Wikipedia. Geschichtsfragmente auf Abruf

JAN HODEL (Aarau)

Abstract:

Im Zentrum der Diskussion um Wikipedia stand lange bzw. steht noch immer die Frage nach der wissenschaftlichen Qualität und Glaubwürdigkeit der jeweiligen Einträge. Vergessen wird dabei, dass die normative Kraft des Faktischen nicht nur die Qualitätsfrage aushebelt – offenbar ist die Wikipedia selbst für Akademiker im Alltagsgebrauch gut genug – sondern auch den Modus historischer Sinnbildung schleichend verändert. Da scheinbar jederzeit zu beinahe jedem noch so peripheren Detail der Geschichte ein Artikel in der Wikipedia aufgerufen werden kann, etabliert sich ein Umgang mit Geschichte, der sich vorwiegend auf den Abruf von Geschichtsfragmenten beschränkt. Historische Deutungen sowie ihre erkenntnistheoretischen Prämissen wie Perspektivität und Partikularität verschwinden in der Masse von Einzelbeiträgen, die einem objektivistischen Ideal einer ausgewogenen, „neutralen” Darstellung frönen. Denkt man Idee und Praxis der Wikipedia zu Ende, resultiert daraus eine pointillistische aber umfassende, totale Darstellung der gesamten Universalgeschichte. Doch selbstverständlich tragen auch die Wikipedia-Einträge Deutungen in sich, die in der Gliederung, Auswahl und Gewichtung des Dargestellten, aber auch in der Weglassung von Inhalten ihren Ausdruck findet. Hierzu passt auch die gängige Nutzung der Online-Enzyklopädie bei der Beschäftigung mit Themen der Geschichte: Die Artikel werden aufgerufen, um Lücken in bestehenden eigenen Geschichtsbildern zu schließen – eine konstruktive Auseinandersetzung mit ungewohnten oder irritierenden Erkenntnissen, die zu neuen Einsichten führt, resultiert daraus nur in den seltensten Fällen – es sei denn, und darin besteht paradoxerweise die eigentliche Hoffnung, die Nutzerinnen und Nutzer verfallen der Serendipität, lassen sich von den Hyperlinks auf Abwege bringen und stoßen auf Unerwartete Verbindungen. In jedem Fall ist die Wirkungsmacht der Wikipedia, die ja „nur“ eine Enzyklopädie sein will, in einer umfassenden Sicht aus verschiedenen Perspektiven zu befragen.