Rainer Hering Gerald Maier Dietmar Schenk (Sektionsleitung)

Deuten und streiten, suchen und finden: Neue Möglichkeiten der Kooperation zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft beim Aufbau digitaler Infrastrukturen

Abstract

Das Deuten und Streiten setzt, wenn es vernünftig zugeht, das Suchen und Finden voraus. Archive und Geschichtsforschung haben gemeinsam, dass sie mit Deutungskämpfen der Vergangenheit konfrontiert sind und dass sich zeitgenössische Auseinandersetzungen um Geschichtsbilder auf ihre Arbeit stark auswirken. Dabei sind die Archive ein Ort, der für die Recherche unentbehrlich ist. Ein verständiger Umgang mit der Vergangenheit verlangt, dass der Konflikt der Interpretationen nicht als ein purer Machtkampf ausgetragen wird, sondern zu einer Debatte führt, in der das berühmte Vetorecht der Quellen beachtet wird. Archive und Geschichtswissenschaft tragen zu dieser Rationalität bei.
Durch den Aufbau digitaler Dateninfrastrukturen, wie sie heute auf der Agenda steht, ergeben sich neue Möglichkeiten – für das Suchen und Finden wie für das Deuten und Streiten. Innovative informationstechnische Lösungen sollten in Kooperation zwischen Archiven und Geschichtswissenschaft aktiv und problembewusst gestaltet werden. In der vorgeschlagenen Sektion werden einzelne Projekte auf diesem Gebiet exemplarisch vorgestellt, aber auch die Chancen und Schwierigkeiten, die sich auftun, grundsätzlich diskutiert.

Peter Haslinger (Marburg)
Die Herausforderung der digitalen Quellenkritik und Chancen für vernetzte Forschungsdateninfrastrukturen zwischen Geschichtswissenschaften und Archiven

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie sich im Überschneidungsbereich zwischen historisch arbeitenden Wissenschaften auf der einen und Archiven und historischen Sammlungen auf der anderen Seite digitale Angebote verknüpft und zu kollaborativen Angeboten weiterentwickelt werden können. Es soll auch um Strategien gehen, historische digitale Angebote im Rahmen größerer interdisziplinärer Zusammenhänge (wie etwa der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur) bestmöglich zu positionieren. An wenigen Beispielen wird erläutert, wie das Zusammenspiel zwischen Infrastruktureinrichtungen, Universitäten und kleineren Institutionen spartenübergreifend und nachhaltig ausgestaltet werden kann.

Daniel Fähle (Stuttgart) Harald Sack (Karlsruhe)
Perspektive „digitaler Werkzeugkasten“ für historische Forschung mit Archivgut

Archive stellen bereits ein breites inhaltliches Angebot an interdisziplinär relevanten Forschungsdaten in Form von digitalisierten und originär digitalen Quellen samt zugehöriger Erschließungsinformationen zur Verfügung. Besondere Bedeutung hat hierbei das Archivportal-D, das als zentrales Nachweissystem bzw. Data-Hub viele Millionen Datensätze aus fast 200 Archiveinrichtungen zugänglich macht. Doch gehen die Anforderungen an zeitgemäße (Forschungs-)Informationsinfrastrukturen weit über die bloße Zugänglichmachung hinaus: Benötigt werden Dienste und Werkzeuge, die eine Analyse, Anreicherung und Auswertung von „Archiv-Big-Data“ ermöglichen. Neben der Entwicklung von neuen Services müssen aber auch vorhandene Angebote weiterentwickelt werden, etwa mit Blick auf die Implementierung interoperabler Schnittstellen (z.B. IIIF) als Grundlage für innovative Nutzungsmöglichkeiten von Archivdaten. Voraussetzung für Einsatz und Erfolg der neuen Angebote und Dienste sind ausreichende Kompetenzen auf der Anwenderseite (Data Literacy). Daher ist es parallel zu den technologischen (Weiter-)Entwicklungen notwendig, diese seitens der Archive an die historische Fachcommunity auch in geeigneter Form zu vermitteln.
Der Vortrag zielt zunächst darauf, einen strukturierten Überblick über das Spektrum an bereits verfügbaren und geplanten Werkzeugen und Diensten im Archivkontext zu schaffen. Anhand von konkreten Praxisbeispielen soll ferner illustriert werden, wie ein „digitaler Werkzeugkasten“ künftig aussehen könnte.

Mirjam Sprau (Koblenz) Tobias Herrmann  (Koblenz) Clemens Rehm (Stuttgart)
Themencluster „Wiedergutmachung“ und Archivportal-D

Die Zahl der Entschädigungsberechtigten im Rahmen der bundesdeutschen „Wiedergutmachung“ für erlittenes NS-Unrecht wird in den nächsten Jahren weiter zurückgehen. Das hat das Bundesministerium der Finanzen veranlasst, bei diesem Themenkomplex künftig auch die Erinnerungskultur in den Fokus zu nehmen und dabei mit Archiven und der Forschung zu kooperieren. Das Vorhaben fügt sich ein in den größeren Kontext der aktuellen Debatten um Transitional Justice im Allgemeinen und die Erfolge und Schattenseiten des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in Deutschland nach 1945 im Besonderen. Es soll dabei ein zentraler Zugang zu den archivierten Quellen zum Thema Wiedergutmachung geschaffen und deren wissenschaftliche Auswertung gefördert werden.
Das Archivportal-D hat sich als spartenspezifischer Zugang innerhalb der Deutschen Digitalen Bibliothek und als zentraler Einstieg zu Informationen über Archive und Archivgut etabliert. Das Angebot wird laufend ausgebaut und soll noch genauer auf die Bedürfnisse der Benutzerinnen und Benutzer zugeschnitten werden.
Im Vortrag wird zunächst einen Überblick über „Wiedergutmachung“ als Gegenstand der historischen Forschung, über Dimensionen und Charakter der wesentlichen archivischen Quellen und über die Möglichkeiten und (rechtlichen) Grenzen des Zugangs zu diesen Quellen gegeben. In einem zweiten Schritt sollen die Ergebnisse und Erfahrungen aus dem DFG-Projekt zur Implementierung sachthematischer Zugänge im Archivportal-D am Beispiel der Weimarer Republik (Förderung 2018-2020) kritisch bilanziert werden, bevor abschließend die für das „Wiedergutmachungs-Projekt“ beabsichtigten Erweiterungen und neuen Angebote in den Blick genommen und zur Diskussion gestellt werden.

Thekla Kluttig (Leipzig)
Aufbau digitaler Infrastrukturen durch die Bürgerforschung: Perspektiven für Geschichtswissenschaft und Archive

Bürgerforschung ist in der Geschichtswissenschaft nichts Neues, davon zeugen regionale Geschichtsvereine schon seit rund zweihundert Jahren. Während zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsvereinen vielfältige Beziehungen bestehen, ist dies zwischen Geschichtswissenschaft und genealogischer (Laien-)Forschung kaum der Fall. Der Aufbau digitaler Infrastrukturen durch die organisierte Genealogie blieb daher weitgehend unbeachtet.
Archive haben seit einigen Jahren erkannt, welches Potential in einer Zusammenarbeit mit genealogischen Vereinen liegt. Und es eröffnen sich neue Möglichkeiten der Kooperation zu gegenseitigem Nutzen auch mit der Geschichtswissenschaft. Dies soll am Beispiel eines Projekts zu biographischen Daten der Leipziger Bevölkerung im 16.-19. Jahrhundert vorgestellt werden.