Volker Barth Michael Homberg (Sektionsleitung)

Informationskämpfe. Globale Zirkulation und politische Bedeutung von Falschmeldungen und Fakes, 1880 bis 1930

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Abstract

Die Rede vom „postfaktischen Zeitalter“ erhitzt die Gemüter. Den Kassandrarufen der Kritiker zufolge wird gefühltes Wissen in absehbarer Zukunft alles Faktenwissen verdrängen. Die Stich­wörter der fake news und der post-truth-politics prägten dabei in jüngster Vergangenheit die Kontroverse um die Glaubwürdigkeit und Faktentreue der Medien. Die Diskussion um Falschmeldungen und Nachrichten-Fakes lässt sich jedoch bis in die Formationsphase der modernen Massenmedien zurückverfolgen. Die Dekaden der „massenmedialen Sattelzeit“ (Knoch/Morat) zeichneten sich in besonderer Weise durch eine zunehmende Professionalisierung des Journalismus und neue Formen der medialen Selbstbeobachtung aus. Im Zuge dieser Entwicklung konsolidierten sich formelle Qualitätsmerkmale der Prägnanzbildung und Strukturierung von Nachrichten, Standards empirisch-fak­tischer Beglaubigung und ethische Richtlinien der Produktion verlässlicher Meldungen. Falschmeldungen und Fakes stellten diese Regelsysteme nachhaltig in Frage und untergruben die Glaubwürdigkeit von Nachrichten. Dabei fungierten sie erstens als Korrektive des Medienbetriebs; sie waren zweitens Ausdruck einer neuartigen Aufmerksamkeitsökonomie, die mit dem sich intensivierenden kommerziellen Wettbewerb einherging, und entfalteten drittens im Spannungsfeld zwischen globaler Verbreitung und nationaler Aneignung eine eminent politische Wirkung. Denn Journalisten avancierten nicht nur zu investigativen Berichterstattern, sondern waren auch „politische Akteure“ (Bösch/Geppert), die als Sprachrohr der „offiziösen“ Presse oder gar „Spione“ ausländischer Regierungen erscheinen konnten. Nicht selten boten soziale Spannungen, nationale Konkurrenzen oder religiös grundierte Auseinandersetzungen einen Nährboden für Falschmeldungen, die im Zuge der Globalisierung zudem rasch internationale Verbreitung erfuhren. Dabei verweisen diese Meldungen zuvorderst auf die „wirklichkeitsformende Kraft“ der Nachrichten – und so auf das intrikate Spannungsverhältnis von „historischen Fakten und Fiktionen“. Die Sektion fragt daher nach der politischen Bedeutung moderner Informationsstandards in einer globalisierten Medienwelt. In der Verschränkung medien-, kultur- und politikhistorischer Perspektiven sollen ausgewählte Prozesse gesellschaftlicher Spaltung und deren Wahrnehmung in den Blick genommen und damit ein Beitrag zur dringend angemahnten Historisierung aktueller Debatten geleistet werden.

Volker Barth (Köln) Michael Homberg (Stanford/Berkeley)
Falschmeldungen und Fakes. Die Politik der (Des-)Information und die Selbstbeobachtung der Medien in der langen Jahrhundertwende
Am Beispiel eines spezifischen Genres der Falschmeldung – des Fakes – werden in diesem programmatischen Beitrag die medientechnischen Voraussetzungen, sozioökonomischen Rahmen­bedingungen und arbeitspragmatischen Produktionsprozesse falscher Nachrichten sowie deren Bedeutung für die Formierung des modernen Nachrichtenwesens und die Etablierung transnationaler Informationsstandards untersucht. Anhand verschiedener Medien – von der Massenpresse über den Frühen Film bis hin zum Radio – werden Fakes als konstitutive Bestandteile des moder­nen Mediensystems herausgearbeitet, welche die Produktionsbedingungen und Überprüfungskriterien glaubwürdiger Nachrichten problematisierten und, indem sie das Verhältnis von Fakten und Fiktionen ausloteten, die Spielräume des Journalismus der langen Jahrhundertwende absteckten.
Ulrich Brandenburg (Zürich)
Der Islam als japanische Staatsreligion? Der Tokioter Religionskongress und die Zirkulation falscher Nachrichten zwischen Europa und dem Orient
Der Beitrag verfolgt die globale Zirkulation und Rezeption einer spektakulären Falschmeldung des Jahres 1906, dass Japan den Islam als Staatsreligion annehmen könnte. Die Falschmeldung verbreitete sich in kurzer Zeit über den Nahen Osten und Europa bis nach Japan selbst, wurde lokal sehr unterschiedlich kommentiert und gab Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen die Beglaubigungsstrategien der Falschmeldung, die Handlungsvorstellungen, die an sie geknüpft wurden, sowie die durch Zeitgenossen vorgenommene Einordnung in größere Weltvorstellungen.
Yannik Mück (Würzburg)
Von falschen Kaisersöhnen und fiktiven Spionen. Fakes und Falschnachrichten als Belastungsprobe für die deutsch-amerikanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg
Der Beitrag analysiert Falschnachrichten und verleumderische Gerüchte in der amerikanischen Medienöffentlichkeit bezüglich des Deutschen Kaiserreichs, die während des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 einen negativen Höhepunkt erreichten. Die für diese Kampagne verantwortlichen politischen Rahmenbedingungen und die zugrundliegenden Faktoren im internationalen Nachrichtensystem und im amerikanischen Mediensystem werden herausgearbeitet und nach der Rolle entscheidender Akteure an den Schnittstellen von Politik und Journalistik gefragt: Wer hatte Interesse daran, das Verhältnis Deutschlands und der USA 1898 als kurz vor einem Krieg stehend zu zeichnen?
Dagmar Heißler (Wien)
Napoleons Totenmaske. Die globale Verbreitung einer Falschmeldung (1924/1925)
Im August 1924 berichtete die Presse über einen sensationellen Fund: Der Graf von Bassano, Nachkomme des Staatssekretärs von Napoleon I., war in seinem Brünner Familienarchiv auf wertvolle Dokumente des Korsen gestoßen. Es folgten Anfragen des französischen Konsuls, die tschechoslowakische Regierung meldete Besitzansprüche an. Als bekannt wurde, dass Bassano das Archiv nur erfunden hatte, fuhren die Blätter die geballte Macht des Boulevards gegen ihn auf. Gleichzeitig standen sie unter Rechtfertigungsdruck bezüglich ihrer Arbeitsmethoden; erst im Zuge dessen setzte die eigentliche journalistische Recherche ein. Der Vortrag setzt sich mit Entstehung und Wirkung dieser Falschmeldung auseinander.
Dominik Geppert (Bonn)
Abschlusskommentar