Sylvia Kesper-Biermann Anne Kwaschik (Sektionsleitung)

Plotting Torture. Repräsentation und Remediation gesellschaftlicher Spaltungen, 19.-21. Jahrhundert

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Abstract

Die Überwindung der Folter gehört in Folge der Diskussionen der Aufklärung zu den integralen und normativen Bestandteilen des „moralisch-praktischen Selbstverständnisses der Moderne im ganzen“ (Habermas). Gleichwohl war die Tortur bereits vor ihrer Enttabuisierung im frühen 21. Jahrhundert nicht nur für Diktaturen, sondern auch für Demokratien ein Dispositiv von Macht, wie die Analyse von Prozessen der De/Kolonisierung und der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus zeigt. Dieses Paradox schlägt sich bis heute historiographisch im Topos von der „Wiederkehr der Folter“ nieder oder in der Abgrenzung eines Antifolterkonsenses für das 19. Jahrhundert von Revitalisierungsbewegungen für das 20. und Relegitimierungsbemühungen für das 21. Jahrhundert (Kesper-Biermann; Kwaschik). Eine geschichtswissenschaftlich fundierte und differenzierte Überprüfung dieser Erzählung für die Zeit von 1800 bis zur Gegenwart steht jedoch noch aus. Diesen Befund aufnehmend versteht die Sektion die Auseinandersetzung mit der Folter oder dem Foltervorwurf als eine „symbolisch bedeutsame Handlung“ (Geertz) zur Sichtbarmachung und Überwindung von gesellschaftlichen Spaltungen und Brüchen. Die Sektion geht davon aus, dass aufgrund der Bedeutung des Folterverbots für das Selbstverständnis und die Legitimität politischer Ordnungen in der Moderne diese Auseinandersetzungen Geschichten der Selbstverständigung moderner Gesellschaften in Konfliktsituationen erzählen. Im Zentrum der Diskussion steht die Phase der Neukonfiguration „nach dem Bruch“ und die sie kennzeichnenden „Prozesse des Erzählens und Wiedererzählens, Erinnerns und Wiedererinnerns“ zur Neuordnung einer außer Kontrolle geratenen normativen Ordnung (Schuff/Scheel). Vier Vorträge von jeweils 20 Minuten problematisieren diese Konstellationen an Fallbeispielen aus Westeuropa, den USA und Lateinamerika/Afrika.

Anne Kwaschik (Konstanz)
Plotting Torture. Zur Einführung
Sylvia Kesper-Biermann (Hamburg)
Nach der Folter. Inszenierungen ‚mittelalterlicher‘ Tortur in europäischen Museen und Ausstellungen (1830˗1914)
In Europa wurde die Folter zwischen ca. 1740 und 1830 als legaler Bestandteil des Strafverfahrens abgeschafft. Der Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, wie europäische Gesellschaften des 19. Jahrhunderts die frühneuzeitliche Tortur als Teil eines überwundenen ‚dunklen Mittelalters‘ in ihr Geschichtsbild und Selbstverständnis integrierten, sie zur gesellschaftlichen Konsensstiftung sowie zur Abgrenzung von anderen Weltregionen nutzten. Das geschah nicht etwa durch Vergessen oder Verschweigen, sondern von den 1830er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg durch das Sichtbarmachen und Inszenieren der Folter in Museen und Ausstellungen, auf Jahrmärkten und im Panoptikum.
Silvan Niedermeier (Erfurt)
Folter und Zivilisation. Fotografien der water cure aus dem philippinisch-amerikanischen Krieg (1899-1902)
Der Vortrag rückt mehrere Fotografien der Wasserfolter im philippinisch-amerikanischen Krieg (1899-1902) in den Fokus. Er untersucht zum einen, welche Rahmungen der Folter von Philippinern durch US-Soldaten in diesen zumeist massenmedial verbreiteten Fotografien zum Ausdruck kamen. Zum anderen beleuchtet er die ambivalenten Reaktionen der US-amerikanischen Gesellschaft auf die Ausübung der Folter. Während die Gegner des Kriegs sie als Bruch mit dem moralischen Selbstverständnis der USA bewerteten, zeugt ihre Relativierung durch Politiker und Offiziere sowie ihre Glorifizierung in soldatischen Nachlässen von der Verbreitung und Virulenz rassistischer und autoritärer Ordnungsvorstellungen, die die Anwendung der Folter in den USA bis weit in das 20. Jahrhundert hinein legitimieren sollten.
Stephan Scheuzger (Bern)
Tatsachenfeststellung und Repräsentation von Folter in der Arbeit von Wahrheitskommissionen
Das torturer problem (S. Huntington) ist Inbegriff eines Dilemmas von Regierungen in Transitionen: Das politisch-moralische Gebot der Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen steht der Gefahr gegenüber, dass Reaktionen von Repräsentanten der alten Ordnung die Demokratisierung destabilisieren. Der Beitrag geht der Frage nach, welche spezifischen Herausforderungen sich aus dem Auftrag zur Aufarbeitung von Folterverbrechen für die Tätigkeit von Wahrheitskommissionen – einem zentralen Instrument des staatlichen Umgangs mit historischem Unrecht im Angesicht dieses Dilemmas – hinsichtlich der Aufklärung und der Repräsentation dieser Art von Menschenrechtsverletzungen ergeben.
Achim Saupe (Potsdam)
Das öffentliche Geständnis und das ‚authentische‘ Selbst in der Mediengesellschaft des 20./21. Jahrhunderts
Der Vortrag widmet sich der Geständniskultur, dem Geständniszwang und der Geständniserwirkung „nach der Folter“ in der jüngeren Zeitgeschichte. Der Vortrag stellt die Frage, inwieweit sich die traditionelle Figur des sich bekennenden Subjekts in der Mediengesellschaft fortschreibt und weiterentwickelt und das „authentische“ Selbst verstärkt im „Beichtstuhl der Öffentlichkeit“ (Hannelore Bublitz) produziert wird. Anhand von prominenten Beispielen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wird gezeigt, dass das Geständnis in der Mediengesellschaft nicht allein auf das Eingeständnis von Schuld zielt, sondern eine reintegierende Erzählung anbietet, die eine Rehabilitierung vorweg nehmen möchte.
Beatrice de Graaf (Utrecht)
Fazit und Kommentar