Jan Logemann (Sektionsleitung)

Körper-Märkte: Kontroversen zum Umgang mit Körpern und Leben in modernen Marktgesellschaften

Abstract

Debatten über das Verhältnis von Markt und Körper haben eine lange Geschichte in modernen Marktgesellschaften. Dabei galten Körper und menschliches Leben insbesondere im 20. Jahrhundert als eine Art „Markttabu“ und Praktiken der Vermarktung oder der ökonomischen Rechenhaftigkeit hier als nicht legitim. Gerade in der Zeit von Lebensanfang und -ende, wenn menschliche Körper als besonders schutzbedürftig gelten, wurde und wird die Legitimität von Marktmechanismen in Frage gestellt.In vier kurzen Vorträgen mit abschließendem Kommentar will die Sektion neuere Forschungen zur Körpergeschichte in Bezug zur Kulturgeschichte des Ökonomischen und damit zu Fragen von „moral economies“ in Marktgesellschaften setzen. Dabei geht es um 1. die Geburt: das Entstehen von Märkten für Reproduktionsmedizin, 2. die Jugend: das Geschäft mit „Verjüngung“ und die gesellschaftliche Kritik daran, 3. das Alter: Den Pflegemarkt in der Auseinandersetzung mit idealbildlichen Vorstellungen häuslicher Pflege und 4. den Tod: Debatten um Pietät und Kommerzialisierung im Bestattungsmarkt.

Im Zentrum der Sektionsbeiträge stehen der Wandel von Praktiken und kontroverse gesellschaftliche Diskussionen von Markt-Körper-Beziehungen. Die Sektion will nicht nur lineare Narrative einer zunehmenden Disziplinierung individueller Körper in der Moderne oder einer stetig fortschreitenden Vermarktlichung von Körperlichkeit in liberalen Marktgesellschaften kritisch hinterfragen. Vielmehr soll (z.T. in vergleichender und transnationaler Perspektive) gefragt werden, wie der Wandel von Begrenzungen eines Marktes verhandelt wurde, nicht zuletzt mit Blick auf technologische Umbrüche und zentrale Kategorien wie Generation und Geschlecht.  Die Sektion skizziert für den Zeitraum des späten 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ein beständiges Wechselspiel von Angeboten des Marktes einerseits (u.a. Prozesse von Liberalisierung, Pluralisierung) und der Mobilisierung „moralischer Ressourcen“ andererseits (u.a. Einforderung von Markttabus).

Denise Lehner-Renken (Göttingen)
Zwischen Macht, Markt und Moral. Praktiken der Reproduktionsmedizin und das Arzt-Patientin-Verhältnis in der Bundesrepublik

In den 1980er Jahren konstituierte sich rund um reproduktionsmedizinische Innovationen wie die In-vitro-Fertilisation ein Markt in der Bundesrepublik. Der Beitrag nimmt dessen zentrale Akteure in den Blick: Reproduktionsmediziner und ihre Patientinnen. Erstens soll gefragt werden, welchen Einfluss moralische Debatten über die Vermarktlichung der modernen Reproduktionsmedizin auf das Selbstverständnis und die Praktiken von Patientinnen hatten. Diente ihnen die Inanspruchnahme neuer reproduktionsmedizinischer Verfahren als Mittel zur Selbstermächtigung oder verstärkte es die Diskriminierung der Kinderlosigkeit und Praktiken der Selbstoptimierung? Zweitens gilt es, das Arzt-Patientin-Verhältnis näher zu beleuchten und zu fragen, inwiefern eine Vermarktlichung den Umgang der Mediziner mit ihrer Klientel – von Patientinnen zu Kundinnen – veränderte.

Mischa Honeck (Kassel)
„Buying Young“: Transatlantische Verjüngungsökonomien in den 1920er Jahren

Der Beitrag nimmt Verjüngungsökonomien in den Blick, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten des Atlantiks herausbildeten und die Regeneration alter(nder) und erschöpfter Körper – individuell wie auch kollektiv – versprachen. Das Spektrum reicht dabei von „harten“ Praktiken der medizinisch-invasiven Verjüngung (z.B. der modernen Sexualchirurgie) bis zu „weicheren“ Formen des Anti-Aging, wie sie die expandierende Kosmetikbranche anbot. Potenzsteigernde Eingriffe aber auch die steigende Nachfrage an kosmetisch-dermatologischen Produkten forderte den Widerspruch von religiösen und konservativen Gruppierungen heraus. Im Zentrum soll die Frage stehen, welche Widerstände und Machtdifferenzen die konsumistische Verjüngung erzeugte, in Hinblick auf Klassenunterschieden, Geschlechterhierarchien, aber auch koloniale Abhängigkeiten.

Nicole Kramer (Köln)
Als der Respirator zum Haushaltsgerät wurde: Alter, Gebrechlichkeit und die Vermarktlichung der Intensivpflege

Der Pflegemarkt geriet in den 1980er Jahren gehörig in Bewegung. Immer mehr alte Menschen holten sich professionelle Hilfe, um trotz zunehmender körperlicher Gebrechlichkeit einen eigenen Haushalt weiterzuführen. Viele griffen auf private Dienstleister zurück. Die üblichen Deutungsansätze, die auf den sozialpolitischen Rückbau und die Diskursmacht neoliberaler Denkkartelle verweisen, greifen zu kurz, um diesen Wandel zu erklären. Der Vortrag wird den Blick um kultur- wie technikgeschichtliche Perspektiven weiten. Die Geschichte vom Wachstum der privaten Altenpflege nach dem Ende der wohlfahrtsstaatlichen Blütezeit handelt eben nicht nur von Dauerpflegepatienten, die im ökonomisierten Krankenhaus keinen Platz mehr fanden. Es geht ebenso um die moralische Idealisierung der häuslichen Pflege sowie um medizintechnische Fortschritte.

Jan Logemann (Göttingen)
Pietät und Recht am eigenen Körper: Bestattungen zwischen Markt und Moral im 20. Jahrhundert

Ob in Friedwäldern oder als Erinnerungsdiamant, der Umgang mit den sterblichen Überresten des eigenen Körpers wird in Deutschland und den USA zunehmend individuell gehandhabt. Die wachsende Zahl kommerzieller Bestattungsangebote wird kontrovers diskutiert, da die Wahlfreiheit der Konsumenten z.T. in einem Spannungsverhältnis zu hergebrachten gesellschaftlichen Vorstellungen von Pietät steht. Stellt der Umgang mit toten Körpern einen finalen Tabubruch in Zuge umfassenderer Vermarktlichungsprozesse dar? Dieser Frage soll hier mit Blick auf die Bestattungsmärkte des frühen 20. Jahrhunderts nachgegangen werden. Der Beitrag fragt dabei auch nach dem Entstehen einer spezifischen Form der Pietät mit stark korporatistischen Marktstrukturen, die lange zur Ausgrenzung toter Körper aus der Gesellschaft beigetragen hat.

Hannah Ahlheim (Gießen)
Kommentar