Jörg Ganzenmüller Katharina Hochmuth (Sektionsleitung)

Öffentliche Repräsentation versus biographische Erfahrung? Konkurrierende Deutungen der Friedlichen Revolution und der deutschen Einheit

Abstract

Bei den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit waren diesmal merklich kritische Töne zu vernehmen. Neben der Würdigung des Erreichten rückte deutlich die Aufmerksamkeit für die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses.

Zunehmend wird die vermeintliche Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit in Frage gestellt und zum Gegenstand von Deutungskämpfen. Die ökonomischen Folgen geraten wieder verstärkt in den Fokus, nach wie vor allerdings mit einer eingeschränkten Perspektive auf das Wirken der Treuhandanstalt. Die ostdeutsche Erfahrung der 1990er-Jahre erscheint verstärkt als Gegenerzählung zu westdeutsch geprägten Narrativen des Vereinigungsprozesses. So mehren sich ostdeutsche Stimmen, die nach den Spezifika einer ostdeutschen Identität vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der späten DDR und der Transformationszeit fragen. Auf politischer Ebene wird die Friedliche Revolution von unterschiedlichen Akteuren vereinnahmt und der Umbruch der 1990er-Jahre verstärkt zur Erklärung aktueller gesellschaftlicher Probleme in Ostdeutschland herangezogen. Somit findet zurzeit auf unterschiedlichen Ebenen eine Auseinandersetzung um die Frage nach dem Ort von Friedlicher Revolution und des Vereinigungsprozesses in der deutschen Geschichte statt. Diese Debatten sind geprägt von einem häufig formulierten Widerspruch zwischen öffentlichen Formen des Erinnerns und den biographischen Erfahrungen der Menschen bzw. den Erzählungen in den Familien.

Die Sektion untersucht die widersprüchlichen Deutungen der deutschen Einheit aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Sie nimmt erstens die unterschiedlichen Akteure der öffentlichen Auseinandersetzung in den Blick und fragt nach den politischen Voraussetzungen und Implikationen von deren Deutungsmustern. Sie fragt zweitens nach den Ursachen für die vielfältigen Widersprüche von geschichtskulturellen Repräsentationen der Einheit und dem kommunikativen Gedächtnis der Ostdeutschen. Und sie diskutiert drittens, wie diese Deutungskämpfe in der Geschichtsvermittlung fruchtbar gemacht werden können.

Katharina Hochmuth (Berlin)
Einführung: Der Ort der deutschen Einheit in der Erinnerungskultur
Jörg Ganzenmüller (Weimar/Jena)
„Vollende die Wende!“: Umdeutungen von Revolution und Transformation in Deutschland und im östlichen Europa

Die AfD reklamierte zuletzt das Erbe der Friedlichen Revolution für sich erfährt dabei heftigen Widerspruch von Seiten der damaligen Akteure. Vergleichbare Debatten finden auch in Ostmitteleuropa statt. Die polnische Regierungspartei PiS stellt sich mit großem Erfolg als die politische Kraft dar, die endlich jenen Bruch mit den alten Eliten der Volksrepublik vollzieht, der am Runden Tisch 1990 ausgeblieben sei. Und Viktor Orbán legitimiert den Umbau des demokratischen Rechtsstaats als Vollendung der 1989 begonnenen Demokratisierung. Die Deutungskämpfe um die revolutionären Umbrüche von 1989/90 und deren Folge sind in vollem Gange und werden in dem Vortrag vergleichend betrachtet.

Christiane Kuller (Erfurt)
Biographische Erfahrungen und deren transgenerationelle Weitergabe: Das Familiengedächtnis als wirkmächtige Deutungsinstanz in der ostdeutschen Gesellschaft

Das gesellschaftliche Bild von der Friedlichen Revolution und der darauffolgenden Transformationsphase beruht heute nur zum Teil auf kritisch-reflektiertem Wissen. Eine zentrale Rolle spielen daneben auch lebensweltliche Erfahrungen, die im Familiengedächtnis tradiert werden. Dabei tritt zunehmend eine Dissonanz zwischen dem öffentlichen Geschichtsbild und dem privaten Familiengedächtnis zutage, in der der affirmativen öffentlichen Würdigung der deutschen Einheit kritische Bewertungen des deutschen Vereinigungsprozesses als Krisenzeit gegenüberstehen. Ausgehend davon geht der Vortrag den familiären Narrationen nach und fragt nach Möglichkeiten des Dialogs zwischen konkurrierenden Deutungen.

Helge Schröder (Hamburg)
Zwischen Sinnstiftung und demokratischem Geschichtsbewusstsein: Friedliche Revolution und deutsche Einheit im Schulunterricht

Die Geschichte der DDR hat im Geschichtsunterricht einen schweren Stand. Das liegt weniger an ihrem Thema als an der „inhaltlichen Überfüllung“ und dem Zeitmangel in den 10. Klassen der weiterführenden Schulen. Wenn sie aber unterrichtet wird – und sei es in der Reduktion auf die Friedliche Revolution und die Deutsche Einheit –, dann zeigen sich ungeahnte Chancen: Lebendige und multimediale Quellen, das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Revolution sowie eigene biographischen Bezüge motivieren viele Schülerinnen und Schüler. Von diesen beiden gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehend, werden in dem Vortrag konkrete Unterrichtszugänge diskutiert, mit denen konkurrierende Deutungen und multiperspektivische Ansätze in den Unterricht integriert und so eine dauerhafte Verankerung der DDR-Geschichte in schulinternen Curricula erreicht werden können.