Sonja Levsen Franka Maubach (Sektionsleitung)

Was treibt die Geschichte im 20. Jahrhundert? Kausalität und Kontingenz in jüngeren Forschungsdebatten

Abstract

Seit einiger Zeit zeichnet sich in der Geschichtswissenschaft ein deutlicher Trend ab, Kausalitätsannahmen zu kritisieren und die Offenheit von Geschichte zu betonen. Nicht zuletzt der Aufstieg der Kulturgeschichte trug dazu bei, dass HistorikerInnen sich vermehrt »Wie«-Fragen zuwandten und »Warum«-Fragen distanzierter begegneten. Seitdem gibt es einen Wandel in den Herangehensweisen an die Geschichte, aber auch in ihren Erzählformen. In einer »Roundtable Conversation« des American Historical Review war 2015 sogar von einer »Lost History of Causes« die Rede. Dieser Trend bedeutet aber keinen »Tod der Kausalität«: Es gibt zweifellos kein einfaches Entweder-Oder von Kontingenz oder Kausalität, keinen scharfen Gegensatz zwischen Erzählen und Erklären, sondern vielfältige Verbindungen und Mischformen. Kausalität und Kontingenz stehen in einem produktiven, sich historisch wandelnden Spannungsverhältnis.
Das Panel nimmt in Form einer Podiumsdiskussion diesen Wandel und seine Implikationen für die Geschichtsschreibung in den Blick: Wie gehen HistorikerInnen aktuell mit der Frage nach Ursachen und Gründen, wie mit dem Problem historischer Offenheit um? Wie mit dem Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Handeln? Und wie mit Raum und Zeit? Diese Fragen wollen wir nicht in Form einer abstrakten Debatte erörtern, die Gefahr liefe, sich in Scheinoppositionen zu verlieren. Vielmehr geht es um konkrete Probleme im Umgang mit Formen des historischen Erzählens und Erklärens anhand von aktuellen Forschungen zu Schlüsselthemen des 20. Jahrhunderts.

Sonja Levsen (Freiburg im Breisgau) Franka Maubach (Jena)
Einführung
Ute Daniel (Braunschweig)
Das schwierige Verhältnis von Kontingenz und diachroner Erklärung: Demokratiegeschichte als Beispiel

Die politischen Implikationen von Erklärungsweisen sind bei der Demokratiegeschichtsschreibung unübersehbar. Wird den geschichtswissenschaftlichen Narrativen ein säkularer Trend zur Demokratisierung zugrundegelegt, führt das zu Auswahlkriterien, die diesen Trend diachron bestätigen. Demgegenüber wählen Erzählweisen, die keinem „Entwicklungspfad“ folgen, andere bestimmende Faktoren aus, die weniger einer – nur rückblickend erkennbaren – diachronen Linienführung entnommen sind als den für die zeitgenössischen Akteure erkennbaren – im Rückblick kontingent erscheinenden – Aspekten der jeweiligen historischen Kontexte. Die erste Erzählweise lässt Demokratie als selbstverständlich, wenn nicht zwangsläufig erscheinen. Sie legt als politische Schlussfolgerung ein simples Ja-Nein-Schema – pro oder kontra Demokratie – nahe. Die zweite betont das Unwahrscheinliche an der Demokratie, wie sie in unserer Weltgegend existiert. Das legt keine derart simple Schlussfolgerung nahe, sondern fordert dazu auf, selbst zwischen Bewahrenswertem und Veränderungsbedürftigem zu unterscheiden.

Benjamin Ziemann (Sheffield)
War der 30. Januar 1933 ein Zufall?

Das Ende der Weimarer Republik ist kausal überdeterminiert. Ganz abgesehen von den langfristigen Kausalitätsprämissen der Sonderwegsthese gibt es viele, letztlich zu viele Gründe, warum die Republik scheitern musste und Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Oder war diese Ernennung, wie unlängst behauptet wurde, doch nur ein „Zufall“? Der Beitrag wird die Prämissen von kausalen Annahmen über das Ende Weimars vor dem Hintergrund der neueren Diskussion reflektieren, welche die Offenheit des republikanischen Experiments betont.

Petra Terhoeven (Göttingen)
Reiz – Reaktion? Über Zufall, Eigendynamik und hinreichende Gründe in der historischen Terrorismusforschung

Der Umgang von HistorikerInnen mit terroristischer Gewalt als Forschungsgegenstand, so lautet die These meines Beitrags, war und ist bis heute in starkem Maße konditioniert von der Persistenz des Phänomens als Gegenwartsproblem und damit der Allgegenwart von Terrorismusdeutungen in gesellschaftlichen wie sozial- und politikwissenschaftlichen Debatten. Im eigenen Selbstverständnis kam der Geschichtswissenschaft dabei stets die Funktion eines Korrektivs gängiger Erklärungen von Terrorismus im Sinne eindimensionaler Ursache-Wirkungs-Modelle zu, denen nicht selten politische Schuldzuweisungen eingeschrieben waren. Indem man die Vielfalt und Komplexität der historischen Kontexte betonte, in denen Menschen zu terroristischen Aktionsstrategien griffen – oder eben gerade nicht – verkomplizierte man zwar die Antworten auf die Frage nach Kausalitäten, konnte (und wollte) ihr aber bis heute nicht ausweichen. Nachdem der Linksterrorismus der 1970er Jahre der Annahme ‚objektiver‘ sozialer Missstände an der Wurzel terroristischer Gewaltstrategien die Grundlage entzogen hatte, verschob sich der Fokus mehr und mehr auf die strukturellen Bedingungen für die Wahrscheinlichkeit eskalierender Konfliktverläufe – weitgehend eigendynamische Reiz-Reaktions-Sequenzen, innerhalb derer Kontingenz in Gestalt von mehr oder weniger zufälligen Ereignissen und Subjektivitäten der Akteure von vorn herein eingebaut war.
Terrorismus, so kristallisiert sich mehr und mehr heraus, kann vor diesem Hintergrund am besten als komplexer, auch nationale Grenzen transzendierender Kommunikationsprozess erklärt und erzählt werden. Dabei lassen sich die Fragen nach dem Warum und dem Wie genauso auf die Reaktionen des Staates auf terroristische Gewalt beziehen. Gerade hier sind die überfälligen und zunehmend im Entstehen begriffenen Arbeiten zu rechter Gewalt besonders wertvoll, da sie einen Vergleich des Reiz-Reaktionsschemas für politisch verschieden motivierte terroristische Gewalt ermöglichen.

Martin H. Geyer (München)
Über das „Warum“ und das „Wie“ in historischen Beschreibungen der Gegenwart – Zeitreise in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts

Warum spielen die „Strukturbrüche“ der 1970er Jahre in der Historiographie der deutschen Geschichte eine so zentrale Rolle? Woher rührt die Prominenz von Erklärungen, die auf ökonomische Entwicklung abheben? In den Blick genommen werden zum einen Periodisierungsvorschläge des 20 Jahrhunderts in anderen Ländern mit ihren jeweils spezifischen Kausalitätsannahmen und Darstellungsformen, zum anderen die Modi der deutschen Zeitgeschichtsschreibung und Annahmen, die Modernisierungsprozesse und die Moderne betreffen. Ist die Zeit gekommen, uns neue Gedanken über das Ende des 20. Jahrhunderts zu machen?