Caroline Mezger Gaëlle Fisher (Sektionsleitung)

Gewaltdynamik und gespaltene Gesellschaften: Holocaust, Besatzungsherrschaft und die Neukonfiguration sozialer Beziehungen (1939-1945)

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Abstract

Kaum eine historische Epoche war so geprägt von gewaltsamer gesellschaftlicher Spaltung wie der Zweite Weltkrieg. Quer durch Europa funktionalisierten die Ideologie und Praxis der deutschen Besatzungsmacht und ihrer Verbündeten vorhandene gesellschaftliche Konflikte. Jedoch etablierten sie zugleich neue gesellschaftliche Ordnungen, die in Gewalt, Massenmord und Holocaust mündeten. Diese Sektion problematisiert die Neukonfiguration sozialer und ethnischer Unterschiede in Besatzungsgesellschaften während des Zweiten Weltkrieges. Als erste untersucht Tatjana Tönsmeyer (Bergische Universität Wuppertal) zunächst zentrale Narrative der europäischen Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg, die zumeist stark nationalhistorisch geprägt sind. In einem zweiten Schritt zeigt dieses Paper aber, dass sich die Sphären von „deutschen Besatzern“ und „einheimischen Besetzten“ nicht scharf trennen ließen, sondern dass beide Seiten in vielfältiger Weise auf Interaktion angewiesen waren. Dann widmet sich Alexander Korb (University of Leicester) den Schnittmengen und Konfliktpotentialen in den Vorstellungen eines politischen und demographischen Ordnungssystems für Südosteuropa, wie sie vom nationalsozialistischen Deutschland und seinen Verbündeten entwickelt wurden. Zwar waren auf deutscher Seite eine Vielzahl verschiedener Fraktionen an den Debatten bzw. an den Besatzungsregimen vor Ort beteiligt. Insgesamt dominierte jedoch das von völkischen Wissenschaftlern propagierte und von Hitler favorisierte System sogenannter Einvolkstaaten. Schließlich untersucht Melanie Hembera (IdGL Tübingen) am Fallbeispiel der galizischen Stadt Tarnów die sozialen Beziehungen der lokalen Bevölkerung, die nach dem deutschen Einmarsch im September 1939 vielfältigen Transformationsprozessen ausgesetzt waren. Ausgehend hiervon wird zudem aufgezeigt, dass die von Raul Hilberg eingeführte Begriffstriade „Täter-Opfer-Zuschauer“ nicht angemessen erscheint, um die vielfältigen Verhaltensweisen der örtlichen Bevölkerung unter NS-Gewaltherrschaft adäquat einzuordnen.

Tatjana Tönsmeyer (Wuppertal)
Fremdherrschaft – Besatzung – Besatzungsgesellschaften. Konzeptionelle Überlegungen zu einer Neukonfiguration sozialer Beziehungen
Besatzung war in den Jahren des Zweiten Weltkriegs eine europäische Erfahrung, von der auf dem Höhepunkt der deutschen Machtausdehnung mehr als 200 Millionen Menschen betroffen waren. Ausgehend von Überlegungen zu Besatzung als Form der kriegsinduzierten Fremdherrschaft zeigt der Vortrag, wie Besatzung auf vielfältige Weise in die Normalitätsverhältnisse von Menschen eingriff und verdeutlicht, dass sich die Sphären von „Besatzern“ und „Besetzten“ nicht immer scharf trennen ließen. Besatzungsgesellschaften sind somit durch Prozesse von Neukonfigurationen sozialer Beziehungen gekennzeichnet, wie sich dies besonders im Hinblick für das Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerungsteilen zeigte.
Alexander Korb (Leicester)
Deutsche und südosteuropäische Vorstellungen einer ‚Neuen Ordnung’
In seinem Vortrag mit dem Titel „Deutsche und südosteuropäische Vorstellungen einer ‚Neuen Ordnung’“ widmet sich Alexander Korb (University of Leicester) den Schnittmengen und Konfliktpotentialen in den Vorstellungen eines politischen und demographischen Ordnungssystems für Südosteuropa, wie sie vom nationalsozialistischen Deutschland und seinen Verbündeten entwickelt wurden. Zwar waren auf deutscher Seite eine Vielzahl verschiedener Fraktionen an den Debatten bzw. an den Besatzungsregimen vor Ort beteiligt. Insgesamt dominierte jedoch das von völkischen Wissenschaftlern propagierte und von Hitler favorisierte System sogenannter Einvolkstaaten.
Melanie Hembera (Tübingen)
Transformation des Sozialen. NS-Okkupation und lokale Bevölkerung in Tarnów
Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges war Tarnów eines der bedeutendsten Zentren des Judentums in Polen mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von fast 50 Prozent. Obgleich rege Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden bestanden, waren die sozialen Beziehungen nicht immer unproblematisch gewesen. Vor allem in den 1930er Jahren häuften sich antisemitische Feindseligkeiten und Vorfälle in der galizischen Stadt. Die Spaltung der örtlichen Bevölkerung wurde durch den deutschen Einmarsch im September 1939 weiter vorangetrieben und in zahlreichen NS-Verordnungen zementiert. Binnen kürzester Zeit wurde eine „neue Ordnung“ etabliert, die die rassistisch definierte Hierarchisierung der Bevölkerung beinhaltete, an deren unterster Stufe die Juden rangierten. Diese Klassifizierung hatte nicht nur Auswirkungen auf das Alltagsleben des Einzelnen, sondern ging auch mit einem tiefgreifenden Wandel des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses einher. Seit Besetzung der Stadt waren die Lebensbedingungen der Menschen in hohem Maße von den Deutschen determiniert, die die Rahmenbedingungen festlegten, unter denen die Besetzten fortan zu leben hatten. Im Laufe der Besatzungszeit und der Radikalisierung der NS-Entrechtungs- und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber der jüdischen Bevölkerung unterlagen auch die Verhaltensweisen und damit einhergehend die Beziehungen zwischen den lokalen Bevölkerungsgruppen einem fortwährenden Wandel. Mit Beginn der Realisierung des systematischen Massenmordes an den Juden erfolgten schließlich die drastischsten Modifizierungen der sozialen Beziehungen. Der Vortrag widmet sich unter Berücksichtigung von Lebensbedingungen, Verhalten, Reaktionen sowie Handlungsspielräumen den Transformationsprozessen der sozialen Beziehungen der okkupierten Bevölkerung Tarnóws unter nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft. Ausgehend hiervon wird zudem aufgezeigt, dass die von Raul Hilberg eingeführte Begriffstriade „Täter-Opfer-Zuschauer“ nicht angemessen erscheint, um die vielfältigen Handlungsweisen der Besetzten adäquat einzuordnen.
Dieter Pohl (Klagenfurt)
Kommentar