Der Aufstieg jüdischer Bankiers und Unternehmer und deren Wahrnehmung in Wirtschaftskrisen in Mittel- und Ostmitteleuropa während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

CORNELIA AUST (Mainz)

Abstract:

Der Vortrag beleuchtet vor einem allgemeinen europäischen Hintergrund die Ausbildung einer neuen jüdischen Bankiers- und Unternehmerelite, die sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im ehemaligen Polen, das heißt dem Herzogtum Warschau und ab 1815 Kongresspolen, vollzog. Nach der Bankenkrise von 1793 und im Zuge der schweren politischen Krise und des Untergangs des polnischen Staates wie auch der Napoleonischen Kriege gelang es jüdischen Kaufleuten, Armeelieferanten und Unternehmern zunehmend ins Bankgeschäft einzusteigen. Die Vorgänge in Ostmitteleuropa ordnen sich dabei in den geographisch weitreichenden Aufstieg jüdischer Bankiers und Bankhäuser in weiten Teilen Europas im 19. Jahrhundert ein. Neben politischen und wirtschaftlichen Ursachen war diese Entwicklung durch die zumindest teilweisen Verbesserungen der rechtlichen Lage der Juden in Europa nach der Französischen Revolution bedingt. Anders als in West- und Mitteleuropa fand dieser Aufstieg in Polen vor dem Hintergrund einer weitreichenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung statt. Es soll vor allem anhand des polnischen Beispiels gezeigt werden, inwieweit jüdische Bankiers und Unternehmer als Gewinner von wirtschaftlichen und politischen Krisensituationen wahrgenommen und wie Krisengewinner und -verlierer im öffentlichen Diskurs identifiziert und dargestellt wurden. Hierbei spielten moralisch aufgeladene Deutungsmuster eine wichtige Rolle, die wie Auffassungen über den „spezifisch jüdischen“ Umgang mit Geld eine teilweise jahrhundertlange Tradition aufwiesen.

English Version:

The rise of Jewish bankers and entrepreneurs and their perception in economic crises in Central and East-Central Europe during the first half of the nineteenth century

In this paper, I will provide a closer look at the rise of a new Jewish banking and entrepreneurial elite in the former Polish state (i.e. the Duchy of Warsaw and the Congress Kingdom of Poland) since the end of the 18th century, keeping the developments elsewhere in Europe in mind. After the banking crisis of 1793 and the severe political crisis and the disappearance of the Polish State as well as during the years of the Napoleonic Wars, more and more Jewish merchants, army suppliers, and entrepreneurs managed to enter the banking business. This process was part of the geographically widespread rise of Jewish bankers and banking houses across Europe during the 19th century. Unlike in Western and Central Europe this development took place together with a far-reaching pauperization of the Jewish population. Using the Polish example, I will demonstrate how Jewish bankers and entrepreneurs were perceived in the public debates as winners of economic and political times of crisis. The question regarding winners and losers of crises was especially morally loaded in the case of Jewish bankers and entrepreneurs as it was tied to a century-old debate about the “specifically Jewish” practices of dealing with money.