Sonja Levsen Jörg Requate (Sektionsleitung)

Warum Europa, welches Europa? Herausforderungen einer europäischen (Zeit-)geschichtsschreibung zwischen Globalisierung und Rückkehr der Nationalismen

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Abstract

Vor rund zehn bis fünfzehn Jahren zeichnete sich in der Geschichtswissenschaft ein breiter Konsens über das Ziel einer „Europäisierung“ der (Zeit-)Geschichte ab. Inzwischen hat sich die Lage deutlich verändert: Einerseits hat sich eine solche „Europäisierung“ nur sehr begrenzt durchgesetzt, zugleich hat das Ziel seinen Konsenscharakter verloren. Gegenüber der Globalgeschichte, gegenüber einem wachsenden Interesse an außereuropäischer Geschichte und der damit verbundenen Forderung, Europa zu provinzialisieren scheint das Projekt einer europäischen Geschichtsschreibung in die Defensive geraten. Im Zentrum des Panels steht vor diesem Hintergrund zweierlei: erstens eine Art bilanzierender Rückblick, wie sich das Forschungsfeld der europäischen Geschichte – inner- und außerhalb Deutschlands – in der letzten Dekade entwickelt hat. Ist so etwas wie eine europäische Geschichte entstanden; wenn ja, in welchem Sinne? Welchen grundsätzlichen Ertrag haben vergleichende und verflechtungsgeschichtliche Arbeiten gebracht, wie verändert(e) sich die Historiographie in jenen Forschungsfeldern, in denen sich eine lebendige grenzüberschreitende Forschungsdebatte entwickelt hat? Zweitens und eng damit verbunden fragen die ReferentInnen nach Zukunftsperspektiven: Was kann und soll eine europäische Geschichte sein bzw. leisten? In welchem Verhältnis steht eine europäische Geschichte zur Globalgeschichte einerseits und nationalen Historiographien andererseits? Die Herausforderung des Globalen soll dabei nicht zu Abwehrgefechten verleiten, sondern als willkommener Impuls dienen, die spezifischen Erkenntnispotenziale europäischer Geschichte zu eruieren und zur Debatte stellen.

Sonja Levsen (Freiburg) Jörg Requate (Kassel)
Einführung. Warum Europa, welches Europa? Plädoyer für eine Debatte über die europäische Geschichte als Forschungsfeld
Martin Conway (Oxford)
Europeanization after Europe?
The project of Europeanizing the writing of European history was one of the principal themes of the late twentieth century, driven by a wish to move beyond nationally-framed histories. But that project now seems defined by a particular context of European integration. How then do we both historicise that project, and define an approach to Europeanization which can be applied to periods and themes unrelated to a particular modern narrative of European integration.
Martin Schulze Wessel (München)
Bruchlinien der Europäisierung? Osteuropa in der Geschichte des 20. Jahrhunderts
Martin Schulze Wessel analysiert das widerspruchsvolle Nebeneinander unterschiedlicher Deutungen in der Geschichtsschreibung des östlichen Europas: Die Tendenz, Osteuropa in seinen Verflechtungen mit Westeuropa zu begreifen, konkurriert mit einer Sichtweise, welche die Sowjetunion (zum Teil einschließlich der Blockstaaten) als eine eigene Zivilisation begreift; eine Essenzialisierung osteuropäischer „Gewalträume“ mit Deutungen ‚europäischer‘ Multikulturalität. Der Beitrag führt diese widersprüchlichen Entwicklungen zusammen und diskutiert ihre Auswirkungen für eine Zeitgeschichtsschreibung Europas.
Claudia Gatzka (Freiburg)
Partizipation und Demokratie nach 1945 – eine westeuropäische Geschichte?
Claudia Gatzka richtet ihren Fokus auf Westeuropa und diskutiert Erträge und Potenzial einer transnationalen Demokratiegeschichte am Beispiel politischer Partizipation und ihrer zeitgeschichtlichen Narrativierungen. Sie plädiert für eine Stärkung der vergleichenden Perspektive sowie eine Pluralisierung des Blicks auf demokratische Deutungskulturen und Partizipationsverständnisse im Westeuropa des Kalten Kriegs – und fragt aus dieser Perspektive nach dem spezifischen Erkenntnispotenzial einer Europäisierung der Historiographie.
Kiran K. Patel (Maastricht)
Essentialisiert, provinzialisiert, eskamotiert? Europa und die Globalgeschichte
Der Vortag geht dem Verhältnis zwischen europäischer und globaler Geschichte nach. Er skizziert zunächst kurz, wie sich das Beziehungsverhältnis zwischen den beiden Forschungsfeldern in den letzten Jahren entwickelt hat und vertritt dann die These, dass die Globalgeschichte als Perspektive viel mehr mit einer methodisch anspruchsvollen Europa-Geschichte gemeinsam hat, als oft behauptet wird. Künftig geht es ebenso um eine stärker globalgeschichtlich informierte Europageschichte wie um eine Globalgeschichte, die hilft, Europa und seinen Ort in der Welt besser zu verstehen.
Anne Kwaschik (Konstanz)
Europa – eine Kultur? Französische Perspektiven auf eine europäische Geschichtsschreibung
Stellvertretend für die Vielfalt der historischen Forschungslandschaften in Europa analysiert Anne Kwaschik die französische Historiographie mit Blick auf die Frage, inwieweit transnationale wissenschaftliche Vernetzung und Kommunikation sowie vergleichende und verflechtungsgeschichtliche Ansätze sich hier entwickelt haben. Wie stehen nationale, europäische und andere Perspektiven in der französischen Historiographie zu- und nebeneinander; welche Aufmerksamkeit und welche Fragen generieren die jeweiligen Räume und welche Europakonzepte strukturieren die Forschungslandschaft?