Immo Rebitschek  (Sektionsleitung)

Die Selbstbeschränkung der Diktatur – Polizeigewalt und Polizeibrutalität im Staatssozialismus

Abstract

Die Geschichte der Polizei im Staatssozialismus ist noch immer geprägt vom postkommunistischen Deutungskampf darüber, wie repressiv und effektiv ein Apparat Parteiweisungen aus Moskau oder Ostberlin in Alltagswillkür übersetzte. Dieses Panel präsentiert aktuelle Forschungsergebnisse, nach denen es innerhalb des (Geheim)Polizeiapparates aber auch im zwischenstaatlichen Vergleich deutlich Raum für Differenzierung gibt. Polizeiinstitutionen in sozialistischen Staaten zeigten ähnliche Tendenzen zur Selbstbeschränkung. Seit den 1950er Jahren rangen Akteure der Justiz und der Kriminalpolizei in Polen, der Sowjetunion und der DDR um die Verhältnismäßigkeit polizeilichen Handelns. Polizisten in Staaten des Warschauer Paktes operierten innerhalb eines Rahmens, den sich die Behörden auferlegten und der mitunter konfliktreich gegen interne Interessenlagen behauptet werden musste. Besonders virulent waren diese Auseinandersetzungen im Umgang mit Polizeigewalt. Vier Fallstudien über Polen, die DDR und die Sowjetunion belegen die unterschiedlichen Vorstellungen, wie weit physische Gewalt erlaubt, normiert und zugleich sanktioniert werden sollte – abhängig vom jeweiligen institutionellen Kontext (Justiz, Antikorruptionsbehörde, Partei). Polizeigewalt wie auch polizeistaatliches Handeln insgesamt muss im Lichte seiner Institutionenvielfalt beurteilt werden. Die Anwendung physischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung erfolgte keineswegs konsequent aus den Weisungen einer monolithischen Machtvertikale heraus, sondern war das Resultat inner- und überbehördlicher Aushandlungsprozesse. Dazu gehörte auch die Beschränkung polizeilicher Gewalt. So wird deutlich, dass die Debatte um den repressiven Charakter staatssozialistischer Regime auf einer differenzierteren Grundlage zur Polizeigeschichte und im Kontext ostdeutscher, ostmitteleuropäischer und sowjetischer Erfahrungen geführt werden muss.

Evgenia Lezina (Potsdam)
The Soviet State Security: From Mass Terror to Mass Social Control

During the Stalinist rule the Soviet secret police resorted to extreme violence: large-scale arrests, executions, deportations, torture, etc. After the death of Stalin, the state security structures had to adjust to a new ideological environment. The Communist Party leadership proclaimed then the end of the class struggle and the establishment of a developed socialist society. Thus, in the state security’s doctrine and practice mass violence gave way to a more sophisticated system of mass social control. The paper will explore the limitation of violence by the political police in the post-Stalinist period and the way it was performed on a legal, administrative and practical levels.

Joachim von Puttkamer (Jena)
Dienst unter Aufsicht: Die „Behörde zum Schutz der Beamten“ und der Umgang mit Polizeibrutalität in der späten Volksrepublik Polen

Joachim von Puttkamer untersucht die interne Ermittlungsbehörde, die das polnische Innenministerium Mitte der 1980er Jahre einrichtete, um Fehltritte seiner Beamten zu ahnden und so die Reputation des Sicherheitsapparats zu schützen. Diese Behörde stieß bald an ihre Grenzen. Geheimhaltung und Misstrauen zogen enge verfahrungsrechtliche und informelle Grenzen. Gewalttätige Übergriffe der Beamten interessierten die Ermittler weit weniger als Korruption oder der Verdacht auf Spionage. Der Beitrag leuchtet somit die systemischen Grenzen einer Selbstbeschränkung sozialistischer Polizeiapparate aus und diskutiert systemübergreifende Gemeinsamkeiten europäischer Polizeien in der Kontrolle über den eigenen Apparat.

Immo Rebitschek  (Jena)
Vom Ende der Unantastbarkeit. Die sowjetische Kriminalpolizei nach Stalins Tod 1953–1956

Immo Rebitschek behandelt, wie die sowjetische Kriminalpolizei in den frühen 1950er Jahren wegen gehäufter Fälle von Polizeibrutalität immer stärker unter Druck durch die Strafjustizbehörden geriet. Stalins Nachfolger nutzten ab 1953 die Staatsanwaltschaft, um die Strukturen und die Kultur der Selbstabschottung der (Geheim)Polizei zu brechen. Die Staatsanwälte sahen sich als professionelle Juristen in der Pflicht und durch die Partei bestärkt, Fälle von Polizeiwillkür und -gewalt konsequent zu verfolgen. Der Beitrag diskutiert den Konflikt zwischen Justiz und Polizei über der Ahndung von Polizeigewalt als Teil der post-Stalinistischen Transformation.

Gerhard Sälter (Berlin)
Norm, Rechtsbindung und Klientele: Die rechtliche Normierung des Schusswaffengebrauchs an den Grenzen der DDR und ihre permissive Implementation

Gerhard Sälter analysiert die Anwendung von Waffengewalt an den Westgrenzen der DDR vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Souveränitätsdenkens der politischen Elite in Ost-Berlin. Er diskutiert die Umstände, unter denen der Einsatz von Waffen geregelt wurde, als Zusammenwirken permissiver Rechtsbindung, ausgeprägter Klientelbindungen und der Delegierung von Verantwortlichkeit an in der Hierarchie nachgeordnete Instanzen. Damit kann der Vortrag exemplarisch zur Erklärung der eklatanten Normdifferenz zwischen Gesetzen und praxisbezogenen Normen und zur Performanz polizeistaatlicher Herrschaftspraxis in der DDR beitragen.