Christopher Degelmann (Sektionsleitung)

Deutungskämpfe in der demokratischen Deliberation: Gerüchte, Leumund und üble Nachrede im klassischen Athen

Abstract

Dass im gegenwärtigen Diskurs Gerüchte als dysfunktional und moralisch fragwürdig eingestuft werden, ist laut der Historikerin Sophia Rosenfeld erst ein Erbe der Aufklärung. Untersuchungen zur Antike haben zeigen können, dass Gerüchte gerade in vormodernen Gemeinwesen ohne moderne Massenmedien die wichtige Funktion erfüllten, einen raschen Informationsaustausch zu gewährleisten, unabhängig davon, ob sich eine Nachricht bewahrheitete. Zudem wird Klatsch als bedeutendes Mittel der sozialen Kontrolle wahrgenommen. Politische Relevanz haben Gerüchte, die als unbelegte oder unbelegbare Darstellung von Ereignissen und Handlungen einzelner und Gruppen oder als Aufdeckung bislang verborgener Charakterzüge von Individuen ihre Wirkmacht entfalten, die bis zum identitätsstiftenden Mythos reichen kann. Wenn die sich in Gerüchten offenbarende, diffuse öffentliche Meinung und das Hörensagen seit jeher rhetorisch instrumentalisierbar sind, dann lohnt sich eine Auseinandersetzung mit dem Stellenwert, den die politische Kultur Athens dem Gerücht beimaß, weil sie die Rhetorik als solche und insbesondere die Macht der Gerüchte reflektierte: Bei den attischen Rednern sind Anschuldigungen der anderen stets Verleumdung (blasphemia) oder üble Nachrede (diabole); man selbst argumentiere auf Grundlage von pheme: dem Ruf einer Person, der unmittelbar auf der Qualität der über sie verbreiteten, wahren, gleichwohl unsicheren oder gar erlogenen Information beruht. In Athen war das Interesse an Geschichten über eine Person meist an eine exponierte Stellung im Gemeinwesen geknüpft, somit auf den Kreis der politisch Aktiven beschränkt und politisch relevant. Die Beiträge nehmen daher die wichtigsten Arenen der politischen Willensbildung im demokratischen Athen in den Blick: Die Volksversammlung auf der Pnyx und die Gerichte auf der Agora sowie die Gassen und Geschäfte jenseits der Institutionen. Sie eint das Interesse für den Einfluss von Hörensagen auf die jeweils spezifische Deliberation.

Christopher Degelmann (Berlin)
Einleitung. „Nach allem, was ich an Berichten gehört habe“ – Gerüchte und Meinungsmache im kurzen 5. Jahrhundert

Christopher Degelmann geht auf Dynamiken der Gerüchtebildung und Gerüchteaneignung im 5. Jh. v. Chr. am Beispiel der Volksversammlungsdebatte um die Entsendung eines athenischen Expeditionsheeres nach Sizilien ein, von der Thukydides ausführlich berichtet. Der antike Historiker suggeriert, dass sowohl Gegner als auch Befürworter der Kampagne auf Grundlage von Hörensagen miteinander stritten. Dabei wird es nicht zuletzt um die Funktion von Gerede (logoi) im historiographischen Narrativ gehen.

Rafał Matuszewski (Salzburg)
Demokratische Gerüchteküche: Zum Stellenwert der pheme im Athen des 4. Jahrhunderts

Der Beitrag geht der Frage nach, welcher Stellenwert der pheme im gesellschaftlichen und politischen Leben Athens des 4. Jh. eingeräumt wurde, wobei pheme hier unter dem Aspekt ihrer Funktion als Instrument sozialer Kontrolle und Anpassung thematisiert wird. Dabei wird das Augenmerk auf die Untersuchung der Bedingungen gelegt, welche die Entstehung und Verbreitung der Gerüchte begünstigten, sowie der Gründe für die öffentliche Wirksamkeit des Klatsches in der spätklassischen Demokratie. An einigen Beispielen soll gezeigt werden, wie sich die Ausübung von sozialer Kontrolle (mittels Klatsch) in der Praxis gestaltete und welche Folgen dies für die athenische Demokratie des 4. Jh. hatte.

Mirko Canevaro (Edinburgh)
A tool of social sanction or an offence? Insult, honour and the law in ancient Athens

In this paper, Mirko Canevaro aims to define the extent to which Athenian law criminalised verbal abuse against others (as a violation of their claims to respect), and conversely, what room it left for insult and derision to be used as an instrument of informal social control, which relied on shame.

Elke Hartmann † (Darmstadt)
Der Historikertag trauert um Elke Hartmann, die zu dieser Sektion als
Moderatorin und Kommentatorin beitragen sollte. Ihrer Familie und ihren
engen Weggefährt:innen gilt unser Mitgefühl.