Amerigo Caruso Jens Späth (Sektionsleitung)

Gespaltener Einheitswille? Das Janusgesicht der Integrationsideologien in Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert

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Abstract

Wer die Feierlichkeiten zu 150 Jahre italienischer Nationalstaatsgründung 2010/11 bzw. zu 25 Jahren Mauerfall und deutscher Einheit 2014/15 genauer verfolgt hat, konnte Erstaunliches beobachten: Längst überwunden geglaubte Mythen und teleologische Meistererzählungen zeigen sich erneut in breiter Öffentlichkeit. Obwohl die Geschichtswissenschaft seit der Jahrtausendwende beispielsweise die Darstellung Verdis als nationaler Barde, der antinapoleonischen Kriege als Befreiungskriege oder die vermeintliche Euphorie am Vorabend des Deutsch-Französischen Krieges zunehmend kritisiert hat, bleibt eine scharfe Diskrepanz zwischen professioneller Historiographie und öffentlicher Debatte. Hier setzt das Panel an: Wie lassen sich diese Spaltungen, die sich teils als latente Konflikte, teils als Kommunikationsbarrieren manifestieren, erklären? Die Aktualität dieser Frage zeigt sich an Beschlüssen einiger süditalienischer Regionalparlamente, einen Gedenktag für die dortigen „Opfer der italienischen Einigung“ einzurichten. Solche Diskrepanzen der heutigen Erinnerungskulturen haben ihren Ursprung in politischen Spaltungen und konkurrierenden Integrationsideologien der gerne als „verspätete Nationen“ bezeichneten Staaten Deutschland und Italien vor und unmittelbar nach der Gründung der jeweiligen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, so unsere Ausgangsthese.

Auch wenn sich „neuere“ nationale Mythen, wie z.B. der Widerstand gegen den „Nazifaschismus“, die demokratische Verfassungskultur und das Wirtschaftswunder, durchgesetzt haben, sind die Gründungserzählungen des 19. Jahrhunderts bis heute Teil des nationalen Diskurses geblieben. Ziel dieser Sektion ist es, die Vielfalt nationaler Mythologien zu diskutieren und die retrospektiv gewonnenen Rückschlüsse über die nationale Einheit als teleologisch vorbestimmtes Deutungsmuster zu revidieren. Warum Deutschland und Italien? Weil dort die Erwartungen an eine nationalstaatliche Lösung besonders hoch waren, jedoch keinesfalls Einigkeit über den Weg dorthin bestand. Der spektakuläre, weil schneller als gedacht durchgesetzte Einheitswille erforderte die rasche Etablierung einer nationalen Rechtfertigung, die zwar mehrmals imaginiert, aber weder erprobt noch unumstritten war. Deshalb sprechen wir vom Janusgesicht der Integrationsideologien, weil sie nicht nur die Überwindung von Differenzen, sondern auch die Vertiefung bestehender Gräben und damit die weitere Spaltung der Gesellschaften bewirkten. Zudem überlagerten soziale Konflikte wie das Brigantenwesen in Süditalien oder die Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet und in Elsass-Lothringen diese Ideologien und bedrohten die gerade erst konstituierten Nationalstaaten.

Die innovativen Ansätze der Beiträge bestehen darin, keine binationale Meistererzählung durch parallel erzählte Erfolgsgeschichten zu reproduzieren. Vielmehr sollen wieder stärker die Unterschiede zwischen beiden Staaten herausgearbeitet werden, denn anders als in Deutschland, wo das 19. Jahrhundert in der öffentlichen Wahrnehmung nur wenig präsent ist, bildet es in Italien nach wie vor das Zentrum nationaler Identitätskonstruktionen. Diese und die damit verknüpften konkurrierenden Erinnerungskulturen stehen im Fokus des Panels. Zu den permanenten Konflikten politischer und kultureller Natur, die sich in den italienischen und deutschen Staaten mit unterschiedlicher Intensität abspielten, gehörten drei Grundbestandteile:

  • die narrative Verarbeitung der Revolutions-, Kriegs- und Exilerfahrung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts;
  • die transnationalen Verfassungsdiskurse und die daraus resultierenden Divergenzen, aber auch Anpassungsversuche zwischen liberalen und konservativen Ordnungsmustern;
  • die Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Loyalitätsformen, die in zunehmend breiteren Öffentlichkeiten ausgetragen wurde.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es verhältnismäßig wenige, aber zunehmend einflussreiche politische Akteure und Netzwerke, die sich dafür engagierten, eine Einigung im Rahmen der Verfassungs- und Nationalstaatsfrage in die Nähe des Realisierbaren zu rücken. Die Revolutionen und politischen Feste der 1820-er und 1830-er Jahre, die von Mitgliedern von Geheimgesellschaften, Burschenschaften und jungen Adligen getragen wurden, kämpften vergeblich um Akzeptanz bei der politischen Führung und der breiteren Bevölkerung. Während Personen wie Giuseppe Mazzini und Cesare Balbo europaweit oder zumindest in ganz Italien Resonanz fanden, wurden (süd-)deutsche Liberale wie Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Karl von Rotteck in weit geringerem Maße rezipiert.

Ausgehend von diesen Überlegungen, hinterfragt das Panel die Paradigmen von Revolution und Restauration, Verfassungsreformen, Krieg und Nation. Inwieweit können diese traditionellen Interpretationsmuster das schwierige Ausbalancieren zwischen lokalen, nationalen und dynastischen Interessen in den italienischen und deutschen Staaten erklären? Welche nicht-intendierten Nebenfolgen hatten die umstrittenen Einheitsideale und welche bereits existierenden politisch-ideologischen Spaltungen wurden dadurch verschärft? Auf diese Fragen suchen sechs international führende Historikerinnen und Historiker Antworten. Edoardo Tortarolo (Turin) analysiert in seinem eröffnenden Beitrag aufgeklärte Reformmodelle diesseits und jenseits der Alpen vor 1789. Er begibt sich somit auf die Suche nach integrativen Diskursen vor der gespaltenen Gesellschaft, als in der Sattelzeit neue Gesellschaftsmodelle entwickelt wurden, die an eher lokale Identitäten anknüpften. Der Vortrag von Eveline Bouwers (Mainz) untersucht Bemühungen zur Konstruktion eines „nationalen Kanons“ in den deutschen und italienischen Staaten. Sie zeigt, dass Integrationsideologien politische und kulturelle Spannungen einerseits verschärfen, andererseits aber auch zu deren Überwindung beitragen konnten. Gabriele B. Clemens (Saarbrücken) analysiert am Beispiel der Malerei und großer Museen vergleichend, wie der Nationaldiskurs in der Kunst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Italien geführt wurde. Der Beitrag von Ruth Nattermann (München) untersucht am Beispiel von Frauen und Juden, wie der Umgang mit Minderheiten einen potentiellen Destabilisierungsfaktor für die werdenden Nationalstaaten darstellten. Marco Meriggi (Neapel) und Ute Planert (Köln) ordnen die präsentierten Beispiele in den Kontext alter und neuer Legitimationsstrategien in den italienischen und deutschen Staaten sowie im europäischen Rahmen im 19. Jahrhundert ein. Dergestalt bietet das Panel die Möglichkeit, Prozesse gesellschaftlicher Spaltung und deren Wahrnehmung nördlich und südlich der Alpen kritisch zu diskutieren und zu einem vertieften Verständnis der Problemlage bis in die heutige Zeit hinein beizutragen. Schließlich ist der 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 2021 nicht mehr fern.

Edoardo Tortarolo (Turin)
Aufgeklärte Reformmodelle in Italien und Deutschland: Integrative Diskurse vor der gespaltenen Gesellschaft.
Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges waren die unterschiedlichen staatlichen Akteure in Italien und Deutschland damit konfrontiert, wesentliche Bestandteile ihrer Institutionen zu reformieren, um die Folgen der weitverbreiteten Finanzmisere zu überwinden. Zudem wollten sie Gesellschaftsmodelle verwirklichen, die als modern wahrgenommen wurden, und den sozialen Konsens auf eine neue und breitere Basis stellen. Ein Diskurs über die möglichen und wünschenswerten Interventionen entwickelte sich in beiden Kulturräumen, bevor das Trauma der Revolution in Frankreich die Auswahl der Alternativen drastisch reduzierte. Die Entstehung einer informierten öffentlichen Meinung trug dazu bei, gemeinsame Themen sowie Topoi einer eher lokalen, geschichtsbedingten Identität zu entwickeln.
Eveline Bouwers (Mainz)
Die Konstruktion eines "Nationalpantheons": Kampf und Konsens in der deutschen und italienischen Denkmallandschaft vor 1848
In Anlehnung an die Aufklärungsidee des grand homme wurden im frühen 19. Jahrhundert auch in den deutschen und italienischen Staaten öffentliche Pantheons eingerichtet, die ‚Nationalhelden‘ feierten. Der Vortrag erhellt die mühsame Konstruktion eines vermeintlichen Nationalkanons und zeigt, dass die Auswahl der Gefeierten vor allem von Partikularinteressen getrieben wurde und somit keineswegs mehrheitsfähig war. Paradoxerweise waren die Pantheons zwar dazu angedacht, nationale Einheit zu stiften und zu verbildlichen, vertieften aber aufgrund der eklektischen Auswahl von ‚großen Männern’ historisch angelegte Gräben und machten folglich die Spaltung der Nation zusätzlich sichtbar.
Gabriele B. Clemens (Saarbrücken)
Nationale Kunst? Malerei und Museen in Deutschland und Italien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Aufgrund der föderalen Strukturen wurden in italienischen und deutschen Residenzstädten staatliche Museen und Gemäldegalerien neu aufgebaut oder gepflegt, die durchaus für sich in Anspruch nahmen, die jeweilige nationale Kultur zu repräsentieren und sich im Konkurrenzverhältnis zueinander inszenierten. Was dort gezeigt wurde, entsprach aber durchweg den in der napoleonischen Zeit geprägten Sammlungskanons des Louvre. Besonderer Hochschätzung erfreuten sich Gemälde aus italienischen Renaissance- und Barocksammlungen, die in deutschen Museen prominent präsent waren und national inkorporiert wurden und deren Verlust in Italien als nationaler „Aderlass“ beklagt wurde.
Ruth Nattermann (München)
Frauen und Juden in zwei „vorgestellten Gemeinschaften“. Die rechtliche und politische Lage von „Minderheiten“ in der Phase der deutschen und italienischen Nationalstaatsbildung
Der Beitrag nimmt die rechtliche und politische Lage von Frauen und Juden während der deutschen und italienischen Nationalstaatsbildung in den Blick. Zu erörtern sind Partizipationsdefizite sowie Strategien historischer Akteurinnen und Akteure, als gleichberechtigte Mitglieder der nationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden. Dieser Ansatz ermöglicht eine differenzierte Sichtweise auf das Potential und die Schwächen von Integrationsideologien, die aus vergleichender deutsch-italienischer Perspektive bezüglich Frauen und Juden noch wenig erforscht sind. Sie werden zum Gradmesser der keineswegs homogenen Gründungsgeschichte der beiden Nationalstaaten und ihres „gespaltenen Einheitswillens“.
Marco Meriggi (Neapel) Ute Planert (Köln)
Kommentar