Malte Thießen Thomas Köhler (Sektionsleitung)

„Man kennt sich“ – Verflechtungen und Verwerfungen zwischen Niederländern und Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert

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Abstract

Die deutsch-niederländischen Beziehungen changierten im 19. und 20. Jahrhundert zwischen regionalen Verbindungen einerseits und nationalen Verwerfungen andererseits. Die Folgen der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg haben Narben in beiden Gesellschaften hinterlassen. Vor 1933 und nach 1945 bestanden hingegen gewachsene gesellschaftliche und wirtschaftliche Verknüpfungen, für die exemplarisch die offene „grüne“ Grenze zwischen Westfalen und den niederländischen Provinzen steht. Die Sektion spürt der Geschichte dieser Beziehungen in transregionaler Perspektive nach und fragt nach den Voraussetzungen, Formen und Folgen sozialer, ökonomischer und nationaler Spaltungen und Gemeinsamkeiten. Kurz gesagt nutzen die Referenten „gespaltene Gesellschaften“ als analytische Sonde, um verflechtungsgeschichtliche Ansätze zu erweitern und Konstrukten von Selbst- und Fremdbildern nachzuspüren. Verwerfungen und Verflechtungen werden in drei Perspektiven nachgespürt. Erstens geht es um die Erkundung von Identitäten und Teilidentitäten. „Gespaltene Gesellschaften“ sind wie funktionierende Beziehungen nicht nur auf nationale Kontexte zurückzuführen. Mindestens ebenso prägend sind regionale und lokale Identitätsentwürfe. Spaltungen erscheinen in mikrohistorischer Perspektive so mitunter gravierender als in makrohistorischer Perspektive nationale Gegensätze. Andererseits lassen sich erstaunlich gute Beziehungen zwischen Niederländern und Westfalen selbst in Krisen- und Kriegszeiten feststellen. Fokussiert wird zweitens das Wechselspiel von Verwerfungen und Verflechtungen. In Gronau sorgten die Beziehungen zwischen niederländischen Unternehmern und westfälischen Stadteliten für Konflikte mit niederländischen und deutschen Arbeitern. Die ambivalenten Beziehungen der deutschen und niederländischen Polizei wirkten sich tabuisierend über 1945 aus. Im Tourismus wurden durch die NS-Zeit hervorgerufenen Verwerfungen aus Marketinggründen ausgeblendet. Nicht zuletzt machen die Referenten auf spezifische Räume der Spaltung und Begegnung aufmerksam. Im öffentlichen Raum, aber auch in konstruierten Räumen wie „Bandengebieten“ und „Erholungsräumen“ schlagen sich Verwerfungen und Verflechtungen wie unter einem Brennglas nieder.

Malte Thießen (Münster/Oldenburg)
Begrüßung
Werner Freitag (Institut für vergl. Städtegeschichte/Universität Münster)
Möglichkeiten und Grenzen kleinstädtischer Soziabilität: Niederländische Unternehmer und Arbeiter auf der westmünsterländischen Seite der Baumwollstraße um 1900
Anhand der von der Textilindustrie geprägten Kleinstadt Gronau untersucht Werner Freitag die Verflechtungen zwischen Niederländern und Westfalen um 1900. In dieser Zeit waren von den 5.700 in Gronauer Fabriken beschäftigten Männern und Frauen etwa 3.700 Niederländer. Viele von ihnen pendelten über die „grüne“ Grenze. Der Vortrag geht auf die Berührungspunkte dieser Pendler, aber auch die in Gronau wohnenden Niederländer mit der Stadtgesellschaft ein. Zudem wird die Rolle der niederländischen Unternehmer analysiert, welche sich in Gronau ansiedelten.
Thomas Köhler (Münster)
Von der „großgermanischen“ Option zum „Bandengebiet“: Die deutsche Ordnungspolizei in den okkupierten Niederlanden 1940-1944
Thomas Köhler zeigt eine Bruchstelle während der Besetzung der Niederlande im 2. Weltkrieg auf, bei der die deutsche „grüne“ Polizei eine Schlüsselrolle spielte. Mit den Mitteln der „freundlichen Besatzung“ sollten die Niederlande in einen „großgermanischen“ Raum integriert werden. Als 1943 Kirchen und Königshaus verstärkt Gewissensaufrufe starteten, wuchs die Zahl der „Onderduiker“, unter ihnen niederländische Polizisten. Die Besatzer reagierten mit brutaler Härte. War also das abweichende Verhalten von Teilen der niederländischen Polizei ein Momentum eines fundamentalen Wandlungsprozesses?
Guus Meershoek (Twente)
The impact of the remembrance of the occupation on the readiness of the Dutch police to cooperate with the German police after the War
Guus Mershoek fokussiert sich auf die Nachkriegs-Einstellungen niederländischer Polizeichefs und die Auswirkungen ihrer „deutschen“ Prägung während der Besatzungszeit. Innerpolizeiliche wie gesellschaftliche Spaltungen treten zu Tage. Insgesamt war die Dienstausübung unter deutscher Besatzung bis in die 1980er Jahre ein Tabu-Thema. Wie verändern heute vor allem autobiografische Zeugnisse die Forschung und das geschichtskulturelle Bild der Niederlande auf die Besatzungszeit und die Rolle der niederländischen Polizei?
Matthias Frese (Münster)
Umkämpfte Besucher. Niederländische Touristen in Westfalen seit den 1920er Jahren
Mit der Entwicklung des Tourismus aus den Niederlanden in westfälische Feriengebiete seit den 1920er Jahren befasst sich Matthias Frese. Er untersucht die Repräsentation der deutschen Anbieter in den Niederlanden und das Bild des niederländischen Tourismus in den deutschen Zielgebieten. Ungeachtet der politischen Konflikte wurden die ländlichen Feriengebiete und Städte Westfalens bis 1939 als Erholungs- und Schauraum vorgestellt. Nach 1945 knüpften die regionalen Reiseorganisationen an die Konzepte seit der Weimarer Republik an. Okkupationsbedingte Spannungsfelder wurden versucht auszublenden.
Friso Wielenga (Münster)
Diskussionsimpuls