Sammeln für den Krieg. Genese und Funktion ethnologischer und volkskundlicher Sammlungen

REINHARD JOHLER (Tübingen)

Abstract:

Der Erste Weltkrieg hat vielfältige Formen von als vormodern, wenn nicht sogar überlebt erachteter Kultur – Kriegsaberglauben, Soldatenhumor, Prophezeiungen  – wieder in die Öffentlichkeit gerückt. Kein Wunder daher, dass Volkskundler von dieser unerwarteten Konjunktur ihren Themen zu profitieren suchten und dabei – getragen von den eigenen Fachvereinigungen (z.B. Verband der Vereine für deutsche Volkskunde; Deutsches Volksliedarchiv, Freiburg; Bayerisches Wörterbucharchiv, München), aber auch von unzähligen Einzelpersonen – große Sammlungen zur „Kriegsvolkskunde“ begründeten. Gesammelt wurde dabei in großen Aktionen Soldatenlieder und Soldatensprache, Soldatenbräuche und Soldatenglauben.
Dieses systematische Sammeln von allem Soldatischen – es kann mit Susanne Brandt durchaus als regelrechte Manie gesehen werden – zielte zum einen darauf, die neue Kultur des Krieges zu dokumentieren; gleichzeitig aber versuchten quer durch Europa die akademisch noch wenig etablierten Volkskundler mit diesen großen Sammlungen ihre universitäre Etablierung zu erreichen.
Der Umfang des gesammelten Datenmaterials, wie überhaupt der Rücklauf auf die verschiedenen Fragebogenaktionen, war enorm. Und so wurden während des Krieges fast nur geraffte Zusammenfassungen publiziert. Mit der Beendigung des Weltkriegs erschienen noch mehrere Monographien zu Themen der „Kriegsvolkskunde“ und die großen Sammlungsbestände wurden zudem für eine Reihe von Dissertationen genutzt. Aber insgesamt erlahmte das Interesse schnell, spätestens Ende der 1920er Jahre, um dann mit der nationalsozialistischen Machtergreifung bzw. dem Beginn des Zweiten Weltkriegs freilich unter ganz anderen Bedingungen wieder entdeckt zu werden. Erst in der Gegenwart aber werden diese Sammlungen – vergleichend in ganz Europa – systematisch untersucht. Im Vortrag soll daher ihre spezifische archivalische Überlieferungsbildung vorgestellt werden.

English Version:

Collection for the War. Origin and Function of Ethnological and Folkloristic Collections

World War One attracted notice to the public of several pre-modern culture elements: superstition of war, soldierly humor, prophecy. According to that folklorists tried to avail themselves of that opportunity and founded large collections on military and war folklore. They collected songs, language, rituals, and belief of soldiers. They were supported by professional association, e.g. Verband der Vereine für deutsche Volkskunde, Deutsches Volksliedarchiv, Bayerisches Wörterbucharchiv. Their aims were to keep records on a new culture of war and – nevertheless – to establish themselves in the academic society to make a career at the universities. These collections had been used after 1918 for many publications and dissertations. At the end of the 1920th the highpoint had been passed, but during the “Third Reich” and esp. at the beginning of the Second World War national socialists used this material for their purposes. Only during the last years theses collections have been analyzed seriously for Germany and Europe as a whole.