Anna-Carolin Augustin Miriam Rürup (Sektionsleitung)

Wessen Erbe? Deutungskämpfe um europäisch-jüdisches Kulturgut in Israel, den USA und Deutschland nach 1945

Abstract

Vorbemerkung
Kulturelle Deutungskämpfe prägten nach dem Zweiten Weltkrieg den Umgang mit den Resten der – zu großen Teilen durch die Nationalsozialisten zerstörten – materiellen Kultur des europäischen Judentums. Die Frage, wer legitimer Verwalter, Besitzer oder Nutznießer jüdischer Bibliotheken, Archive oder Zeremonialobjekte sein dürfe und wofür diese materiellen Zeugnisse wo und von wem verwendet werden sollten, wurde von unterschiedlichen Akteuren und Institutionen diskutiert, politisch verhandelt und in der Praxis verschieden beantwortet.
Jüdische Rechtsnachfolgeinstitutionen waren nach Kriegsende in den Besatzungszonen Deutschlands mit der Suche nach erbenlosen jüdischen Bibliotheken, Archiven und Zeremonialobjekten befasst. Neben diesen Organisationen nahmen sich aber auch einzelne jüdische und nicht-jüdische Akteure – Sammler, Archivare, Bibliothekare, Museumsmitarbeiter – dem jüdischen Kulturerbe durch individuelle Interventionen an. In den unterschiedlichen Positionen und Praktiken im Umgang mit den jüdischen Kulturgütern nach 1945 spiegeln sich Deutungskonflikte um individuelle ebenso wie kollektive Selbstverständnisse. Im Kern bestand die Frage der Zeitgenossen darin: Wer konnte und sollte sich als „Erbe“ der Spuren jüdischen Lebens annehmen? Und welche Geschichte konnte und, am zentralsten: von wem und wem sollte sie erzählt werden? Die Entstehung beziehungsweise Entwicklung deutsch-jüdischer Geschichtsschreibung ist daher eng mit dem Beziehungsgeflecht und kulturellen Ringen zwischen Deutschland und der jüdischen Diaspora/Israel verbunden. Wie sehr diese Konfliktlinien der frühen Nachkriegszeit nachhallen, zeigt sich bis heute im wachsenden Feld der Provenienzforschung, bei der voranschreitenden Digitalisierung archivalischer Bestände als Zusammenführung zerstreuten Kulturguts, sowie in der jüngsten Diskussion um die (Neu)Ausrichtung jüdischer Museen. Diese aktuellen Debatten sind bis heute mit den kulturellen Deutungskämpfen der Nachkriegszeit verwoben und regen dazu an, ebendiese Anfänge der Aushandlungen über den „Ort“ jüdischer Geschichte und Geschichtsschreibung neu zu befragen.
Sektion
Die Beiträge der Sektion beschäftigen sich mit Aushandlungsprozessen über den Umgang mit dem materiellen Kulturerbe des europäischen Judentums aus israelischer, amerikanischer und deutscher Sicht. So sollen drei Perspektiven auf die jüdische Zeitgeschichte verbunden werden, die für die Diskussion um den „Ort“ jüdischer Geschichte stehen und einen multiperspektivischen Blick auf zentrale Gegenstände materieller Kultur ermöglichen: archivalische Quellen, Bücher in Bibliotheken und Zeremonialobjekte in Museen. Diese drei Objektgruppen, die die historische Forschung meist getrennt voneinander behandelt, werden hier gemeinsam als Fallstudien für den historischen Blick auf den Umgang mit jüdischem Kulturerbe betrachtet. Irene Aue-Ben-David (Leo Baeck Institute, Jerusalem) wird in ihrem Beitrag „Aus der Ferne. Neue Bezugnahmen auf die Geschichte des deutschen Judentums nach der Shoah (1960er/1970er Jahre)“ nach der Rezeption deutscher Geschichtsschreibung in Israel in den 1960er/1970er Jahren fragen und damit den Rahmen dafür setzen, was den besonderen Blick von Israel auf deutsch-jüdische Geschichte ausmachte. Im Mittelpunkt ihres Vortrags stehen Deutungen deutschjüdischer Geschichte nach der Shoah. Dabei werden vor allem die institutionellen, nationalen Kontexte und sowie die materiellen Grundlagen in den Blick genommen. Als Fallbeispiele dienen dafür zum einen das Werk der Historikerin Selma Stern (1890-1981), die 1941 aus Deutschland floh und in den USA im Rahmen des jungen Leo Baeck Instituts in den 1960er und frühen 1970er Jahren ihre Forschungen aus der Zwischenkriegszeit zu einem Abschluss brachte. Zum anderen thematisiert der Vortrag die Erforschung der deutsch-jüdischen sowie deutschen

Irene Aue-Ben-David (Jerusalem)
Aus der Ferne. Neue Bezugnahmen auf die Geschichte des deutschen Judentums nach der Shoah (1960er/1970er Jahre)
Anna-Carolin Augustin (Washington, D.C.)
„Aus dem Brande gerettete Reste“ – Der Wettlauf um Zeremonialobjekte europäisch-jüdischer Provenienz nach 1945

Der Beitrag von Anna-Carolin Augustin (DHI Washington) setzt sich in ihrem Vortrag fokussierend auf das Dreieck Israel-Deutschland-USA – mit dem Nachkriegsringen um jüdische Zeremonialobjekte und deren Rolle bei der Musealisierung jüdischer Geschichte auseinander. Es geht dabei um die Suche, Aneignung und Deutung jüdischer Zeremonialobjekte durch ganz unterschiedliche jüdische wie nichtjüdische Akteure und Institutionen in der Nachkriegszeit. Gezielt wird einerseits der Verbleib der Objekte in Deutschland sowie andererseits der Transfer der Objekte nach Israel oder in die USA reflektiert und die jeweilige Rolle der Objekte – insbesondere im Kontext der Musealisierung jüdischer Geschichte aber auch in Bezug zu aktuellen Provenienz- beziehungsweise Restitutionsdebatten – hinterfragt.

James McSpadden (Reno, NV)
Beschlagnahmte Bücher, NS-Raubgut und Bibliotheken in den USA

James McSpadden (University of Nevada) diskutiert in seinem Vortrag über die Praxis der US-Militärregierung, Bücher – unter anderem aus ehemals jüdischem Besitz – in die USA zu transferieren. Es geht insbesondere um die Folgen der „Library of Congress Mission to Europe“. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte diese ungefähr zwei Millionen Bücher, Zeitungen, Landkarten, Film- und Tonaufnahmen und andere Veröffentlichungen in die USA und verteilte sie an fast 200 verschiedene amerikanische Forschungs- und Universitätsbibliotheken. So kamen unbeabsichtigterweise auch geraubte Bücher beispielsweise von jüdischen Einrichtungen in die USA. Bereits in den 1940er Jahren war die US-amerikanische Beschlagnahmung der Büchern bei Bibliothekaren in den USA umstritten. Widerstreitende Deutungen bestimmten die Diskussion: Waren die Bücher als Kriegsentschädigung legitim enteignet, oder hatten die Bibliothekare unrechtmäßig Bücher entwendet? Dieser Vortrag untersucht die Entwicklung dieser amerikanischen Debatten und fragt zugleich nach dem Stand der heutigen Provenienzdebatte in amerikanischen Bibliotheken.

Miriam Rürup (Hamburg)
Zwischen Hamburg und Jerusalem: Diskussionen um den Umgang mit dem jüdisch-archivalischen Erbe als Beispiel für den Konflikt zwischen Diaspora und Israel

Mit der Frage, wem gehört das archivalische „Gedächtnis“ des Kollektivs – dem neuen Staat Israel oder der jüdischen Diaspora – beschäftigt sich der Vortrag von Miriam Rürup (IGdJ Hamburg). In Hamburg überdauerte das Archiv der jüdischen Gemeinden die NS-Jahre weitgehend unbeschädigt. Ab 1948 bemühten sich die heutigen Central Archives for the History of the Jewish People (Jerusalem) darum, diese Bestände nach Israel zu überführen. Dagegen wehrten sich in Hamburg sowohl jüdische wie nicht-jüdische Protagonisten. Der Vortrag geht am Beispiel des Streitfalls der Frage nach, wie im ersten Nachkriegsjahrzehnt darum gerungen wurde, wo das „jüdische Erbe“ hingehöre. Im zionistischen Selbstverständnis gehörte dieses Erbe in den neu gegründeten Staat Israel. Für die neu gegründete jüdische Gemeinde in Hamburg diente es hingegen der Legitimation jüdischen Lebens in der Diaspora.

Moshe Zimmermann (Jerusalem)
Kommentar
Elisabeth Gallas (Leipzig)
Moderation