Nina Mackert Peter-Paul Bänziger (Chair of the panel)

This can’t be healthy. Conflicts About Health, 1850-2000

Abstract

In the past decades, to be healthy has meant by far more than simply not to be sick. Firstly, health has become synonymous with successful self-government and thus a crucial precondition for social recognition. In contrast, illness has increasingly been moralized as a consequence of problematic conduct, of ignorance, stubbornness, and deficient self-control. Secondly, health is more than the absence of disease but has since the mid-20th century been described as a »state of complete bodily, mental and social well-being« (WHO 1948). What exactly this meant was contested permanently. Health therefore functions as an ideal that cannot be fully achieved while at the same time fostering a broad range of techniques of the self. The panel addresses this topic from two angles. On the one hand, the papers analyze conflicting interpretations of what to be healthy meant in different historical contexts. On the other hand, they examine the function of health as a moral imperative that can hardly be contested. In both respects, historiographical investigation has primarily focused on productive bodies – from the human motor of the decades around 1900 to the disabled veterans of the world wars and the athletic and efficient managers of contemporary history. And there is no doubt that the capacity to work (productively) has played a pivotal role in almost every regime of health of the past 150 years. However, starting from the observation that social order is not only produced through work, the panel seeks to broaden the perspective. We analyze conflicts about health in the context of consumption and leisure, in debates on welfare and life quality, and in depictions of persons who don’t work (anymore). And we show how, since the mid-19th century, an ideal of health was established that not only required a healthy body but a subject that is well-informed and self-governed in its pursuit of well-being and happiness.

Peter-Paul Bänziger (Basel)
Überfülle des Erlebens oder notwendige Abwechslung? Deutungskämpfe um Konsum und Gesundheit, ca. 1850-1930

Feste und Luxus waren für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts ein beständiger Anlass zur Sorge um die Gesundheit. Das Ethos der Mäßigung und der soziale Rahmen von Familie und Bekanntschaft sollten dafür sorgen, dass es nicht zum krankmachenden Exzess kam. Um 1900 wurde dieses Denken herausgefordert. Mit dem Aufschwung der Konsumgüterindustrie kam es zu einer Aufwertung der Binnennachfrage. Was gut war für die Ökonomie, wurde vor diesem Hintergrund argumentiert, konn-te für die individuelle Gesundheit so schlecht nicht sein. Zugleich stellte man erstaunt fest, dass für die Körper der Unterklassen andere Gesetze zu gelten schienen: Während das Bürgertum unter einer “Überfülle des Erlebens” litt und sich auf dem Zauberberg der Liegekur hingab, suchten jene nach immer neuen Erlebnissen. Nicht diese waren ein Anlass zur Sorge um Gesundheit und Wohlbefinden, sondern die Langeweile, am Arbeitsplatz genauso wie in der Freizeit. Der Beitrag zeichnet nicht nur die bürgerlichen Deutungskämpfe nach, sondern fragt auch nach den Perspektiven der erlebnisorien-tierten Menschen selbst. In gewisser Hinsicht lebten sie vor, was heute vielfach gefordert wird: An-statt sich

Nina Mackert (Leipzig)
Eat Your Way to Health. Zur Entstehung von Gesundheit als Fähigkeit in den USA des frühen 20. Jahrhunderts

Die Popularisierung der Kalorie, der Einzug von Körperwaagen in Privathaushalte, eine Fülle von Ernährungsratgebern: Im frühen 20. Jahrhundert trug eine Reihe von Phänomenen in westlichen Konsumgesellschaften dazu bei, neues Wissen vom Körper, seiner Gesundheit und Ernährung zu zirkulieren. Ihnen gemein war, dass sie Menschen dabei helfen sollten, sich selbst um die Verbesserung ihrer Gesundheit zu kümmern und ihre Ernährung zu gestalten. Gesundheit wurde zu einem Gut, das Menschen selbst in der Hand zu haben schienen. Ein gesunder Körper entwickelte sich zu einem zentralen Ausweis von Wissen, Selbstkontrolle und Selbsthilfe und mithin von Fähigkeiten, die als notwendige Qualitäten von Bürgerinnen und Bürgern in liberalen Gesellschaften galten und gelten. Gleichzeitig entbrannte eine Debatte darum, ob das neue Gesundheitswissen nicht auch eine Gefahr für die angestrebte Selbstführung bildete, indem es abstrakte Prinzipien an die Stelle selbst gefällter Urteile setzen würde. Anhand der Geschichte von Ernährung und Kalorienzählen in den USA zeigt der Beitrag, wie Gesundheit im frühen 20. Jahrhundert zu einer Fähigkeit wurde und damit zur Ordnung des Sozialen beitrug, und wie über Gesundheit um diese Ordnung gestritten wurde.

Yvonne Robel (Hamburg)
Leben Faule länger? Diskurse über gesundheitliche Folgen von Müßiggang und Nichtstun seit den 1960er Jahren

Zeiten des Faulseins, Müßiggangs oder Nichtstuns gelten heute als Teil eines planbaren Lebensglücks, das mit einem gesunden Körper assoziiert wird. Während Faulheit oder sogenannte Arbeitsscheu in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch als Symptom gesundheitlicher Missstände betrachtet wurde, verlagerte sich der Blick seit den 1960er Jahren zunehmend auf die gesundheitlichen Folgen von Faulheit oder Müßiggang. Damit fungierte der gesunde oder kranke Körper nicht mehr als Ursa-che, sondern als Resultat des Nichtstuns. Dies äußerte sich sowohl im negativen Sinne, wenn in Me-dizin, Psychologie oder Soziologie etwa über die Wirkung von Arbeitslosigkeit oder über den “Bore-out” als neuer Krankheit verhandelt wurde, als auch im positiven Sinne, wenn Ratgeber Nichtstun als präventive oder gar lebensverlängernde Maßnahme einstuften. Der Beitrag diskutiert differierende Deutungen von gesundheitlichen Folgen des Nichtstuns seit den 1960er Jahren und fragt dabei, in-wiefern sich das wachsende Interesse daran mit einer seit den 1970er Jahren zu beobachtenden “The-rapeutisierung” der bundesdeutschen Gesellschaft erklären lässt.

Pascal Germann (Bern)
Gesundheit als Lebensqualität. Zum Aufstieg eines neuen Deutungsmusters in Medizin und Gesellschaft, 1960-2000

Mit der neu geschaffenen Vokabel der Lebensqualität wurde in den USA der Johnson-Ära ein gesellschaftlicher Zielbegriff kreiert, dessen Aufstieg spektakulär war: Er fand Eingang ins Vokabular von Regierungen, löste in den Sozialwissenschaften einen Forschungsboom aus und rückte ins Zentrum von Wohlfahrtsprogrammen internationaler Organisationen. In kaum einem Bereich entfaltete der Begriff aber eine solche Wirkmächtigkeit wie in der Medizin. Ein florierendes Forschungsfeld entstand, das auf die Vermessung von gesundheitsbezogener Lebensqualität abzielte. In der Folge entwickelte sich Lebensqualität zu einem zentralen medizinischen Erfolgskriterium, das die herkömmlichen Ziele der Heilung und Lebensverlängerung herausforderte. Die Technologien und Semantiken der Lebensqualität beförderten Visionen eines individualisierten und demokratisierten Gesundheitsverständnisses, trugen aber auch zu einer Ökonomisierung der Gesundheit bei. Am Beispiel der WHO untersucht der Beitrag, wie sich Deutungen und Praktiken der Gesundheit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegend veränderten.

Maren Möhring (Leipzig)
Chair/Kommentar