Jürgen Finger Benjamin Möckel (Sektionsleitung)

Skandalon Markt. Gesellschaftliche Debatten über Reichweite, Funktionalität und Legitimität

Download iCal

Abstract

Märkte stellen eine leistungsfähige Institution dar, um Bedürfnisse in geregelter Weise und ohne offene Konflikte auszuhandeln. Diese Fähigkeit wird kaum mehr grundsätzlich hinterfragt, dennoch wurden und werden „der Markt“ als Abstraktum und Prozesse der Vermarktlichung regelmäßig zum Skandalon. Märkte scheinen „gespaltene Gesellschaften“ zu produzieren: in sozialer und ökonomischer Hinsicht, indem Markthandeln kontinuierlich Gewinner und Verlierer produziert; und in intellektueller Hinsicht, indem die Idee des Markts selbst immer wieder Kontroversen generiert. Oftmals ist es gerade das Funktionalitäts- und Effizienzversprechen des Markts, das sowohl seine Attraktivität ausmachte als auch das größte Einfallstor für Kritik darstellte, etwa weil Effizienzkriterien einseitig bestimmte Ergebnisse oder soziale Gruppen favorisierten und andere relevante Faktoren ausblendeten. In Debatten über die Legitimität, Reichweite und Regulierung von Märkten spiegeln sich ökonomische Kontroversen ebenso wie konkurrierende Vorstellungen über politische Interventionsansprüche, soziale Beziehungen und individuelle Lebensqualität. Wie „ökonomisch“ bzw. wie „moralisch“ waren die dabei verwendeten Argumente? Entstanden produktive Aushandlungsprozesse, die über ein moralisierendes Selbstgespräch von „Marktapologeten“ und „Marktkritikern“ hinausgingen? Inwiefern wirkten Debatten und die so provozierte Regulierung als Impuls für die Entstehung neuer oder die Weiterentwicklung bestehender Märkte? Wir gehen davon aus, dass Märkte unter vier Gesichtspunkten als Skandalon wahrgenommen werden können: 1. in Fragen des Marktzugangs und der (Il-)Legitimität von Akteuren; 2. in Debatten um (il-)legitime Waren und deren Handel auf freien Märkten; 3. in Diskussionen um die Vermarktlichung oder Kommodifizierung von Dingen und sozialen Beziehungen; sowie 4. in Debatten um Marktversagen und „blinde“ Flecken von Märkten. Jeweils eine dieser Dimensionen steht im Zentrum der vier Beiträge der Sektion.

Benjamin Möckel (Oxford/Köln)
Moderation
Jürgen Finger (Paris)
Legitimität durch Abgrenzung? Die Akteure des grauen Finanzmarkts von Paris um 1900
Die Legitimität des Kulissenhandels an der Pariser Börse stand vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder zur Debatte, wobei die Legalität dieses Marktsegments ebenso wie die Legitimität einzelner Akteursgruppen in Frage standen. Innerhalb dieses Marktes lassen sich die soziale Schließung gegenüber vermeintlich ungeeigneten Anlegern (Frauen, Unterschichten) sowie die Herstellung einer sozialen Hierarchie der Marktakteure beobachten. Ein besonderes Skandalon war der hohe Anteil ausländischer, naturalisierter oder jüdischer Akteure. Die Frage nach der Legitimität der Akteure war immer auch ein Ansatzpunkt für eine Debatte um die Moral des Finanzmarkts an sich.
Sina Fabian (Berlin)
Das streitbare Gut: Debatten über die Herstellung und den Handel von Alkohol in der frühen Weimarer Republik
Die Herstellung und der Handel von Alkohol waren insbesondere in den frühen Jahren der Weimarer Republik stark umstritten. Die teils erbittert geführten Debatten kreisten insbesondere um die Frage der Legitimität des Alkoholhandels in einer Zeit, in der Rohstoffreserven und Kaufkraft der „Normalbevölkerung“ knapp waren. Zu einem besonderen Skandalon wurden sogenannte „Inflationsgewinner“ und „Fremde“, die sich vermeintlich als Einzige Alkohol überhaupt leisten konnten. Während die Alkoholgegner stark moralisch argumentierten, bedienten sich Alkoholproduzenten vor allem volkswirtschaftlicher Argumente und betonten die zentrale Bedeutung alkoholischer Getränke in der deutschen Wirtschaft.
Robert Bernsee (Göttingen)
Neue Märkte durch neues Recht? Expertendebatten über Urheberrechte im deutsch-amerikanischen Vergleich
Urheberrecht soll Hersteller immaterieller Güter schützen und zur Produktion derselben anregen. Aus ökonomischer Sicht gilt es als Institution, die Marktversagen „heilt“ und Prozesse der Vermarktlichung unterstützt. Der Vortrag untersucht in einem diachronen Vergleich Prozesse der Vermarktlichung und die Aushandlung ihrer Bedingungen am Beispiel von Gesetzesänderungen, die jeweils etwa zeitgleich in den 1900er und 1960/1970er Jahren in den USA und (West-)Deutschland erfolgten. Unklar ist bisher, welche Bedeutung dem Markt-Argument in den zeitgenössischen Urheberrechtsdebatten zukam, zumal „Marktgängigkeit“ oft nicht als legitimes Kriterium für die betroffenen Güter galt.
Hartmut Berghoff (Göttingen)
Von der Exportförderung zur Straftat. Die Debatte um die Kriminalisierung der Auslandskorruption in der Bundesrepublik, 1970–2002
Bis 1998 beziehungsweise 2002 war Bestechung durch deutsche Unternehmen im Ausland als „nützliche Ausgaben“ steuerlich absetzbar. In den 1990er Jahr vollzog sich jedoch ein Wertewandel, der die sozialschädlichen Folgen von Korruption kritisierte. Die Initiativen zur weltweiten Kriminalisierung der Auslandskorruption trafen zunächst auf erbitterten Widerstand, denn diese galt vielfach als unverzichtbar, um international konkurrenzfähig zu sein. Die Debatte um die Bewertung der Auslandskorruption handelt vom Wandel der Normen des Marktes, von der Kritik an und der Verteidigung tief verwurzelter Verhaltensweisen.