Deutungskämpfe
Deutungskämpfe begleiten historische Entwicklungen und dynamisieren ihre gesellschaftliche Wahrnehmung, weil stets umkämpft ist, was in einer Gesellschaft als wahr, gerecht oder legitim gilt. Der Blick auf Ursachen oder Auswirkungen von Kriegen und Friedensschlüssen, Staatsgründungen oder Zerfall von Gemeinwesen, auf soziale, wirtschaftliche oder kulturelle Umwälzungen führten und führen zu Deutungskämpfen, die nicht selten durch aktuelle Problemlagen beeinflusst sind. So standen die harten Konflikte seit den 1960er Jahren über die Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg unter dem Eindruck der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Über konkurrierende Deutungen der Vergangenheit wird nicht zuletzt die Zukunft verhandelt.
Deutungskämpfe sind deshalb ein wichtiger Motor für eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sowohl integrative als auch spaltende Kraft besitzen kann, wie sich beispielsweise am ambivalenten Umgang vieler ost(mittel)europäischer Staaten mit ihrer Geschichte zeigt.
Zeitgenössische Deutungskämpfe sind für Historikerinnen und Historiker wichtige Quellen für einander widersprechende oder sich gegenseitig befruchtende Ordnungsvorstellungen, Positionen und Wissenspraktiken. Die Geschichtswissenschaft kann Narrative und Diskurse, deren Entstehungen, Entwicklungen und Verflechtungen mit ihrem methodischen Instrumentarium offenlegen und damit ein tiefergehendes Verständnis für die Komplexität der Gegenwart und konkurrierende Perspektiven ermöglichen. Deutungskämpfe führen deshalb nicht zuletzt zur methodischen Reflexion der Grundlagen historischer Erkenntnis.
Die Beschäftigung mit methodischen Zugängen ist heute angesichts sich dynamisch ändernder Rahmenbedingungen, etwa des beschleunigten medialen Wandels und der Einschränkung von Forschungsfreiheit zwingend erforderlich. Vielleicht ist die Auseinandersetzung mit Deutungskämpfen angesichts politisierter Angriffe auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse heute notwendiger denn je, um politische und gesellschaftliche Denk- und Handlungszusammenhänge sichtbar zu machen.