Rüdiger Graf (Sektionsleitung)

Wie die Tiere? Analogien und Differenzierungen zwischen Animalischem und Humanem im 20. Jahrhundert

Abstract

In ihrer Geschichte der Primatologie kritisierte Donna Haraway Ende der 1980er Jahre Versuche, aus der Beobachtung von Menschenaffen Wissen über menschliche Gesellschaften abzuleiten, und betonte demgegenüber die soziale Konstitution auch naturwissenschaftlichen Wissens. Obwohl letztere inzwischen weit über die feministisch inspirierten Kulturwissenschaften hinaus anerkannt ist, erheben doch immer wieder Primatologen, Ethologen oder Biologen den Anspruch, mit Hilfe von Tierbeobachtungen auch menschliches Verhalten zu erklären. Die Frage nach der Übertragbarkeit ihrer Erkenntnisse auf den Menschen hat die Tierethologie, die im 20. Jahrhundert zu einer eigenständigen Disziplin wurde, von ihren Anfängen an begleitet. Auch im breiteren öffentlichen Diskurs und in vielen anderen Wissensfeldern dienten Vergleiche zwischen Mensch und Tier oft zur anthropologischen Identitäts- und Differenzbestimmung. Ausgehend von diesem Befund wird in der Sektion ausgelotet, wo und auf welche Weise aus der wissenschaftlichen Beobachtung von Tieren gewonnenes Wissen zur Erklärung menschlicher Verhaltensweisen und sozialer Prozesse eingesetzt wurde. Im Zentrum stehen dabei die Kriminologie und Täterforschung, die Nutzung verhaltensbiologischer Argumente in der Kindererziehung und die animalistische Deutung wirtschaftlichen Verhaltens. Komplementierend wird aber auch gefragt, inwiefern anthropologische Kategorien und Annahmen das Wissen vom Animalischen mitgeprägt haben. Mit dieser Perspektive unterscheidet sich die interdisziplinär angelegte Sektion von den in jüngster Zeit expandierenden Human-Animal-Studies und fragt vielmehr nach dem Wandel der Deutung von Mensch und Gesellschaft im Medium der Tieranalogie im 20. Jahrhundert.

Nina Verheyen (Essen/Köln)
Moderation
Georg Toepfer (Berlin)
Wie die Menschen! Wann und warum die Tiere im 20. Jahrhundert zu „Sprache“, „Geist“ und „Kultur“ fanden

Im Vortrag wird rekonstruiert, wie die großen Begriffe, die ehemals den Menschen als eine distinkte Spezies auszeichneten, im Laufe des 20. Jahrhunderts diese Funktion verloren haben: Die Kommunikation von Bienen wurde zur ›Sprache‹, die lokalen Traditionen von Schimpansen zur ›Kultur‹ und das intelligente Verhalten vieler Tiere zum Ausdruck von ›Geist‹. Nachdem auch andere Begriffe wie ›Sozialverhalten‹, ›Bewusstsein‹ und ›Freiheit‹ ihren Status als Distinktionskategorien verloren haben und der Mensch selbst als ein Tier verstanden wird, stellt sich die Frage, auf welcher begrifflichen Grundlage und in welchen Verfahren sich die noch immer herrschende Praxis der Distinktion entfaltet.

Rüdiger Graf (Potsdam)
Animal Spirits und Decision-Making Organisms. Tierische Perspektiven auf wirtschaftliches Verhalten.

Wo Ökonomen im 20. Jahrhundert nicht damit zufrieden waren, Modellrechnungen mit einem idealisierten, rationalen Nutzenmaxierer anzustellen, sondern das tatsächliche Verhalten wirtschaftender Menschen erklären wollten, griffen sie oft auf Erkenntnisse aus dem Tierreich zurück. Ausgehend von dieser Beobachtung wird die genaue Bedeutung von Tieranalogien und -experimenten für die Veränderung ökonomischen Wissens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht. Anhand von verhaltensökonomischen Theorien und biologistischen Erklärungen ökonomischer Wachstumsprozesse werden dabei der Wandel von Subjekt- und Rationalitätsvorstellungen diskutiert.

Marcus Böick (Bochum)
Das Tier im Täter: Kriminologische Diskurse über menschliches Gewaltverhalten

Spektakuläre Fälle extremer Gewaltverbrechen erzeugen in Öffentlichkeit und Politik ein intensives Bedürfnis nach rationalen Erklärungen für das scheinbar Irrationale. Tierisches Verhalten war dabei ein wichtiger Bezugspunkt: Lassen sich aus dem „Tierreich“ möglicherweise Rückschlüsse für menschliches Gewalt-Verhalten ziehen, bei dem das zivilisatorisch vermeintlich gezähmte „Tier im Menschen“ eruptiv an die Oberfläche bricht? Derlei Vorstellungen wirkten auch in kriminalistische Täter-Debatten hinein. An ausgewählten Beispielen soll der Stellenwert animalistisch-biologistischer Argumentationsweisen in kriminologischen Fachdiskursen im Laufe des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet werden.

Sophia Gräfe (Marburg)
Streitfall Verhalten – Verhaltensbiologie zwischen Tierforschung und Sozialhygiene

In der DDR verlief die Auseinandersetzung um das „biologischen Substrat“ des Verhaltens unter besonderen Bedingungen, standen der Verhaltensbiologie dort materialistische Erklärungsmodelle von Persönlichkeit und Entwicklung entgegen, welche die Gesellschaft als entscheidenden Faktor für die Herausbildung von Verhaltensweisen annahmen. Der Vortrag zeichnet die politischen Konfliktlinien der Verhaltensbiologie zwischen 1960 und 1985 am Gegenstand kindlicher Verhaltensstörungen nach. Er thematisiert dabei Isolationsexperimente, die im Zusammenhang mit Fragen über die kollektiv-gesellschaftliche vs. familiäre Verantwortung für die Erziehung sowie die Prävention von Verhaltensanomalien standen.