Hanno Hochmuth Paul Nolte (Sektionsleitung)

Wem gehört die Stadt? Gentrifizierung in historischer Perspektive

Abstract

Ein Gespenst geht um in den Großstädten Europas und Nordamerikas – das Gespenst der Gentrifizierung. Der Zug gutverdienender Bevölkerungsschichten in die Innenstädte, die Aufwertung von Stadtteilen durch umfassende Sanierungsmaßnahmen und die damit vielfach einhergehende Verdrängung der bisherigen Wohnbevölkerung sind ebenso soziale Realität wie Gegenstand leidenschaftlicher Deutungskämpfe geworden. Während der Begriff der Gentrifizierung hierdurch an wissenschaftlicher Trennschärfe verloren hat, hat er an gesellschaftlicher Tragweite gewonnen. Längst geht es nicht mehr nur um konkrete Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse, sondern um Fragen von Privatheit und Öffentlichkeit, Kapitalismus und Daseinsvorsorge, Fremdbestimmung und Teilhabe. Unter dem Begriff der Gentrifizierung wird mehr und mehr die fundamentale Frage debattiert: Wem gehört die Stadt? Die Sektion fragt nach dem Beitrag der Geschichtswissenschaft zu den als „Gentrifizierung“ markierten sozialräumlichen Prozessen – in Ergänzung und Erweiterung der sozialwissenschaftlichen Perspektive, die die Debatte bisher bestimmt und oft zugleich aktivistisch begleitet hat. Die vier Beiträge zielen auf zeitliche und räumliche Kontextualisierung und Differenzierung. Im transkulturellen und globalen Vergleich werden Varianten „kapitalistischer“ Stadtentwicklung ebenso sichtbar wie die spezifischen Bedingungsfaktoren von sozialer Aufwertung und Verdrängung: in langer historischer Pfadabhängigkeit, unter verschiedenen politischen Regimes und in den von der Zeitgeschichte oft beschriebenen Strukturbrüchen seit den 1970er Jahren. Die historische Frage nach der Gentrifizierung weitet sich damit zugleich zu einem Plädoyer für neue Ansätze einer sozialräumlich sensibilisierten Zeitgeschichte.

Hanno Hochmuth (Potsdam) Paul Nolte (Berlin)
Einführung: Gentrifzierung – historisch und global
Hanno Hochmuth (Potsdam)
Vorreiter oder Nachzügler? Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg

Berlin-Kreuzberg gilt heute als Paradebeispiel der Gentrifizierung. In Kreuzberg wurde die behutsame Stadterneuerung erfunden, die die die symbolischen und materiellen Voraussetzungen der Aufwertung schuf, noch ehe dieser Prozess Gentrifizierung genannt wurde. Andererseits etablierte die Kreuzberger Stadterneuerung der 1980er Jahre einen weitreichenden Mieterschutz sowie neuartige Partizipations- und Protestformen, die sich lange erfolgreich gegen Verdrängungsprozesse richteten. Der Vortrag fragt nach der ambivalenten Rolle des „Gallischen Dorfes“ Kreuzberg, das zugleich am Anfang und am Ende der Gentrifizierung Berlins steht und in seiner Bedeutung weit über den lokalen Rahmen hinausragt.

Paul Nolte (Berlin)
Suburbanisierung statt Gentrifizierung? Siedlungsstrategien von Mittelschichten im transatlantischen Vergleich

Blickt man auf New York und Paris, auf San Francisco und London, erscheint Gentrifizierung als ein transatlantisches Phänomen, als ein Prozess westlicher, kapitalistischer Städte. In alten Industriestädten der USA wie Baltimore und Detroit, aber auch in den Boomstadtregionen des „Sunbelt“ sieht das jedoch anders aus: Die oberen Mittelschichten haben kein Interesse an Altbauwohnungen. So gesehen, ist Gentrifizierung nur eine Variante in einem Spektrum sozialtopographischer Dynamiken, das auch ihr Gegenteil – soziale „Abwertung“, Mittelschichtflucht, städtebaulichen Substanzverfall – einschließt. Der Vortrag fragt danach, welche Faktoren die unterschiedlichen Konstellationen in Europa und den USA seit den 1980er Jahren prägten.

Elena Meyer-Clement (Berlin)
Gibt es eine chinesische Gentrifizierung? Stadtumbau und Verdrängungsprozesse in der Volksrepublik China

Kommerzielle Aufwertung von Wohnvierteln und Verdrängung der Bewohner prägen heutzutage auch das Bild chinesischer Stadtentwicklung – allerdings meist in Form des Abrisses ganzer Wohnblöcke und der systematischen Umsiedlung der Bewohner unter dem Vorzeichen staatlicher Modernisierungspolitik. Wie weit trägt hier der Gentrifizierungsbegriff? Anhand eines Einblicks in historische Stadtentwicklungsprozesse in China prüft der Beitrag theoretische Ansätze, die auf die globalen Dimensionen von Gentrifizierung fokussieren, und fragt nach dem möglichen Beitrag chinesischer Stadtgeschichte für die Gentrifizierungsdebatte.

Susanne Frank (Dortmund)
Wem gehört die Gentrifizierung? Eine Ortsbestimmung zwischen Stadtsoziologie, Geschichtswissenschaft und Aktivismus

Wenn ein soziologischer Fachterminus in den allgemeinen Wortschatz übergeht, können wir davon ausgehen, dass er Entwicklungen auf den Punkt bringt, die einer Gesellschaft unter den Nägeln brennen. Der Vortrag plädiert deshalb dafür, den weiten Gebrauch des Begriffs nicht länger als inflationär zu beklagen, sondern vielmehr zu fragen, welche Bedeutungen WissenschaftlerInnen, JournalistInnen, PlanerInnen, AktivistInnen u.a.m. ihm bei seiner Verwendung geben bzw. welche unterschiedlichen Wahrnehmungen, Interessen und Befürchtungen er artikuliert. Dabei zeigt die historische Perspektive auch, wie sich die Konnotationen des Begriffs Gentrifizierung im Laufe der Jahrzehnte verschoben haben.