Christian Götter Karena Kalmbach (Sektionsleitung)

Von Deutungen und Umdeutungen – Atomtechnologie zwischen Erlösung und Apokalypse

Abstract

Seit dem Einsatz der Atombombe durch die USA im Jahr 1945 prägten Deutungskämpfe um die (groß-)technische Anwendung der Kernenergie die zweite Hälfte des 20. und das beginnende 21. Jahrhundert. Wie kaum ein anderes Themenfeld wurde die Atomkernspaltung in das Zentrum unterschiedlicher Interpretationen der Weltgeschichte gerückt. Dies galt für Kernwaffen, Garanten des Friedens und wissenschaftlich-technologische Meisterleistungen für ihre Befürworter, Manifestationen menschlicher Hybris und Boten des apokalyptischen Endes der Welt in den Augen ihrer Gegner. Es galt für das Verhältnis von Kernwaffen und ‚friedlichem Atom‘, untrennbar verbunden für Kritiker der Nuklearphysik und ihrer Anwendung, klar separierbare Zweige der Technologie für ihre Befürworter. In noch größerem Maße galt es für das ‚friedliche Atom‘ selbst, namentlich den Einsatz der Kernenergie zur Stromerzeugung.
Der großtechnische Einsatz der Kernenergie zur Elektrizitätsproduktion stand und steht im Zentrum zahlreicher Deutungskämpfe, die seit dem späteren 20. Jahrhundert zu den dominantesten zivilgesellschaftlichen Konflikten in den freiheitlichen Gesellschaften der westlichen Welt zählten, während sie in stärker autoritären Staaten im Sinne einer vorgegebenen Interpretationslinie unterdrückt wurden. Befürworter machten in ihr eine risikoarme und umweltfreundliche Technologie aus, die Ressourcen schonen, Verteilungskonflikte mildern und einen Klimawandel verhindern könne, während Gegner ihr hohes Ge-fahrenpotential für jegliches Leben auf dem Planeten und ihre Nähe zu Rüstung, Kapital-akkumulation und staatlicher Überwachung in den Vordergrund rückten.
In dieser Sektion unternehmen wir einen Ansatz zur Kartierung der zahlreichen Deutungskonflikte, die anhand der Kernenergie ausgetragen wurden und werden.

Christian Götter (München)
Apokalypse oder Erlösung – Die umkämpfte Bedeutung der Atomenergie in Deutschland und Großbritannien

Christian Götter argumentiert am Beispiel britischer und deutscher Debatten über die Kernenergie für die These, dass anhand der Technologie ein Deutungskampf um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit ausgefochten wurde. Diese Auseinandersetzung wurde zunächst in einem Möglichkeitsraum aus Utopien und Dystopien ausgetragen – bis Kernkraftwerksunfälle die dystopischen Erwartungen der Kernkraftkritiker in die Realität zu holen schienen und ihnen in den Kämpfen um die Deutungshoheit so einen Vorteil verschaffen konnten.

Karena Kalmbach (Eindhoven)
Radiophobie: Zur Transnationalität eines pro-atomaren Arguments

Für Anti-Atomkraft-AktivistInnen waren gesundheitliche Auswirkungen ionisierender Strahlung stets ein wichtiges Kampagnen-Thema. Als zentrale Problematiken wurden jedoch ebenso die Verbindung von ziviler und militärischer Nutzung sowie Fragen von autoritär-technokratischen Governance-Prozessen identifiziert. Das Subsumieren dieser unter-schiedlichen Kritikstränge unter das Label „Radiophobie“ wurde wiederum zu einer zent-ralen Strategie von Pro-Atomkraft-AktivistInnen, um sich selbst im Gegensatz zu den „emo-tionalen GegnerInnen“ als „rationale ExpertenInnen“ zu positionieren. Der Vortrag be-leuchtet die transnationalen Verflechtungen dieser Medikalisierung der Anti-Atomkraft-Kritik.

Frank Uekötter (Birmingham)
Jenseits von Wyhl, oder: Wie viel Protestromantik verträgt die Geschichte der Atomkraft?

Frank Uekötter geht in ‚Jenseits von Wyhl, oder: Wieviel Protestromantik verträgt die Geschichte der Atomkraft?‘ von der These aus, dass die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung inzwischen auch Teil der Meistererzählung der gelungenen bundesdeutschen Demokratie ist. Der Vortrag stellt die Frage nach den Folgen für gängige historische Narrative und zeigt, wie Protest mehr in seiner ständigen Interaktion mit atomtechnischen, allgemeinpolitischen und juristischen Entwicklungen analysiert werden müsste. Der Vortrag präsentiert damit Umrisse einer vielfältigeren, spannungsvolleren und auch widersprüchlicheren Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung.

Astrid Mignon Kirchhof (Berlin)
Toxische Zeit-Räume: Der Kampf um das westdeutsche Endlager in den 1970ern

Der Ansatz der toxischen Zeit-Räume untersucht anhand der Bürger der Gemeinde Lüchow-Dannenberg wie Zeit, Raum und Körper mit Toxizität in Beziehung stehen. Durch die von Bewohnern erlebte Verbindung von Gift, Angst und Kampf um die Gesunderhal-tung der von der Politik als Endlagerstandort gewählten Region widersprachen und hinter-fragten sie die von Politik und Wirtschaft vorgebrachte Meistererzählung eines linearen Verständnisses von Fortschritt und sauberer Energie. Der Ansatz toxischer Zeit-Räume kann somit ein Werkzeug an die Hand geben, die Voraussetzungen, Ursachen und möglichen Auswirkungen von toxischen Belastungen zu analysieren und historische Konflikte nachvollziehbar zu erklären.

Paul Nolte (Berlin)
Moderation