Alexander Free (Sektionsleitung)

Topos, Anekdote und Legende: Wandernde Texte und ihre Deutung

Abstract

Die Sektion lenkt den Blick auf eine Materialgruppe, die als „wandernde Texte“ bezeichnet wird. Darunter werden Miniaturerzählungen und Bausteine verstanden, die in ein historisches Narrativ eingefügt sind, einen konkreten Autor entbehren, ein hohes Zirkulationspotential besitzen und aus erzähltechnischen oder intertextuellen Gründen stets wahrscheinlichen Charakter haben. Konkret sind damit Anekdoten, Topoi, Legenden oder Gerüchte zu verstehen, die in der Historiographie sowohl in der Form des Einschubs auftreten, als auch zur Spezifikation von Informationen im Rahmen einer Argumentation. Sie dienen oftmals der Authentifizierung, können aber auch einen Eigenwert entwickeln, indem sie Leerstellen ausfüllen und so den potentialen Charakter der Erzählung steigern. All diese Formen des Einschubs stellen den Interpreten der Vergangenheit wie auch jenen der Gegenwart vor Probleme, da ihr Ursprung, ihr Wahrheitsgehalt oder ihre Echtheit nur schwer mit den üblichen Mitteln einer philologisch-kritischen Methode zu überprüfen sind. Der großen Präsenz von wandernden Texten in antiken Quellen steht daher das Fehlen einer zeitgemäßen methodischen Grundlage für ihre Interpretation entgegen. Die einseitige Konzentration auf die diskursive Nutzung wandernder Texte wie auch ihre simplifizierende Interpretation als Ausdruck historischer Tatsachen ist verfehlt und muss daher einer multiperspektivischen Herangehensweise weichen.

Alexander Free (München)
Wandernde Texte – eine Einführung
Henry Heitmann-Gordon (München)
Erzählen als Kontrolle: hellenistische Anekdoten und der "touch of the real”

Verwendet man die bei Athenaios oder Plutarch überlieferten Anekdoten als Quellen für den frühen Hellenismus, bleibt die historische Argumentation immer angreifbar. Möchte man Anekdoten aber nicht als rein ahistorisch verwerfen, bietet sich ein narrativ-funktionalistischer Zugriff an, der aus dem New Historicism Impulse aufnimmt. Dies bietet die Möglichkeit, Anekdoten als „fragments of the real“ zu verstehen, d.h. als kontingente Öffnungen im teleologischen Erzählstrang der Geschichte des Hellenismus. So verstanden, bewahrt die anekdotische Tradition Spuren historischer Kontingenzerfahrungen und der Reaktionen darauf, wie anhand des Materials zu Demetrios Poliorketes gezeigt werden wird.

Stefanie Holder (Hamburg)
Lob und Tadel: Das ambivalente Bild des Gymnasiarchen Isidoros

Am Beispiel des Isidoros, der als Gymnasiarch in die alexandrinischen Unruhen des Jahres 38 n. Chr. involviert war, wird betrachtet, wie ein politischer Akteur zur Identifikations- oder Hassfigur stilisiert wurde. Anhand der Acta Isidori und Philon von Alexandrias Legatio ad Gaium soll nicht nur gezeigt werden, wie nah beide Texte einander in der formalen Gestaltung sind und inwiefern sie beide als „definite political propaganda“ aufzufassen sind. Es wird auch darauf eingegangen, wie beide Texte versuchen, bei gleichzeitiger Abwertung der politischen Gegenseite die Eigenschaften des idealen politischen Verantwortungsträgers zu bestimmen und für sich zu beanspruchen.

Michael Zerjadtke (Hamburg)
Zum Umgang mit Topoi in der antiken Ethnographie

Antike Texte über Barbaren sind in unterschiedlichem Maße durch Topoi geprägt. Sie wurden in der jüngeren Forschung vorrangig diskursanalytisch untersucht. Jedoch können auch weitere Forschungsperspektiven eingenommen werden, beispielsweise ihr Realitätsbezug. Durch den Abgleich mit archäologischen und ethnologischen Forschungsergebnissen und unterstützt durch die Sozialpsychologie, kann auch diese Fragestellung bearbeitet werden. Hierbei ist jedoch zwischen drei Typen von Topoi zu unterschieden, deren Verifizierbarkeit variierte. Zudem ist der Inhalt von der Begründung zu trennen. Am Beispiel des Germanenbildes sollen die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Analyse dargelegt werden.

Alexander Free (München)
Die sogenannte Abgar-Legende als Beispiel für die Unsicherheit antiker Geschichtsschreibung

Der Briefwechsel zwischen dem osrhoenischen Herrscher Abgar V. und Jesus stellt einen wandernden Text im besten Sinne dar. Zuerst von Eusebius von Caesarea angeführt, fand er bald große Verbreitung in griechischer, altsyrischer und koptischer Sprache. Er fand dabei eine verschiedenfache Instrumentalisierung als Marker von Identität, Beweis religiöser Argumente und als Talisman gegen Unheil. Ausgehend von diesem Fallbeispiel soll die methodische Unsicherheit über die adäquate Einschätzung des Textes bereits durch spätantike Historiographen wie Eusebius oder Prokop vorgeführt werden.