Anna Ullrich David Jünger Stefanie Schüler-Springorum (Sektionsleitung)

Getäuschte Erinnerung: Innerjüdische Deutungskämpfe über die „Vorgeschichte“ des Holocaust nach 1945

Abstract

In der Sektion „Getäuschte Erinnerung“ untersuchen wir, wie die Zeit nationalsozialistischer Verfolgung in verschiedenen jüdischen Gemeinschaften nach dem Holocaust gedeutet wurde. Untersuchungsgegenstand sind dabei innerjüdische Deutungskämpfe am Beispiel von Deutschland, Jugoslawien und Rumänien. Im Zentrum der Sektion steht dabei die Frage, wie das Wissen um den Holocaust den Blick auf seine Vorgeschichte geprägt und verändert hat. Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist dabei die These, dass bestimmte Wahrnehmungen, Fragestellungen und Probleme, die sich erst aus den Erfahrungen des Holocausts heraus entwickelten, rückblickend auf seine Vorgeschichte projiziert wurden.
Jedes jüdische Agieren in den 1920er und 1930er Jahren, gleich ob politisch oder privat, schien aus späterer Perspektive unweigerlich mit der späteren Erfahrung des Holocaust verbunden zu sein. Häufig sahen sich die verschiedenen jüdischen Gemeinschaften dem Vorwurf ausgesetzt, auf das Kommende nicht richtig und rechtzeitig reagiert zu haben, ganz so, als hätten sie den Holocaust antizipieren können, ja vielleicht sogar müssen. Dies hatte einen wichtigen Einfluss insbesondere auf die Geschichtswissenschaft, in der die Feststellung, dass (jüdische) Zeitgenoss*innen den Holocaust nicht vorausahnen konnten, unter Beweislast geriet. Die Sektion geht dieser Entwicklung in geographisch und methodisch breit gefächerten Studien nach. Diese untersuchen die jeweiligen Erklärungsansätze für die Erfahrung des Holocaust und die unterschiedlichen Verarbeitungsmechanismen, die an vielen Orten schließlich zu teilweise heftigen inner-jüdischen Deutungskämpfen führten.
In der Zusammenschau sollen die einzelnen Beiträge Möglichkeiten eines anderen Blicks auf die „Vorgeschichte des Holocausts“ eröffnen. Gleichzeitig soll das Panel dazu dienen, aus den unterschiedlichen Beiträgen gemeinsame Faktoren herauszuarbeiten, die die „getäuschten Erinnerungen“ beförderten und die – so eine erste These – von strategischen, politischen oder pragmatischen Überlegungen hin zu persönlichen Gefühlen von Scham und Reue reichten. Eine Sektion der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts (WAG).
Das Panel bietet nicht nur eine historische, sondern auch eine kritische historiographische Analyse, die der „Vor“- und „Nach“-Geschichte des Holocaust neue Impulse geben soll. Es interveniert damit in die derzeitige Forschungsdiskussion über jüdische Handlungsoptionen in den Krisenzeiten des 20. Jahrhunderts.

Stefanie Schüler-Springorum (Berlin)
Einleitung und Kommentar
Anna Ullrich (München)
Analysen aus dem Exil – Deutsche Juden und der erklärende Blick ‚zurück‘

In ihrem Beitrag richten Dr. Anna Ullrich und Dr. David Jünger den Blick auf Deutschland. Ehemalige Mitglieder und insbesondere Führungspersonen deutsch-jüdischer Vereine und religiöser Strömungen, die bis Mitte der 1930er Jahre von einer überstürzten Emigration aus Deutschland abgeraten hatten, sahen sich in ihren Memoiren immer wieder zur Rechtfertigung gedrängt, warum „wir viel länger gebraucht haben, um zu erkennen, dass alles verloren war.“ (Friedrich Brodnitz) Vielen von ihnen waren überdies diejenigen, die unmittelbar nach Kriegsende als erste begannen, den Aufstieg des Nationalsozialismus und den ‚deutschen‘ Antisemitismus aus historischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen.
Ullrich/Jünger bündeln ihre Forschungen zum deutschen Judentum und präsentieren in einem gemeinsamen Vortrag, wie sich persönliche Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Terror und dessen wissenschaftliche Erforschung durch deutsch-jüdische Emigrant*innen wie Eva und Hans Reichmann, Margarete Edelheim oder Joachim Prinz nach 1945 gegenseitig beeinflussten. Ullrich/Jünger vertreten dabei die These, dass jene persönlichen Erfahrungen für die spätere Forschung einerseits erkenntnisleitend waren, andererseits bestimmte historische Zusammenhänge – wie beispielsweise die Frage der Emigration – verzerrten.

Marija Vulesica (Berlin)
„Von Opfern und Helden“ – Jugoslawische Juden und ihr Umgang mit dem Holocaust

Der Beitrag von Dr. Marija Vulesica wendet sich Jugoslawien zu. 1954 eröffnete der Bund der Jüdischen Gemeinden Jugoslawiens die erste Nachkriegsausgabe seines neuen Publikationsorgans „Jüdischer Almanach“ mit den Worten ´Wir machen dort weiter, wo wir aufgehört haben´. Mehr als ein Jahrzehnt nach der nahezu völligen Zerstörung des jugoslawischen Judentums präsentierte sich der Bund selbst-und traditionsbewusst. Die Redakteure rekurrierten auf ihr zionistisches Wirken, auf das jüdisch-nationale Selbstbewusstsein und auf den geleisteten Widerstand vor und während des Krieges. In dem Beitrag zu Jugoslawien soll erörtert werden, warum der Bund so auftreten konnte. Welches Selbstverständnis, welche Deutung der eigenen Vergangenheit und welche Verarbeitungsmuster lagen dieser Haltung zugrunde? In ihrem Vortrag geht Marija Vulesica auf die Mechanismen ein, die aktiviert wurden, um aus der erlebten Katastrophe ein neues Selbstbewusstsein schöpfen zu können.

Gaëlle Fisher (München)
„Vertrieben aus dem Paradies“ – Überlebende aus der Bukowina und die Erinnerungen an die ‚verlorene‘ rumänische Heimat nach 1945

Der Beitrag von Dr. Gaëlle Fisher behandelt die rumänischen Juden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die jüdische Gemeinde Rumäniens die zweitgrößte Europas – einzig in der Sowjetunion hatten mehr Juden den Krieg und den Holocaust überlebt. Doch die Gruppe war von der Verfolgung schwer getroffen und tief gespalten. In ihrem Vortrag untersucht Gaëlle Fisher wie sich unter den Juden aus der Bukowina nach 1945 ein spezifisches Narrativ der Zwischenkriegszeit herausbildete – eine Erzählung die zwischen Idealisierung und Verdrängung dieser Zeit hin und her schwang. In dem Vortrag wird argumentiert, dass es die besondere Kombination aus jüdischen und israelischen Identitätsdiskursen und (trans)nationaler Erinnerungspolitik war, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten sowohl eine differenzierte Beurteilung der Dynamiken der Gewalt im Vorkriegsrumänien als auch ein einheitliches „rumänisch-jüdisches“ Narrativ der Vergangenheit verhinderte.