Das Erbe des „Colbertismus“. Die staatliche Organisation des Wissens im Ancien Régime

CASPAR HIRSCHI (St. Gallen)

Abstract:

In der Wirtschaftsgeschichtsschreibung liberalen Zuschnitts ist Frankreich durch den sog. Colbertismus auf die Verliererstrasse geraten: Die Reformen unter dem Finanzminister Ludwigs XIV. hätten zu einem wirtschaftspolitischen Dirigismus geführt, unter dem Frankreich mit der aufstrebenden Weltmacht Großbritannien nicht mehr habe mithalten können. Der Beitrag korrigiert dieses Bild auf zwei Ebenen: Erstens stellt er heraus, dass die Reformen unter Colbert viel breiter ausgerichtet waren und letztlich auf eine verfahrensmässige Neuorganisation des staatlichen Wissens in ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Belangen abzielten, und zweitens zeigt er, dass ihre Auswirkungen zwar nicht den Intentionen der Reformer entsprachen, aber gerade in ihren unintendierten Konsequenzen wichtige Grundlagen des modernen Staats-, Wissenschafts- und Rechtsbetriebs geschaffen haben.

English Version:

According to a predominant view among liberal historians, France lost the economic competition with Britain at the moment when Jean-Baptiste Colbert, the finance minister of Louis XIV from 1661 to 1683, introduced a «dirigiste» control of private enterprise. This paper will take a closer look at Colbert’s reforms and present a different picture in at least two regards. First, it will show that the reforms did not actually aim at the control of «private enterprise», but, in a much broader sense, at the collection, organisation and distribution of politically useful knowledge. Secondly, it will argue that some measures introduced under Colbert brought the French crown considerable advantages in the political competition with foreign powers and that, in the long run, they also contributed to the strong standing of French science and scholarship in the age of enlightenment and beyond.