Susan Richter Sebastian Schütte (Sektionsleitung)

Deutungskämpfe um die Gegenwart: Zeitgenossenschaft und Zeitdiagnostik um 1800 in der Kontroverse

Abstract

In den gesellschaftspolitischen Debatten wie in der historischen Forschung ist der argumentative Rekurs auf „den“ bzw. die Zeitgenoss*in vielgestaltig: Nach Lucian Hölscher sind dies Menschen, die durch die gemeinschaftsstiftende Wirkung einer Zeit und ihres Geistes als „metaphysische[m] Akteur“ in eine synchrone Logik der Gleichzeitigkeit gedrängt werden. Für Giorgio Agamben kommt Zeitgenossenschaft als schöpferischer Tätigkeit hingegen eine geschichtsphilosophische Aufgabe zu: Sie wird gewissermaßen zur unzeitgemäßen Kritik seiner Gegenwart und ihrer Zeitläufe, die jene deutend zu transformieren sucht. Es ist unser Anliegen, Zeitgenossenschaft als heuristische Figur vor einem geschichtswissenschaftlichen Fragehorizont zu positionieren und für die Untersuchung historischer Gegenwartsproblematisierungen heranzuziehen. Anhand frühneuzeitlicher Fallbeispiele soll sie im Handlungszusammenhang hinterfragt sowie in ihren Entwicklungen verfolgt werden. Die Wissensordnungen, entlang deren sich Zeitgenoss*innen in ihrem Wirken bewegten, werden ebenso thematisiert wie die Ordnungsbrüche, von denen ihre Diagnosen ausgingen.
Erwies sich die Aufgabe, die eigene Gegenwart zu zerlegen, um ihrer diagnostisch habhaft zu werden, überhaupt als erfüllbar? Welche Strategien gingen mit dieser Herausforderung im Angesicht diagnostischer Vielstimmigkeit oder Konkurrenz einher? Auf welche semantischen, medialen und persönlichen Ressourcen wurde zur Legitimation und Verbreitung von Zeitdeutungen zurückgegriffen? Schließlich gilt es, die Rolle der Retrospektive bei der Identifikation diagnostischer Zeitgenossenschaft zu prüfen. Mit der Zeitgenossenschaft möchten wir eine in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher kaum beachtete, jedoch aus unserer Sicht vielversprechende Denkfigur zur Untersuchung geschichtsphilosophischer und kulturkritischer Reflexionen zur Diskussion stellen.

Sebastian Schütte (Heidelberg)
Von Nachtwandlern und Traumfängern im utopischen Dämmerschein. Geschichtsdeutung und Zeitkritik im (vor)revolutionären Paris

Um 1780 schienen das Pariser Leben aus den vertrauten Fugen geraten und in einer Unübersichtlichkeit aufgegangen zu sein, die rasch zum Gegenstand sozialphilosophisch motivierter Ordnungskontroversen avancierte, wie sie im Genre der tableaux urbains ihren Ausdruck fanden. Ausgehend von dem Beispiel der gesellschaftlichen Kaleidoskopien N.E. Rétif de La Bretonnes und L.S. Merciers thematisiert der Beitrag aufklärerische Anstrengungen, die unterschiedlichen urbanen Lebensrhythmen zu entdecken und die mit ihnen verwobenen Erinnerungs-, Erfahrungs- und Erwartungsbilder in literarische Montagen des gegenwärtigen Augenblicks zu überführen.

Susan Richter (Kiel)
Von der Seife und dem Besteck des Zeitgenossen. Formen und Analyseinstrumente der Zeitdiagnostik im Deutungskampf

Das Sezieren, Zerlegen und Neuverfugen von Zeiten unterbreitet Deutungsangebote, die zu Wahrnehmungen von Ignoranz, Vorwürfen vorsätzlicher Blindheit, unreflektiert-enthusiastischem Präsentismus von Neuem und bewusster Zerstörung von Bestehendem durch den Zeitdiagnostiker führen können. So stehen Akteur, Akt und Art der Diagnose in der Kritik und geraten in Deutungskämpfe. Der Beitrag untersucht, mit welchen kommunikativen Geltungsressourcen, neuen Begriffen und Kategorien Zeitdiagnosen im Paris des späten 18. Jahrhunderts bekämpft und Zeitgenossenschaft in Konkurrenz um Wandel und Geschichtsvergessenheit trat.

Theo Jung (Freiburg im Breisgau)
Augenblick und Durchblick: Zeitgeistdiagnosen und ihre Kritik um 1800

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert etablierte sich ein neuer Modus der Kulturreflexion, ausgerichtet auf die Analyse des Zeitgeists und dessen Wandel. Doch begleiteten diesen Diskurs von Anfang an stets auch satirische und kritische Kommentare über die ‚gespenstische‘ Gestalt seines Gegenstandes, die nebulöse epistemische Basis seiner Diagnosen und deren politischer Instrumentalisierung. Am Beispiel der deutschsprachigen Debatten erörtert der Beitrag die Kontroversen um einen besonderen Modus der Zeitgenossenschaft mit dem Anspruch, zeitgemäß und unzeitgemäß zugleich zu sein und die geistige Einheit der Epoche hinter der ungleichzeitigen Vielfalt der Phänomene identifizieren zu können.

Uwe Justus Wenzel (Zürich)
Auf der Höhe der Zeit und in ihren Niederungen. Einige Probleme philosophischer Zeitgenossenschaft

Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, schrieb Hegel 1820 in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie. Er hat damit eine Formel für philosophische Zeitgenossenschaft geprägt, die noch heute plausibel zu sein scheint. Was aber bedeutet sie des Näheren? Wie lässt sich eine Zeit auf den Begriff bringen? Mit welchem Anspruch treten Philosophen auf, die sich Hegels Formel, wie auch immer modifiziert, zu eigen machen? Wollen sie den Zeitgeist analysieren – oder auch verkörpern?

Helge Jordheim (Oslo)
Kommentar