Michael Wildt (Sektionsleitung)

Fotografien im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit im 20. Jahrhundert

Abstract

Das 20. Jahrhundert ist das „Jahrhundert der Bilder“ (Gerhard Paul) – die Bedeutung von visuellen Medien für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland wie Europa ist nicht zu übersehen. Auf dem Historikertag 2006 in Konstanz stellte die Visual History eines der zentralen Themen dar. Seither ist das Bewusstsein, dass visuelle Quellen elementarer Bestandteil der Geschichtswissenschaften sind, insbesondere die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht ohne Film und Fotografie verstanden werden kann, zweifellos gestiegen – aber empirische geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekte sind nach wie vor rar.

Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass Bilder nicht eindeutig zu lesen sind, vielmehr in ihren Kontexten, ihren Deutungen umstritten, umkämpft sind. Dass Herrschaft im 20. Jahrhundert in herausragender Weise durch die Beherrschung der Bilder geschehe, war nicht nur eine Grundannahme von Diktaturen, die Kontrolle über Bilder zu erlangen suchten, sondern galt auch für demokratische Gesellschaften, in denen es darum ging, politische Mehrheiten zu mobilisieren.

Aber die Vorstellung, Propaganda könne Menschen vollständig manipulieren, „überwältigen“, übersieht die Dimension der Rezeption, der Aneignung von manipulativ intendierten Bildern. Entgegen der Vorstellung, „Öffentlichkeit“ sei ein homogener sozialer Raum, der entweder im aufklärerisch-emanzipativen Sinn zur Stabilität der Demokratie beitrage oder in Diktaturen mit repressiven Mitteln durch eine einheitliche Zwangsöffentlichkeit ersetzt werde, kann Öffentlichkeit durchaus im Plural gedacht werden. Privatheit und Öffentlichkeit sind offensichtlich keine streng voneinander getrennten Kommunikationsräume, sondern aufeinander bezogen und miteinander verwoben, ihre Grenzen durchlässig und veränderbar. Gerade Bilder – und für das 20. Jahrhundert insbesondere Fotografien – sind Medien des Austausches, des Changierens und der Transformation zwischen Privatheit und Öffentlichkeit.

Die Fotografie stellte (und stellt) ein wirkliches Massenmedium dar, nicht bloß im Sinne einer massenhaften Konsumption, sondern vielmehr als immer alltäglicher werdende Praxis. Fotografien, so die britische Fotohistorikerin Maiken Umbach in Bezug auf den Nationalsozialismus, „“are not ‚objective‘ documents showing whether or not people resisted or were ‚duped‘ by the fascist regime and its ideology. Rather, photos are part of what people did with this ideology, and how they translated it back into a sense of selfhood“.
In der beantragten Sektion sollen vier Forschungsprojekte aus Israel, Großbritannien und Deutschland zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Fotografien als Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt stellen, ihre Ergebnisse und konzeptionellen wie methodischen Überlegungen vorstellen, austauschen und mit der Fachöffentlichkeit diskutieren.

Michael Wildt (Berlin)
Einführung
Ofer Ashkenazi (Jerusalem)
Home and Heimat in Times of Crisis: German-Jewish Family Albums, 1928–1938
Sylvia Necker (Minden)
Mann vor Auto vor Berg. (Selbst)Repräsentationen deutsch-jüdischer Familien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Ulrich Prehn (Berlin)
Zwischen öffentlicher (Re-)Präsentation und privater Erinnerung: Fotografen von Arbeitswelten im Nationalsozialismus
Sandra Starke (Potsdam)
Private Fotoalben in der DDR
Annette Vowinckel (Potsdam)
Kommentar