst wurde, dass die Bejagung von Zobeln und weiteren Pelztieren wenig auf Nachhaltigkeit setzte. Zudem kam es aufgrund des Eintreibens der Pelzsteuer (jazak) bei der indigenen Bevölkerung Sibiriens immer wieder zu großen Auseinandersetzungen mit der russischen Verwaltung oder mit russischen Pelzjägern. Der Vortrag konzentriert sich auf die Erfahrung des Pelzlandes Sibirien im 18. und 19. Jahrhundert durch vornehmlich wissenschaftliche Reisende. Es interessiert, wie die russische Verwaltung an die Pelze gelangte, die anschließend über Moskau nach Westeuropa exportiert wurden, und wie Jagd und jazak die Kolonie veränderten und schrittweise durch das Zurückdrängen der einheimischen Völker auch russifizierten. Neben der Faszination für die Schönheit Sibiriens und seiner Pelze spielte in den Reise- und wissenschaftlichen Berichten stets die überall verbreitete Korruption, Gewalt und Misswirtschaft eine Rolle. All dies ist auch ein Teil der letztlich erfolgreichen Eroberung und Erschließung Sibiriens und lässt sich am Umgang mit den Pelztieren im besonderen Maße aufzeigen.
Abstracts (English version):
The panel “Global rush. The project fur from 15th to 19th century” discusses the desire for a global object from a perspective that integrates economic with cultural history. We see fur as an engine and motivation for global economic projects, which are characterized by economic models like supply and demand as well as by social relations, affects and materialities. In terms of a contemporary definition of projects such as Daniel Defoe’s definition from the late 17th century – fur is a particularly suitable example to show how the promise of wealth and prestige leveled uncertainties and risks of economic investments. With this approach the panel picks up central aspects of the current methodological discussion: The papers deal with the accusation of the incompatibility of economic, cultural and socio historical approaches. The development and establishment of (transatlantic) companies will be discussed as well as the negotiation of social distinction and religious and cultural differences in travelogues, sumptuary laws and costume books. The papers pick up questions of the material turn in history: The authors consider fur as global objects that create desire based on their textures and aesthetics. In turn, this desire promotes the development of luxury goods, second-hand markets and replicas. The panel will follow the rush of furs from a global historical perspective. By doing so, the aim is to entangle different regional perspectives that are often separated in disciplinary research. From an inter-epochal and inter-regional point of view the panel takes economic practices and their affects into account and asks for historic networks, connections and trade routes that boosted the global fur rush in Early Modern times.
Anja Rathmann-Lutz, Basel:
Currency, Goods, and Objects of Desire. Furs between Market and Court in 15th-Century Europe
The lecture will consider the role of furs (e.g. of squirrel, sable, ermine) in trade relations between the Hanseatic League, other merchants, and European courts during the later Middle Ages. They will be examined in their multiple meanings from an economic as well as from a cultural point of view: on the one hand they are currency and trading goods on the other they are used as representative luxury objects and cultural symbols. At the intersection of „mass and class“ the use of furs in fashion and room decoration will be analysed as well as questions regarding acquisition, transport and value.
Eva Brugger, Basel:
Transatlantic Desires. Beaver Fur and the Colony New Netherland (1609-1664)
Fur occurrences in North America generated the desire of European naval powers, trading companies, individual merchants and entrepreneurs in Early Modern times. The (West-) European fur resources were not able to meet the demand for beaver hats, fur muffs, caps and coats. Men and women in the European metropolises such as Paris, London and Amsterdam were longing for fashionable clothing or were searching for possibilities to replicate them affordably. Not least to satisfy this desire, merchants and the English, French and Dutch governments sought trading bases with colonial structures in the areas of today`s North America and Canada.
The present paper studies the colony New Netherland, which was mainly founded based on the desire for fur. The colony’s capital New Amsterdam – today`s New York – is the focal point of the paper as it became the main place of fur transshipment in the 17th century. From Fort Amsterdam fur was traded with the surrounding colonies along the Hudson River, raw pelts were shipped to Europe and fur clothing was shipped to Asia. In recent decades research focused mainly on the so-called “contact zones” between Europeans and Indigenes from an economic or cultural historical point of view. The entanglement of economic, cultural and socio historical impact on the transatlantic fur trade is less analyzed until today. By studying fur as both – a product and a currency – I intend to explain the development of trading companies like the West India Company (WIC) with economic risks and the promise on wealth.
Veronika Hyden-Hanscho, Wien:
Beaver and Vicuña: Globalized Commodities for the European Hat Production, the Viennese Example in the Seventeenth and Eighteenth Centuries
Louis‘ XIV black beaver hat with scarlet ostrich feathers and a golden border, depicted on Henri Testelins‘ painting on the foundation of the Académie des Sciences in 1666, became exemplary for the baroque hat fashion. The European luxury hat production looked to Paris in the seventeenth and eighteenth centuries. Even Vienna, which resisted much longer than any other German-speaking territory to the French influences in fashion, finally adopted the French beaver hat as important accessory. Although beavers were native in Central Europe, there was no particular beaver hat production in Vienna because long ago, the beaver was extinct in Europe and had to be expensively imported from Russia. Since the sixteenth century France imported increasingly Canadian beaver. Viennese hatters were barely able to make those exquisite French hats. As a consequence, the Viennese nobility had imports made directly from Paris to a large extent. Beaver furs and the even more expensive alternative vicuña from the central Andes in South America were famous for their quality. Robustness, starchiness as well as delicateness and lustre were the features of the beaver hats after a long row of complex processing procedures. This paper explores the globalization of the raw materials in the European hat production and its effects on the local handicraft by taking the example of Vienna. In the course of the beaver hat hype, French and Italian hatters settled in Vienna and gave rise to changes in the fabric of the local handicraft.
Zeit
(Freitag) 15:15 - 18:00
Ort
HWF-221
Hauptgebäude Westflügel