Nicola Camilleri Catherine Davies (Sektionsleitung)

Deutungskämpfe um historische Gewalt: Heterogenität eines Begriffs und einer Praxis

Abstract

Mehr noch als andere Begriffe scheint „Gewalt“ sich eindeutigen Definitionen zu entziehen. Die Sektion möchte diese begriffliche Heterogenität fruchtbar machen, indem sie nach den Deutungskämpfen fragt, die im 19. und 20. Jahrhundert in Bezug auf Gewaltphänomene ausgefochten wurden. Diese verliefen, so die These, vielfach entlang binärer Begriffsstrukturen wie öffentlich/privat, legitim/illegitim, politisch/kriminell. Die Fallbeispiele, anhand der dieser Frage nachgegangen wird, reichen vom späten 19. bis ins späte 20. Jahrhundert, umfassen unterschiedliche politische Systeme und Räume und fokussieren auf staatliche Akteure, paramilitärische Gruppierungen und zivilgesellschaftliche Aktivistinnen. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie wurde Gewalt konzipiert, eingegrenzt und ausgedrückt? Welcher Medien und diskursiver Strategien bedienten die Akteurinnen und Akteure sich? Inwieweit beeinflussten unterschiedliche staatliche und politische Rahmenbedingungen Gewalt als Begriff und Handlung? Wo ergeben sich Kontinuitäten über verschiedene Epochen hinweg und wie lassen sich diese erklären? Mit diesen Fragen wollen wir nicht zuletzt an verschiedene in den letzten Jahren diskutierte Forschungskontexte anschließen, die die Bedeutung von Kommunikation und Medialisierung für modernes Gewalthandeln thematisieren, den Grad innerer Befriedung im Westeuropa der Jahrhundertwende hinterfragen, die Bedeutung von Gewalt für die koloniale Eroberung und Herrschaftspraxis analysieren, und das Weiterleben von Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkriegs untersuchen.

Nicola Camilleri (Padua)
Bürger, die schießen. Staatliches Gewaltmonopol und private Waffennutzung in den Schützenvereinen um das 19. Jahrhundert

Schützenvereine waren unter den am meisten verbreiteten Geselligkeitsformen im Kaiserreich. Ihre Mitglieder trafen sich regelmäßig, um das Schießen zu üben und ihren Gemeinsinn im nationalen Rahmen zu zelebrieren. Männlichkeitsideale und Respektabilität waren dabei mit der Fähigkeit, Waffen zu nutzen, verwoben. Der Beitraganalysiert die Bedeutung der Schützenvereine in ihren verschiedenen Facetten. War das Schießen nur körperliche Betätigung und emotionale Unterhaltung oder hatte es auch eine politische Dimension, insofern es die Bereitschaft förderte, sich für die nationale Gemeinschaft einzusetzen? Wie regelte der Staat die Frage seines Gewaltmonopols in diesem Zusammenhang?

Marie Muschalek (Freiburg im Breisgau)
Zwischen öffentlicher und privater Gewalt: Polizeiliche Alltagspraxis und Staatlichkeit in Deutsch Südwestafrika

Untersucht wird das Verhältnis von Gewalt und Kolonialismus am Beispiel Deutschsüdwestafrikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Fokus stehen dabei ca. 600 Männer der sogenannten „Landespolizei“, bestehend aus Deutschen und Afrikanern. Ihnen oblag es, eine moralische Ökonomie des Akzeptierten und Normalen zu generieren, indem sie in Reaktion auf das Gewalthandeln deutscher Siedler definierten, was als „richtige“/“falsche“ Gewalt zu gelten habe. Damit veränderten sie gleichzeitig das Verhältnis zwischen „privater“ und „öffentlicher“ Gewalt.

Claudia Gatzka (Freiburg im Breisgau)
Politische Alltagsgewalt in der jungen Bundesrepublik. Zu den Hintergründen des Versammlungsordnungsgesetzes

Zwar gilt die junge Bonner Republik gemeinhin als recht geordnete Demokratie, doch lässt nicht nur die Verabschiedung des Versammlungsordnungsgesetzes von 1953 erahnen, dass agonale Begegnungen und körperliche Auseinandersetzungen in und außerhalb von Wahlkämpfen in den vierziger und fünfziger Jahren keine Seltenheit darstellten. Um die Hintergründe der Entstehung des Gesetzes auszuloten, wird gefragt, inwiefern körperliche Auseinandersetzungen, Saalschlachten, „Sprengungen“ und andere Praktiken als „politisch“ markiert und zu Semantiken der Demokratie in Beziehung gesetzt wurden.

Catherine Davies (Zürich)
Was ist „kriminell“, was ist „politisch? Deutungskämpfe um Gewalt zwischen Frauenbewegung und Linksterrorismus in den 1970er/80er Jahren

Die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren in Westdeutschland von gesellschaftlichen und politischen Deutungskämpfen über verschiedene Formen von Gewalt geprägt. Politische Akteure sprachen linksextremen Gruppierungen und ihren Gewaltstrategien den Anspruch auf politisches Handeln ab, indem sie sie als „kriminell“ etikettierten. Die Akteurinnen der Bewegung gegen Gewalt gegen Frauen verfolgten eine gewissermaßen spiegelbildliche Strategie, indem sie häusliche Gewalt als „politische“ markierten. Der Beitrag setzt diese beiden scheinbar gegenläufigen Bewegungen zueinander in Beziehung und analysiert sie im Kontext der begriffspolitischen Deutungskämpfe der Zeit.

Sven Reichardt (Konstanz)
Kommentar