Laura Potzuweit Caroline E. Weber (Sektionsleitung)

Zurück ins Reich? Konflikt, Legitimation und Identität in Grenzregionen

Abstract

Während der Hadrianswall, das Danewerk und auch die Berliner Mauer als sichtbare Manifestationen von Grenzen in Landschaften hineinragten, ziehen sich Grenzen auch als ideologische Trennungslinien durch die Köpfe der Menschen. Deutungshoheiten um diese Grenzverläufe dominieren den gesellschaftlichen Diskurs nicht erst seit dem Brexit, der Krimkrise oder den Konflikten um die Spratly Inseln. Innerhalb eines Konfliktfalls zumeist im Rahmen von Grenz- oder Zugehörigkeitsveränderungen wurden dabei mitunter Argumentationen und Deutungen genutzt, die ihre Legitimation aus der Geschichte schöpften, wie im Falle Chinas, das seine Besitzansprüche auf die Inseln im Südchinesischen Meer auch heute noch mit „historischen Rechten“ begründet. Grenzveränderungen beeinflussen gleichermaßen auch die Identitäten der Menschen in der jeweiligen Region. In der Gleichzeitigkeit aus Trennung und der Verbindung als Zone intensiven Austauschs der Grenzgebiete stellt sich daher die Frage nach Eigenarten von Identifikation innerhalb dieser Regionen mit wechselnder Zugehörigkeit. Anlässlich des im Jahr 2020 vollzogenen Erinnerns an die Grenzverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg richtet die dreistündige Sektion daher mittels eines regionalen und epochenübergreifenden Ansatzes den Fokus auf umstrittene Grenzregionen seit dem Mittelalter. Die Legitimationsstrategien ihrer Zugehörigkeiten zu bestimmten Herrschaften und Landesteilen und die daraus resultierenden Folgen für die Identität der lokalen Bevölkerungen und Minderheiten werden in fünf Fallbeispielen sichtbar gemacht.

Enno Bünz (Leipzig)
Einleitung und Hinführung zum Thema
Laura Potzuweit (Kiel)
Gotland – Mittelalterliche Besitznarrative zwischen Schweden, Dänemark und dem Deutschen Orden

Gotlands wirtschaftsstrategisch günstige Lage förderte im Mittelalter Besitzkonflikte unter den bedeutenden Ostseeanrainern. Zunächst unter schwedischer Kontrolle gelang es König Waldemar IV. Atterdag 1361 die Insel samt Visby unter dänische Kontrolle zu bringen, bevor Gotland Ende des 14. Jahrhunderts mittels Verpfändung in den Besitz des Deutschen Ordens überging. Der Vortrag vollzieht die sich anschließenden intensiven Anspruchsforderungen Margretes I. von Dänemark nach, die mit Hilfe der erblichen Zugehörigkeit der Insel zum Königreich und somit auf Basis „historischer Rechte“ argumentierte, und stellt diesen den Legitimationslinien des Deutschen Ordens gegenüber.

Maximilian Groß (Paris/Heidelberg)
Die Ré-union unter Ludwig XIV.: Saarregion, Elsass und die Pfalz

Unter dem Schlagwort réunion verfolgte Ludwig XIV. von Frankreich mit Berufung auf umstrittene Erwerbungen im Westfälischen Frieden und mittelalterliche Lehnsverhältnisse eine umfangreiche territoriale Expansionspolitik. Mittels eigens zu diesem Zweck eingerichteter „Reunionskammern“ gelang den Bourbonen bis 1688 die Eingliederung Lothringens, des Elsass, Luxemburgs sowie großer Teile der heutigen Länder Rheinland-Pfalz und Saarland. Der Vortrag beleuchtet jedoch nicht nur die angewendeten Argumentations- und Legitimationslinien dieser „Wieder-Vereinigung“, sondern auch jene kritischen Stimmen, die bereits im 17. Jahrhundert Zweifel an der rechtlichen Legitimität des Vorgehens hegten.

Caroline E. Weber (Sønderborg)
Up ewig ungedeelt oder wiedervereinigt? Schleswig-Holstein und Dänemark zwischen Bürgerkrieg und demokratischer Volksabstimmung 1848 bis 1920

Nachdem der Bürgerkrieg 1848 noch keine Veränderung der Herrschaftsverhältnisse nach sich zog und 1864 der König von Dänemark seine Ansprüche an Schleswig und Holstein zwar abtrat, die Grenzfrage aber nicht eindeutig geklärt wurde, entschieden zwei Volksabstimmungen 1920 über den deutsch-dänischen Grenzverlauf. Anlässlich des Jubiläums 2020 betrachtet der Vortrag die auf deutscher wie dänischer Seite noch heute zu findenden regionalen, nationalen und protonationalen Zugehörigkeitsnarrative, wonach z. B. in Dänemark 1920 als ein Zurückkommen der Bevölkerung bzw. eine Wieder-Vereinigung mit Nordschleswig verstanden wurde, obgleich das Herzogtum zuvor nie Teil des dänischen Königreiches war.

Andrea Di Michele (Bozen)
Südtirol/Trentino zwischen italienischem Faschismus, Option und nationalsozialistischer Besatzung

Der Besitzwechsel der Region Trentino-Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg vom österreichisch-ungarischen Kaiserreich hinzu Italien ging mit historischen, geografischen und strategischen Legitimationsbegründungen einher. In der Folgezeit trafen die Bemühungen um eine erzwungene Italienisierung des Territoriums in den 1930er Jahren jedoch auf die wachsende Identifikation mit der nationalsozialistischen Propaganda Deutschlands. Der Vortrag betrachtet diesen Dualismus in Verbindung mit den erneuten Identifikationskonflikten zwischen den verschiedenen Sprachgruppen nach dem italienischen Waffenstillstand vom 8. September 1943 und der zwanzigmonatigen Okkupation durch Deutschland.

Paul Srodecki (Kiel/Ostrava)
Pommern und Schlesien als „wiedergewonnene Gebiete“ in der nationalpolnischen Propaganda nach 1945

Von der DDR als „Friedensgrenze“ anerkannt, prägte die Oder-Neiße-Linie und ihre Legitimität als östliche-deutsche Grenze die Politik und den öffentlichen Diskurs. In Polen formierte sich im offiziellen Sprachgebrauch bis 1989 das Narrativ der „wiedergewonnenen Gebiete“ als Bezeichnung für die ab 1945 zu Polen gehörenden ehemaligen deutschen Westgebiete. Der Vortrag untersucht die daran geknüpften Legitimitätsversuche der Gebietserweiterung u. a. über die Deklarierung der neuen polnischen Gebiete als „Mutterländer“ oder „Stammpolen und verfolgte deren angeordnete Polonisierung (gelegentlich auch „Re-Polonisierung“) nach.

Steen Bo Frandsen (Sønderborg)
Kommentar