Michael Brenner Yfaat Weiss (Sektionsleitung)

Die Sprache des Feindes: Deutschsprachige Akten in israelischen Archiven

Abstract

Die deutsche Sprache war in Israel lange Zeit mit dem Nationalsozialismus assoziiert, und einige der deutsch-jüdischen Intellektuellen, die selbstverständlich weiterhin auf Deutsch verkehrten und dieses als literarische Sprache pflegten, wurden verpönt und angegriffen. Dabei war die deutsche Sprache Jahrzehnte lang die Sprache gewesen, die Juden vieler Länder miteinander verbunden und als die Sprache der zionistischen Kongresse fungiert hatte. Es wundert daher nicht, dass man zahlreiche deutschsprachige Dokumente in den verschiedenen israelischen Archiven finden kann. Der vor kurzem für öffentliches Aufsehen sorgende juristische Kampf um den Nachlass von Max Brod mit seinen Kafka-Dokumenten hat auch die Frage aufgeworfen, wem dieses archivalische Erbe gehört. In dieser Sektion soll der Erkenntniswert deutschsprachiger Quellen in israelischen Archiven für die historische Disziplin ebenso verdeutlicht werden wie Fragen der Provenienz, der kulturellen Zugehörigkeit und der unterschiedlichen Interpretation.

Tom Segev (Jerusalem)
Die Akten des Feindes. Dokumente aus dem Konsulat des Deutschen Reichs in Jerusalem während der NS-Zeit im Israelischen Staatsarchiv

Im ersten Beitrag, „Die Akten des Feindes“ untersucht Dr. Tom Segev (Jerusalem) Archivalien aus dem Konsulat des Deutschen Reichs in Jerusalem während der NS-Zeit. Das deutsche Konsulat in Jerusalem bestand zwischen 1842 und 1939. Außer dem konsularischen Dienst förderte das Konsulat die wachsenden politischen Interessen des Deutschen Reichs, die mit dem offiziellen Besuch Kaiser Wilhelm II. 1898 ihren Höhepunkt erreichten. Aus diesem Anlass entstand eine Reihe monumentaler Bauten, die bis heute das Stadtbild Jerusalem prägen. Das Konsulat befand sich mit seinen Aktivitäten oft in Konkurrenz zu den Vertretern anderer europäischer Mächte, insbesondere Frankreich und Großbritannien. Insgesamt haben nur 169 Dokumente aus dem Archiv die Wirren der Zeit überlebt. Sie wurden vom Israelischen Staatsarchiv angekauft und sind online einsehbar. Es handelt sich bei ihnen um eine unschätzbar wichtige Quelle für den deutschen Einfluss im Nahen Osten, wie beispielsweise zur Geschichte des Templerordens. Nach dem Aufstieg des Nationalsozialismus griffen jüdische Aktivisten das deutsche Konsulat mehrfach an und versuchten zu verhindern, dass die Hakenkreuzfahne über Jerusalem wehte. Von besonderer historischer Tragik sind die Dokumente, die deutsch-jüdische Emigranten an das Konsulat richteten, um die Anwendung antijüdischer Gesetzgebung – wie das Tragen zusätzlich verordneter Zwangsvornamen – auf sie abzuwenden. Das Archiv des deutschen Konsulats bietet somit bisher unbekannte Einblicke in die Vielfalt der Beziehungen zwischen Deutschland und dem Heiligen Land.

Yfaat Weiss (Jerusalem/Leipzig)
Unter sich: Jerusalemer Gelehrte und die deutsche Sprache. Aus dem Archiv der Hebräischen Universität Jerusalem

Prof. Dr. Yfaat Weiss (Jerusalem/Leipzig) wendet sich in ihrem Vortrag „Unter sich: Jerusalemer Gelehrte und die deutsche Sprache“ dem Jerusalemer Gelehrtendiskurs zu. Der Zionistische Weltkongress, der 1913 in Wien stattfand, gab der spätere Präsident der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizmann, den Auftrag, die auf den russischen Zionisten Achad Ha’am zurückgehende Idee eines jüdisch-geistigen Zentrums durch die Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem zu realisieren. Die Vorstellung einer Universität des jüdischen Volkes blieb auch dann fester Bestandteil der zionistischen Vision, als mit der Balfour-Erklärung von 1917 die politische Begründung einer jüdischen Heimstätte in greifbare Nähe gerückt war. Beides fand 1925 bei der Einweihung der Universität auf dem Skopusberg in Anwesenheit des britischen Außenministers Arthur Balfour seinen symbolischen Ausdruck.

Aufgrund der Flucht deutsch-jüdischer Gelehrter in den 1930er-Jahren und der verzweifelten Versuche jüdischer Studierender, Mittel- und Osteuropa zu verlassen, änderten sich die Erwartungen an die Universität. Von nun an sollte sie zu einem „Nachtasyl“ werden. Doch jenseits des Unterschieds, dass die Gelehrten in den 1920er-Jahren als Immigranten und in den 1930er-Jahren als Flüchtlinge gekommen waren, kommunizierten viele der aus dem deutschen Sprachraum Stammenden an der Universität in ihrer Muttersprache. Ein Einblick in die Archivalien des erst vor kurzem konservierten Historischen Archivs der Hebräischen Universität soll die Frage nach dem Status des Deutschen als offizieller und informeller Kommunikationssprache im Gelehrtendiskurs von Jerusalem erhellen.

Stefan Litt (Jerusalem)
Der Prager Kreis in Jerusalem. Die Bedeutung deutschsprachiger Nachlässe in der Israelischen Nationalbibliothek

Im abschließenden Referat wird Dr. Stefan Litt (Jerusalem) unter dem Titel „Der Prager Kreis in Jerusalem“ die Bedeutung deutschsprachiger Nachlässe in israelischen Archiven bis in die jüngste Zeit beleuchten. Begründet durch die Geschichte der israelischen Gesellschaft als eine vor allem auf Einwanderung basierender Gemeinschaft stellt sich die heutige kulturelle Realität des Landes als ein vielschichtiges Mosaik aus jüdischer und internationalen Kulturen dar. Dies spiegelt sich auch in der Archivlandschaft Israels wider: große Teile des vor- und frühstaatlichen Archivguts wurden in internationalen Sprachen verfasst, worunter Deutsch einen wesentlichen Platz einnimmt. Auch institutionelles wie privates Schriftgut, das in der Diaspora durch politische, kulturelle oder religiöse Aktivitäten jüdischer Menschen entstand, wurde und wird als Teil des nationalen Erbes verstanden.

Unter den mehr als 1000 Archivbeständen in der Israelischen Nationalbibliothek (NLI) finden sich mehr als 170, die zum Teil oder zur Gänze in Deutsch sind, darunter auch die meisten Nachlässe der Mitglieder des literarisch-philosophischen „Prager Kreises“. Zu diesem Kreis gehörten vor allem Max Brod, Franz Kafka, Felix Weltsch, Oskar Baum, Ludwig Winder, Franz Werfel, Willy Haas, Hugo Bergmann und andere. Nach ihrer Einwanderung nach Palästina prägten u. a. Hugo Bergmann und Felix Weltsch im Laufe ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit an der NLI die Sammlungsbestände und die Anschaffungspolitik, die sich über Jahrzehnte an der mitteleuropäischen Geistestradition orientierte. Vor diesem Kontext überraschte es nicht, dass sich die NLI in den vergangenen Jahren vehement für den Verbleib des Nachlasses von Max Brod in Israel einsetzte und diesen nach langjährigen öffentlichen Auseinandersetzungen durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofs in Israel 2016 erwirkte.

Bezugnehmend auf die heutige israelische Archivlandschaft und die jahrzehntelange Bewahrung nicht-hebräischer jüdischer Bestände und Nachlässe widmet sich der Vortrag verschiedenen Aspekten der Aufbewahrung und des Erwerbs deutschsprachiger Sammlungen in Israel und legt besonderes Augenmerk auf die komplexe Erwerbsgeschichte des Nachlasses von Max Brod.

Michael Brenner (München/Washington, D.C.)
Kommentar

Prof. Dr. Michael Brenner (München/Washington) verbindet in seinem Kommentar die verschiedenen Stränge der Sektion und geht der Frage nach, welche Bedeutung die betreffenden Archivbestände sowohl für die deutsche als auch für die israelische Geschichte haben.