Nina Mackert Peter-Paul Bänziger (Sektionsleitung)

Und das soll gesund sein? Deutungskämpfe um Gesundheit 1850–2000

Abstract

Gesund zu sein, das ist in der jüngsten Zeitgeschichte zu einem Imperativ geworden, der auf mehr verweist als die Tatsache, nicht krank zu sein. Erstens steht Gesundheit für erfolgreiche Selbstführung und ist damit ein Vehikel gesellschaftlicher Anerkennung. Krankheit dagegen gilt mehr und mehr als Konsequenz eines falschen Lebensstils, von Unwissen, Unwillen, mangelnder Selbstkontrolle sowie – jüngst besonders akzentuiert im Kontext der SARS-CoV-2-Pandemie – als Zeichen fehlenden Ver-antwortungsbewussseins. Zweitens funktioniert Gesundheit nicht nur in Abgrenzung von Krankheit. Mitte des 20. Jahrhundert formulierte die WHO, Gesundheit sei ein „Zustand des vollständigen kör-perlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“. Sie fungiert damit als nach oben offenes, letztlich unmögliches Ideal, das ein breites Spektrum an Selbsttechniken hervorbringt. Dabei ist stets um-kämpft, was genau gesund sein soll.
Die Sektion adressiert diese Deutungskämpfe um Gesundheit auf zwei Ebenen. Die Beiträge beschäf-tigen sich zum einen mit historisch variablen Deutungen dessen, was als gesund für Körper und Geist galt, und wer sich überhaupt als gesund qualifizieren konnte. Zum anderen beleuchten sie die Ord-nungsfunktion von Gesundheit als modernem Imperativ, dem sich kaum etwas entgegensetzen lässt.
In beiderlei Hinsicht standen bisher produktive Körper im Fokus der Historiografie – vom Human Motor der Jahrzehnte um 1900 über die Versehrten der beiden Weltkriege bis zum sportlich-leistungsfähigen Manager der Zeitgeschichte. Tatsächlich lässt sich nicht bezweifeln, dass Arbeit und Leistungsfähigkeit wohl fast in jedem Gesundheitsregime der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte eine wichtige Rolle spielten. Ausgehend von der These, dass soziale Ordnung im 20. Jahrhundert nicht allein über Arbeit hergestellt wurde, gehen die Vorträge jedoch über diesen Fokus hinaus. Sie fragen nach Deutungskämpfen um Gesundheit in Debatten über Konsum und Freizeit, über Wohlfahrt und Lebensqualität. Dabei beleuchten sie wie sich seit dem mittleren 19. Jahrhundert ein normatives Ideal von Gesundheit herausbildete, dass nicht nur einen gesunden Körper, sondern auch ein infor-miertes, sich selbst helfendes, nach Wohlbefinden und Glück strebendes sowie gesellschaftlich ver-antwortungsbewusstes Subjekt umfasste.

Peter-Paul Bänziger (Basel)
Überfülle des Erlebens oder notwendige Abwechslung? Deutungskämpfe um Konsum und Gesundheit, ca. 1850-1930

Feste und Luxus waren für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts ein beständiger Anlass zur Sorge um die Gesundheit. Das Ethos der Mäßigung und der soziale Rahmen von Familie und Bekanntschaft sollten dafür sorgen, dass es nicht zum krankmachenden Exzess kam. Um 1900 wurde dieses Denken herausgefordert. Mit dem Aufschwung der Konsumgüterindustrie kam es zu einer Aufwertung der Binnennachfrage. Was gut war für die Ökonomie, wurde vor diesem Hintergrund argumentiert, konn-te für die individuelle Gesundheit so schlecht nicht sein. Zugleich stellte man erstaunt fest, dass für die Körper der Unterklassen andere Gesetze zu gelten schienen: Während das Bürgertum unter einer „Überfülle des Erlebens“ litt und sich auf dem Zauberberg der Liegekur hingab, suchten jene nach immer neuen Erlebnissen. Nicht diese waren ein Anlass zur Sorge um Gesundheit und Wohlbefinden, sondern die Langeweile, am Arbeitsplatz genauso wie in der Freizeit. Der Beitrag zeichnet nicht nur die bürgerlichen Deutungskämpfe nach, sondern fragt auch nach den Perspektiven der erlebnisorien-tierten Menschen selbst. In gewisser Hinsicht lebten sie vor, was heute vielfach gefordert wird: An-statt sich

Nina Mackert (Leipzig)
Eat Your Way to Health. Zur Entstehung von Gesundheit als Fähigkeit in den USA des frühen 20. Jahrhunderts

Die Popularisierung der Kalorie, der Einzug von Körperwaagen in Privathaushalte, eine Fülle von Ernährungsratgebern: Im frühen 20. Jahrhundert trug eine Reihe von Phänomenen in westlichen Konsumgesellschaften dazu bei, neues Wissen vom Körper, seiner Gesundheit und Ernährung zu zirkulieren. Ihnen gemein war, dass sie Menschen dabei helfen sollten, sich selbst um die Verbesserung ihrer Gesundheit zu kümmern und ihre Ernährung zu gestalten. Gesundheit wurde zu einem Gut, das Menschen selbst in der Hand zu haben schienen. Ein gesunder Körper entwickelte sich zu einem zentralen Ausweis von Wissen, Selbstkontrolle und Selbsthilfe und mithin von Fähigkeiten, die als notwendige Qualitäten von Bürgerinnen und Bürgern in liberalen Gesellschaften galten und gelten. Gleichzeitig entbrannte eine Debatte darum, ob das neue Gesundheitswissen nicht auch eine Gefahr für die angestrebte Selbstführung bildete, indem es abstrakte Prinzipien an die Stelle selbst gefällter Urteile setzen würde. Anhand der Geschichte von Ernährung und Kalorienzählen in den USA zeigt der Beitrag, wie Gesundheit im frühen 20. Jahrhundert zu einer Fähigkeit wurde und damit zur Ordnung des Sozialen beitrug, und wie über Gesundheit um diese Ordnung gestritten wurde.

Yvonne Robel (Hamburg)
Leben Faule länger? Diskurse über gesundheitliche Folgen von Müßiggang und Nichtstun seit den 1960er Jahren

Zeiten des Faulseins, Müßiggangs oder Nichtstuns gelten heute als Teil eines planbaren Lebensglücks, das mit einem gesunden Körper assoziiert wird. Während Faulheit oder sogenannte Arbeitsscheu in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch als Symptom gesundheitlicher Missstände betrachtet wurde, verlagerte sich der Blick seit den 1960er Jahren zunehmend auf die gesundheitlichen Folgen von Faulheit oder Müßiggang. Damit fungierte der gesunde oder kranke Körper nicht mehr als Ursa-che, sondern als Resultat des Nichtstuns. Dies äußerte sich sowohl im negativen Sinne, wenn in Me-dizin, Psychologie oder Soziologie etwa über die Wirkung von Arbeitslosigkeit oder über den „Bore-out“ als neuer Krankheit verhandelt wurde, als auch im positiven Sinne, wenn Ratgeber Nichtstun als präventive oder gar lebensverlängernde Maßnahme einstuften. Der Beitrag diskutiert differierende Deutungen von gesundheitlichen Folgen des Nichtstuns seit den 1960er Jahren und fragt dabei, in-wiefern sich das wachsende Interesse daran mit einer seit den 1970er Jahren zu beobachtenden „The-rapeutisierung“ der bundesdeutschen Gesellschaft erklären lässt.

Pascal Germann (Bern)
Gesundheit als Lebensqualität. Zum Aufstieg eines neuen Deutungsmusters in Medizin und Gesellschaft, 1960-2000

Mit der neu geschaffenen Vokabel der Lebensqualität wurde in den USA der Johnson-Ära ein gesellschaftlicher Zielbegriff kreiert, dessen Aufstieg spektakulär war: Er fand Eingang ins Vokabular von Regierungen, löste in den Sozialwissenschaften einen Forschungsboom aus und rückte ins Zentrum von Wohlfahrtsprogrammen internationaler Organisationen. In kaum einem Bereich entfaltete der Begriff aber eine solche Wirkmächtigkeit wie in der Medizin. Ein florierendes Forschungsfeld entstand, das auf die Vermessung von gesundheitsbezogener Lebensqualität abzielte. In der Folge entwickelte sich Lebensqualität zu einem zentralen medizinischen Erfolgskriterium, das die herkömmlichen Ziele der Heilung und Lebensverlängerung herausforderte. Die Technologien und Semantiken der Lebensqualität beförderten Visionen eines individualisierten und demokratisierten Gesundheitsverständnisses, trugen aber auch zu einer Ökonomisierung der Gesundheit bei. Am Beispiel der WHO untersucht der Beitrag, wie sich Deutungen und Praktiken der Gesundheit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegend veränderten.

Maren Möhring (Leipzig)
Chair/Kommentar