Arndt Brendecke Lisa Regazzoni (Sektionsleitung)

Das umstrittene Wir: Auf der Suche nach neuen Wegen zur historischen Erforschung von Kollektiven

Abstract

Die Geschichtswissenschaft steht seit einigen Jahren vor der gewaltigen Herausforderung, neue Wege zu finden, um über Kollektive zu schreiben. Die Gemachtheit historischer Identitäten als ‚erfundene Traditionen‘ ist vielfach herausgearbeitet worden. Die Frage bleibt allerdings bestehen, ob und wie man sich diesem „Tun“ methodisch entziehen kann. Mit einer Einführung und vier Vorträgen, deren theoretische Reflexionen sich auf historische Fallbeispiele stützt, soll den folgenden Fragen nachgegangen werden: Erstens, inwiefern die historisch-kritische Analyse der rhetorischen Strategien, mit denen kollektive Identitäten konstruiert werden, ein wirkendes Gegengift gegen identitäre Vergegenständlichungen darstellt. Zweitens, ob die Substitution des Begriffs „Identität“ mit der Vorstellung eines „Wir“ als Strategie ausreicht, um die identitäre Verengung zu vermeiden oder ob der Terminus „Zugehörigkeit“ so geschärft werden kann, dass er zu einer Kategorie historischer Analyse wird, die Identitäten nicht voraussetzt, sondern ihre historische, geografische, individuelle Situiertheit sichtbar macht. Drittens, inwiefern Identitäts- bzw. Zugehörigkeitsdiskurse in historiographischen Plots und Verfahren unvermeidlich sind, auch in solchen, die Pluralität und Heterogenität bewusst in den Vordergrund stellen. Daraus ergibt sich die vierte Frage, wie HistorikerInnen demzufolge über Kollektive im historischen Prozess forschen und schreiben können, ohne zugleich Angebote für Identitäten zu produzieren. Fünftens soll die nicht unerhebliche Frage gestellt werden, ob es sich die Geschichtswissenschaft überhaupt leisten kann, auf ein Identitäts- bzw. Zugehörigkeitsangebot zu verzichten, wenn sie gesellschaftliche Relevanz beanspruchen will.

Lisa Regazzoni (Bielefeld)
Einführung
Valentin Groebner (Luzern)
Seit wann kommt die eigene Identität aus dem Mittelalter?

Der Begriff Identität hat eine wechselhafte Karriere: Auf welchen Wegen ist das I-Wort zum beinahe universell einsetzbaren und maximal elastischen Selbstdarstellungsvokabel des 21. Jahrhunderts geworden? Wie lassen sich seine widersprüchlichen Querverbindungen zu Konzepten von Individualität und kollektiven Zugehörigkeiten beschreiben? Für welche unterschiedlichen historischen Selbstbegründungserzählungen wurde und wird dieser Zauberwort eingesetzt, von besorgten Bildungspolitikern des Sputnik-Schocks und Sozialpsychologen der 1960er Jahre über alternative Aktivisten der 1970er, Marketing-Fachleute der 1980er und akademische Sonderforschungsbereiche der 1990er bis zu den selbsternannten „Identitären“ unserer eigenen Gegenwart?

Levke Harders (Bielefeld)
Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse. Exklusionen und Inklusionen in der (Migrations-)Geschichte

Historiografie, Migrationsgeschichtsschreibung insbesondere, verhandelt stets auch Identitäten. Mit der Kategorie Belonging lässt sich über Individuen und Kollektive im historischen Prozess forschen und schreiben, ohne nationale oder ‚ethnische‘ Identitäten zu reifizieren, sondern transnationale und intersektionale Positionalitäten einzubeziehen. Wie wurde Zugehörigkeit hergestellt, wie funktionierte Non-Belonging und wie können wir beide Prozesse historisch analysieren, ohne zugleich ein Kollektiv zu konstruieren? Belonging ist ein methodischer und theoretischer Ansatz, um die Herstellung von (Nicht-)Zugehörigkeit entlang unterschiedlicher, historisch spezifischer Achsen zu untersuchen.

Philipp Ther (Wien)
Kollektive Zuschreibungen und individuelle Erfahrungen – zum Verhältnis von Makro- und Mikrozugängen in der Geschichtswissenschaft

Die Geschichte von Flucht und Flüchtlingen zeigt beispielhaft das Spannungsverhältnis zwischen kollektiven Zuschreibungen und individuellen Erfahrungen. Schon der Flüchtlingsbegriff hat eine Tendenz zur Vermassung, der die fremde Herkunft und einen niedrigen sozialen Status in den Vordergrund stellt, dagegen die jeweils individuelle Erfahrung der Flucht und der Lebenszeit danach in den Hintergrund drängt. Der kurze Vortrag plädiert daher für die Historiographie von Flüchtlingen und anderer umfassender Gruppen für eine Verknüpfung „großer Prozesse“ (Tilly) mit biographischen Fallstudien, die sich angelehnt an Georg Simmel vor allem auf das individuelle Handeln beziehen. Zu diesem Handeln gehört die Konstruktion alternativer Selbstbezeichnungen und historischer Selbstlegitimationen.