Johannes Gleixner (Sektionsleitung)

Konkurrierende Heilsversprechen im säkularen Staat: Anti-/Religiöse Deutungsansprüche zwischen Konflikt und Kooperation 1870–1930

Abstract

Ein wesentliches Merkmal des modernen Staates besteht darin, religiöse Sinnangebote und säkulare Ordnung aufeinander zu beziehen und zugleich eine operationalisierbare Grenze zwischen dem Politischen und dem Religiösen zu errichten. Zwischen diesem Anspruch jegliche Religion einem allgemeingültigen Regelwerk zu unterwerfen und historisch verbürgten Präferenzen verschiedener Staaten über Glauben und Weltanschauung ihrer Bürger besteht ein Raum für religiöse wie säkulare Deutungsangebote. Religiöse und weltanschauliche Gruppen treten hier diesseits ihrer transzendenten Heilsversprechen als innerweltliche Sinnproduzenten und –konkurrenten auf. Thema der Sektion sind religiöse, religionsähnliche und (radikal)säkulare Angebote an die staatlichen Ordnungen der europäischen Hochmoderne und ihre gegenseitige Konkurrenz um die Ausdeutung der gemeinsamen säkularen politischen Ordnung. In vier verschiedenen zentral- und osteuropäischen Fällen interessieren wir uns dabei insbesondere für die Positionen religiöser Minderheiten und säkularreligiöser Akteure, deren Haltung zur politischen Ordnung oft einen Indikator für die Verschiebung der Grenzen von Religion und Politik bildete. Carolin Kosuch wird dabei die Konflikte italienischer Säkularbewegungen, aber auch deren gemeinsame Beziehung zum neuen, ebenso liberalen wie den Katholizismus als Staatsreligion festschreibenden italienischen Staat untersuchen. Friedrich Wilhelm Graf fragt wiederum danach, wie die moderne politische Ordnung zum Gegenstand theologischer Begründungen im deutschen Protestantismus werden konnte. Martin Schulze Wessel vergleicht die beiden „neuen“, schismatischen Kirchen der Tschechoslowakei und Sowjetrusslands in den 1920er Jahren hinsichtlich ihres Erfolgs als Deuter des Säkularen. Abschließend geht Johannes Gleixner auf die Schwierigkeit der sowjetischen Gottlosenbewegung ein, sich von religiösen Akteuren abzugrenzen zu müssen, ohne dabei auf säkulare Sinnproduktion zu verzichten.

Carolin Kosuch (Göttingen)
Konkurrierende Sinnstiftungen und vereinter Kulturkampf? Italienische Säkularismen im liberalen Staat
Friedrich Wilhelm Graf (München)
Sakralisierung von ‚Ordnung‘. Die Theologische Ethik des Politischen im deutschen Protestantismus um 1900
Martin Schulze Wessel (München)
Neue Kirchen für einen neuen Staat? Die Tschechoslowakische Kirche in der CSR und die Lebendige Kirche in Sowjetrussland als religiöse Deuter eines säkularen Umbruchs
Johannes Gleixner (Prag)
Der Kampf um die revolutionäre Seele: Die sowjetischen Gottlosen als religiöser Akteur wider Willen