Bettina Hitzer Benedikt Stuchtey (Sektionsleitung)

Kinder in prekären Verhältnissen. Deutungskämpfe um Zugehörigkeit und Identität nach 1945

Abstract

Deutungskämpfe um die Zugehörigkeit von Kindern im Spannungsfeld von Familie, religiöser oder ethnischer Gruppe und Nationalität kennzeichnen unsere Gegenwart und besitzen ein enormes Emotionalisierungspotential. Die Anfänge dieser Art von Deutungskämpfen reichen in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Seit damals gewannen humanitäre Organisationen und Völkerbund/UN-Institutionen Einfluss auf das Schicksal von Kindern. Bis zum Jahr 1945 setzte sich innerhalb dieser international agierenden Institutionen die Überzeugung durch, dass Kinder zuerst ihren Eltern und dann erst einem Staat, einer Nation oder Gruppe gehören sollten. Wie die Kämpfe um die Zugehörigkeit von Displaced-Persons-Kindern jedoch zeigten, widersprach diese Definition vom „best interest of the child“ den Interessen vieler europäischer Staaten und religiöser Gruppen. Betroffen waren vor allem Kinder in unsicheren Verhältnissen. Das waren 1945 zunächst Kinder von Besatzungssoldaten oder DP-Kinder, dann auch Kinder alleinstehender Mütter sowie Kinder, deren Eltern aus sozialen oder politischen Gründen als ungeeignet angesehen wurden. Diese Kinder wurden oft zur Adoption vermittelt, sowohl im nationalen Rahmen als auch transnational. Denn die Deutungskämpfe bezogen sich nicht nur auf die Frage, ob ein Kind bei den Eltern bleiben, sondern auch darauf, zu wem es gegeben werden sollte. Wie auch immer diese Entscheidung ausfiel, sie hatte gravierende Auswirkungen auf das Leben und das Identitätsverständnis dieser Kinder. Die Frage nach der Bedeutung von Herkunft und biographischer Abwesenheit der Herkunftseltern hat seit den 1970er Jahren in der psychologischen Fachdiskussion ebenso wie in den Selbstverständigungen der erwachsen gewordenen Kinder an Gewicht gewonnen. Was Herkunft für Identität bedeutet, ist damit zu einer weiteren Facette der Deutungskämpfe um Kinder geworden.

Bettina Hitzer (Berlin) Benedikt Stuchtey (Marburg)
Einführung
Barbara Stelzl-Marx (Graz)
Eine Frage der Identität. Besatzungskinder in Österreich und ihre Suche nach dem unbekannten Vater

Der Vortrag fragt danach, wie die Suche nach dem unbekannten Vater die Identitätsbildung von Besatzungskindern in Österreich bestimmt hat. In den meisten Fällen wuchsen die Nachkommen einheimischer Frauen und alliierter Soldaten ohne den leiblichen Vater auf, häufig umgeben von einer Mauer des Schweigens, konfrontiert mit Stigmatisierung und Diskriminierung. Die Suche nach dem Vater war für viele Besatzungskinder – und deren Kinder – zeit ihres Lebens ein zentrales Thema. Im Vordergrund stand die Ergründung der eigenen Identität, die Frage nach den „persönlichen Wurzeln“. Die biologische Herkunft stellte gemeinsam mit der Wahrnehmung und Bewertung dieser Rahmenbedingungen durch das soziale Umfeld wichtige Größen bei der Herausbildung der eigenen Identität dar.

Friederike Kind-Kovács (Dresden)
Displaced Childhoods: Children’s Transports in the Face of Europe’s International Wars

The paper focuses on the historical phenomenon of children’s evacuation, which was triggered by international wars and crises. The paper compares different types of evacuation programs for children in the twentieth century and examines how these transports, originally considered temporary, led – at times – to the alienation of children from their birth families and their permanent integration into the foster families and countries. The paper discusses the moral dilemma of this humanitarian endeavor: children’s forced displacement offered measurable relief, while it also highlights the particular vulnerability of children in times of political crisis.

Silke Hackenesch (Köln)
Colorblind Love oder Racial Responsibility? Transnationale Adoptionen von Deutschland in die USA nach 1945

Der Vortrag widmet sich der Geschichte afrodeutscher Kinder, die zwischen Mitte der 1940er Jahre und Ende der 1950er Jahre überwiegend von afroamerikanischen Familien in den USA adoptiert worden sind. Er analysiert, wie Fragen nach Zugehörigkeit, Verantwortung und racial identity anhand dieser Kinder kontrovers diskutiert wurden. In der Debatte um diese Adoptionen bündelten sich etliche Diskurse, die zu der Zeit prominent und kontrovers verhandelt worden sind – u.a. die Kultur des Kalten Krieges, die an Dringlichkeit gewinnende Bürgerrechtsbewegung, sowie normative Auffassungen von Elternschaft, und die Aufgaben von Sozialarbeiter*innen als „professionelle Gestalter*innen“ von Familie.

Frank Henschel (Kiel)
Adoption in der sozialistischen Tschechoslowakei als Spiegel der Vorstellungen von Kindheit, Familie und Nation

Der Vortrag ergründet die Geschichte der Adoption in der sozialistischen Tschechoslowakei. Adoption war dort nur ein marginales Instrument der Ersatzfürsorge für „Kinder ohne Eltern“. Dennoch entstanden in diesem Feld fundamentale wissenschaftliche und ideologische Kontroversen um die rechtliche und fürsorgerische Praxis. Der Vortrag analysiert die Ambivalenz zwischen sozialistischer Ideologie, wissenschaftlichen Diskursen sowie traditionellen Normen und Idealen auf der einen und der fortgesetzten Unterbringung von Kindern in Heimeinrichtungen, der Aufrechterhaltung des Adoptionsgeheimnisses sowie der Diskriminierung von Roma und Kindern mit Behinderungen auf der anderen Seite.

Thomas Lindenberger (Dresden)
„Zwangsadoptionen“ und „gestohlene Kinder“: Ostdeutsche Deutungskämpfe um den Kindesentzug im SED-Staat

Der Vortrag erkundet die Geschichte der gegen den Willen der leiblichen Eltern von Behörden des SED-Staats angeordnete Freigabe zur Adoption. Für „Zwangsadoption“ im strikten Sinn konnte eine vom ZZF Potsdam im Auftrag des Ostbeauftragten der Bundesregierung durchgeführte Vorstudie nur ein gutes Dutzend Fälle nachweisen. Zugleich geht eine als Vertretung betroffener Eltern auftretende „Interessengemeinschaft“ von tausenden „gestohlener“ Kinder aus. Der Vortrag behandelt die gegenwärtige Debatte in den Spannungsfeldern von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen und Aufarbeitungspolitik, von medialisierter Opfer-Anwaltschaft und individueller Traumabewältigung.

Andreas Gestrich (Trier)
Kommentar