Thomas Sandkühler Michele Barricelli  (Sektionsleitung)

Narrative Kompetenz erneut bedacht

Abstract

Arthur Dantos These, HistorikerInnen erklärten, indem sie erzählen, hat sich in der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik, vermittelt u. a. durch die Geschichtstheorie Jörn Rüsens und die Geschichtsdidaktik Hans-Jürgen Pandels, weitgehend durchgesetzt. Die Forderung, Schülerinnen und Schüler sollten narrative Kompetenz erwerben, findet sich in Lehrplänen deutscher Bundesländer und wirkt sich daher auch auf die Produktion von Schulgeschichtsbüchern aus.
Diese prominente Stellung des Narrativitätsparadigmas ist freilich nicht unwidersprochen geblieben und hat in jüngster Zeit Kritiker auf den Plan gerufen. Bemängelt werden u. a. der Abstand zwischen Anspruch und Wirklichkeit narrativer Kompetenz, der ungeklärte Status des Erzählens zwischen logischer Struktur und Darstellungsform und die fehlende Pragmatik der Forderung, Schülerinnen und Schüler sollten Geschichte erzählen. Es geht um nicht weniger als das Kernstück dessen, was im Mainstream der gegenwärtigen Geschichtsdidaktik als unentbehrliche Grundlage historischen Denkens und Lernens betrachtet wird.
Die Sektion will somit einen geschichtsdidaktischen Deutungskampf aufgreifen und ihn im Interesse einer Klärung vorantreiben. In Beiträgen zur Geschichte und gegenwärtigen Gestalt des Narrativitätsparadigmas, zur Empirie und Pragmatik historischen Erzählens soll die Ausgangsthese der narrativen Geschichtstheorie erneut bedacht und die Frage aufgeworfen werden, ob narrative Kompetenz tatsächlich der Königsweg zum historischen Lernen ist, welcher mit solidem Grund unter den Füßen beschritten werden kann, oder ob man derart einem Leitstern mit ungewissem Ziel folgt.

Michele Barricelli  (München) Thomas Sandkühler (Berlin)
Einführung
Thomas Sandkühler (Berlin)
Der lange Weg zum historischen Erzählen. Zur Geschichte des Narrativitätsparadigmas

Die narrative Geschichtstheorie fußt wesentlich auf der analytischen Geschichtsphilosophie Arthur C. Dantos (erstmals 1965). Kaum irgendwo hat sie indes so viel Zuspruch erfahren wie in der Bundesrepublik Deutschland. Es bedurfte erheblicher Übersetzungsleistungen, um Dantos großen Wurf anschlussfähig zu machen, namentlich an den Neukantianismus und die Kritische Theorie, für die exemplarisch Hans-Michael Baumgartner und Jürgen Habermas stehen. In der Geschichtstheorie Jörn Rüsens wurden beide Stränge miteinander verknüpft und geschichtsphilosophisch durch die These überhöht, dass in den Kognitionsleistungen des historischen Erzählens die Evolution der Gattung von primordialen zu postkonventionellen Gesellschaftsentwürfen aufgehoben sei. Im Rückblick stellt sich die hier diskutierte Frage, gewissermaßen welcher Danto oder welche Geschichtsphilosophie in der geschichtsdidaktischen Forschungsdiskussion kanonisiert wurde.

Michele Barricelli  (München)
Narrative Kompetenz heute. Warum Schülerinnen und Schüler lernen sollen, Geschichte zu erzählen

Als vor fast 35 Jahren der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel sein berühmt gewordenes Diktum von der narrativen Kompetenz als „formale[r] und jenseits politischer und pädagogischer Intentionalitäten liegende[r] Zielsetzung des Geschichtsunterrichts“ tat, war der Kosmos noch bipolar, Berlin durch eine Mauer geteilt und die Bundesrepublik offiziell längst noch kein Einwanderungsland. Von dieser Welt ist nichts mehr übrig, und mit ihr haben sich auch alle früheren Selbstverständlichkeiten in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur grundlegend gewandelt. Gleichwohl oder genau deswegen ist narrative Kompetenz der wesentliche facheigene Schlüssel geblieben, der in einem bildungstheoretischen Sinn den Zugang zur Orientierung in einer komplizierten Gegenwart durch historisches Lernen verbürgt. Zu klären ist jedoch immer wieder neu, welche Arten des Erzählens dem Ausbau eines demokratischen Gemeinwesens bzw. dem Aufbau einer inklusiven Gesellschaft im Kontext von Migration und Globalisierung der individuellen Selbstbestimmung förderlich sind.

Ulrich Baumgärtner (München)
Leitstern des historischen Lernens? Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht

Narrative Kompetenz wird weithin als Ziel historischen Lernens in der Schule postuliert, ja in ministeriellen Vorgaben verordnet. Sie gilt als unentbehrlicher Orientierungspunkt, mithin als Leitstern. Diese auf den ersten Blick schlüssige Forderung wirft auf den zweiten Blick eine Reihe von Fragen auf, von denen nur einige exemplarisch genannt seien: Was meint „Narration“ im schulischen Kontext genau? Sind alle Aussagen zur Geschichte Narrationen? Welche Formen von Narrationen lassen sich verlässlich unterscheiden? Welche Bedeutung haben geschichtswissenschaftliche Narrationen für den Geschichtsunterricht? Wie äußert sich „Narrative Kompetenz“ im Unterricht und wie lässt sie sich benoten? Im Vortrag soll ausgehend von diesen Fragen die Bedeutung von Narrationen im Rahmen des Geschichtsunterrichts untersucht werden.

Monika Müller (München)
Narrative Kompetenz im Geschichtslehrplan: Zur Anwendung und Normierung einer geschichtsdidaktischen Theorie

Das Schuljahr 2018/19 markiert eine Zäsur für den Geschichtsunterricht am bayerischen Gymnasium: Mit dem Inkrafttreten des kompetenzorientierten LehrplanPLUS verbindet sich ein Paradigmenwechsel über die curriculare Gestaltung historischen Lernens hinaus. Auf der Grundlage spezifisch definierter historischer Kompetenzen – darunter die Narrative Kompetenz – wurde die Kompetenzorientierung im Fach Geschichte auf verschiedenen schulorganisatorischen Ebenen in die schulische Breite getragen. Dabei stellte die Förderung der Narrativen Kompetenz im Geschichtsunterricht einen Schwerpunkt der Implementierung dar. Der Sektionsbeitrag versucht, die Herausforderungen auf dem Weg von der curricularen Normsetzung hin zur unterrichtlichen Praxis zu skizzieren und Perspektiven für die Rolle historischen Erzählens im Geschichtsunterricht aufzuzeigen.

Monika Waldis (Aarau)
Lässt sich historisches Erzählen messen? Methoden und aktueller Stand geschichtsdidaktischer Narrativitätsforschung am Beispiel der Interventionsstudie „Schülerinnen und Schüler schreiben Geschichte“

Auf die Unterrichtspraxis zielende Ansätze zur Förderung narrativer Kompetenz betonen in der Regel den verknüpfenden Akt, um Geschichte(n) mit Hilfe von Quellen und Darstellungen zu erzählen. Oft werden zusätzlich die notwendigen Analyseleistungen in Bezug auf Quellen, die Kenntnis von Fachbegriffen und Konzepten sowie allgemeine Sprachfähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Schreibstrategien und Kenntnisse von Textgenres in den Blick genommen. Entsprechende anglo-amerikanische Studien zeigen bisher, dass mittels gezielten Schreibtrainings die Qualität von Schülerinnen- und Schülertexten verbessert werden kann, wenn auch nicht in jedem Falle fachspezifische Effekte erkannt wurden. Daraus ergeben sich didaktische Fragen sowohl zur Ausgestaltung von Schreibaufgaben (Schreibprompt, Textgenre, Auswahl von Materialien) als auch zu fachspezifischen Beurteilungskriterien. Im eigenen Projekt „Schülerinnen und Schüler schreiben Geschichte“ wurde eine Schreibintervention für das Gymnasium entwickelt, die Fortschritte der narrativen Kompetenz empirisch messbar machen soll.