Losen statt Wählen: Ein herrschaftsfreies Verfahren zur Besetzung hoher Kirchenämter im Mittelalter?

WOLFGANG ERIC WAGNER (Münster)

Abstract:

Das erste bezeugte Beispiel für die Ernennung eines Funktionsträgers in der christlichen Gemeinde ist die Ersetzung des Apostels Judas durch Matthias (Apostelgeschichte 1,15-26). Er wurde nicht gewählt, sondern durch das Los für sein Amt bestimmt. Obwohl das Losverfahren in der Heiligen Schrift erwähnt wird und somit als Vorgabe dafür hätte dienen können, wie Gottes Wille zu ermitteln sei, hat es sich bei der Erhebung von Bischöfen und Ordensoberen, Päpsten und Patriarchen gegen die Abstimmung nicht durchsetzen können. Vielmehr wurde es 1223 von Papst Honorius III. für die westliche Kirche sogar untersagt.
Gleichwohl wurde im Westen auch danach auf diesen Modus des Entscheidens zurückgegriffen, z.B. wenn man sich anders nicht auf einen Kandidaten einigen konnte. Insbesondere haben sich christliche Sekten bei der Auswahl ihrer geistigen Anführer des Losens bedient. Die orthodoxen Kirchen der östlichen Christenheit wendeten das Losverfahren hingegen über Jahrhunderte hinweg bei der Wahl von Patriarchen, Erzbischöfen und Bischöfen an. Für das koptisch-orthodoxe Patriarchat von Alexandria lässt sich dieser Weg, ein neues Kirchenoberhaupt zu bestimmen, bis in das Jahr 96 n.Chr. zurückverfolgen, als der dritte Bischof in der Nachfolge des Hl. Markus verstorben war. Doch insgesamt ist das Los bei der Entscheidungsfindung über die Vergabe des höchsten Amtes in dieser Kirche bis heute nur zehn Mal verwendet worden, über 50 Mal wurde hingegen gewählt. Im russischen Novgorod wurden demgegenüber von den 19 oder 21 Bischöfen und Erzbischöfen zwischen 1156 und 1471 allein neun ausgelost.
Der Vortrag geht der Frage nach, in welchen historischen Situationen, unter welchen Bedingungen, auf das Losverfahren bei der Besetzung hoher kirchlicher Ämter in den christlichen Institutionen des Mittelalters zurückgegriffen wurde. Im Mittelpunkt stehen dabei mögliche Motive der Beteiligten, diesem Entscheidungsmodus gegenüber der Wahl den Vorzug zu geben.