Andreas Rüther (Sektionsleitung)

Gespalten oder zugehörig? Umgang mit Geflüchteten und Migrant/innen auf kommunaler Ebene vom 12. bis zum 21. Jahrhundert

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Abstract

Inwiefern lassen sich vergleichbare Erfahrungen mit Flucht und Migration seit dem Mittelalter bis in die Zeitgeschichte erkennen? Welche Faktoren und Wirkungszusammenhänge haben sich als erfolg- und folgenreich für Inklusion und Exklusion der Zuziehenden erwiesen? Welche Ursachen und sozialen Akteure trugen ggf. zu ‚gespaltenen Gesellschaften‘ bei? In dieser Sektion nehmen wir eine Perspektive der longue durée auf historische Wanderungsbewegungen ein und fragen diachron nach dem Umgang mit verschiedenen Migrationen, um überzeitliche Gemeinsamkeiten und Epochenspezifika auszutarieren. Zwar unterscheiden sich jeweils die Zusammensetzung der Flüchtlinge und Migrierenden, ihre Herkunftsgebiete, Beweggründe und Routen, doch waren diese Aspekte für die Strategien und Maßnahmen der Kommunen häufig nicht in erster Linie entscheidend. Der Umgang mit Migration auf lokaler Ebene verweist auch auf die Verhandlung gesellschaftlicher Ordnungen mit Folgen für Kommunen, Regionen und für die mobilen Menschen selbst. Die Fallstudien beziehen sich auf das spätmittelalterliche Ostmitteleuropa (Andreas Rüther), das Elsass im 19. Jahrhundert (Levke Harders), das Ruhrgebiet im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert (Anne Friedrichs) und auf niederländische Kreisläufe kolonialer Migrationen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart (Leo Lucassen). Drei übergreifende Fragestellungen stehen im Zentrum der Sektion: Erstens geht es um die Wechselwirkungen zwischen lokaler Ebene und anderen sozialen Räumen (wie dem Nationalstaat, Reichen oder anderen Herrschaftsräumen). Alle Beiträge nehmen zweitens verschiedene Akteure und ihre Praktiken in den Blick: Mobile Menschen, die schon länger ansässige Bevölkerung und obrigkeitliche bzw. staatliche Akteure. Drittens tragen die Referate zur kritischen Reflexion über die Migrationsgeschichtsschreibung bei, indem sie diskutieren, inwieweit Forschungen nicht nur aufgrund des historischen Kontextes, sondern auch aufgrund der Forschungs- und Überlieferungspraxis epochenspezifisch sind bzw. sein müssen.

Simone Lässig (Washington)
Moderation
Andreas Rüther (Bielefeld)
Bleiberecht, Zuwanderungspolitik,Willkommenskultur? Landflüchtige und Neubürger in spätmittelalterlichen Stadtgemeinden Ostmitteleuropas
In städtischen und ländlichen Siedlungen des östlichen Mitteleuropas finden sich im Mittelalter etliche Neuankömmlinge, die sich rechtlichen Abhängigkeiten entzogen und denen ehemalige Grundherren nachsetzten. Mit Hilfe herrschaftlicher Unterstützung wurden aus diesen arbeitssuchenden oder herbeigerufenen Personen(gruppen) häufig bessergestellte Minderheiten. Die Regulierung des Aufenthaltsstatus offenbart wirtschaftliche Motivationen für die Einbindung der Auswärtigen, aber auch integrative Hemmnisse in den Aufnahmegesellschaften. Von der Ablehnung durch die zurückfallenden Eliten bis zur Ausgrenzung der alteingesessenen Bevölkerung lassen sich neue soziale und ethnische Spaltungen erkennen.
Levke Harders (Bielefeld)
Migration, Flucht und Mobilität. Aushandlung von Fremdheit und Zugehörigkeit im 19. Jahrhundert
Anhand der Grenzregionen Elsass und der Herzogtümer Schleswig und Holstein im 19. Jahrhundert diskutiert dieser Vortrag, wie Fremdheit und Zugehörigkeit ausgehandelt und unterschiedliche Formen der Mobilität hergestellt wurden. Rechtliche wie politische Rahmenbedingungen beeinflussten Exklusions- und Inklusionspraktiken, die zugleich immer umstritten waren. Denn die Bemühungen seitens der Migranten um eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis verdeutlichen, dass Verwaltung, Einheimische und mobile Menschen selbst Fremdheit und Zugehörigkeit aushandelten und herstellten.
Anne Friedrichs (Mainz/Bielefeld)
Die polnisch-deutsche Migration ins und aus dem Ruhrgebiet (1860-1950). Plädoyer für eine relationale Geschichte des Gesellschaftlichen
Der Vortrag befasst sich mit den polnisch-deutschen Migrationen ins und aus dem Ruhrgebiet und plädiert dafür, die damit einhergehenden Differenzierungs- und Bewertungsprozesse aus der Perspektive einer relationalen Geschichte des Gesellschaftlichen auszuleuchten. Mobilität und Migration werden gleichsam als Sonde genutzt, um Konstruktionsprozesse gesellschaftlicher Ordnung und des Zusammenlebens zu untersuchen. An Fallstudien zur Zu- und Abwanderung ab 1860, um 1890 und nach 1919 wird exemplarisch gezeigt, dass zunehmender Nationalismus und die Förderung von Diversität gerade kein Widerspruch sein mussten.
Leo Lucassen (Leiden/Amsterdam)
The Netherlands and its colonial ‘migration circuits’, 1600-2010
In my paper I deal with the question how the framing of migrants who for ethno-national reasons are considered as belonging to the nation influenced their subsequent integration process. I will first briefly describe the Dutch colonial migration circuit between the Netherlands and the Dutch East Indies (from 1949 Indonesia) until the present day. After a phase of Dutch sailors, soldiers and merchants going to the Dutch East Indies in the early modern period, with the establishment of an official colony in the 19th century, the circuit became more extensive (including Dutch bureaucrats, missionaries and corporate personnel, as well as a multinational military presence). Moreover, for the first time small numbers of indigenous migrants came to the Netherlands, often as servants and staying only temporarily. In the early 20th century these were followed by Indonesian students, who stayed at Dutch Universities and developed nationalist ideas, spilling over in organisational activities to further an independent indonesia. When this was established in 1949, after a short colonial war, a huge immigration to the Netherlands of some 300.000 people followed, many of whom were of mixed descent (often Dutch fathers and Indonesian mothers). Considered as traitors they fled the nationalist government. Like the Aussiedler in Germany they got a preferential treatment and considered Dutch nationals. Their integration was highly coordinated by the state with the aim to assimilate them as soon as possible. Finally I will compare this ethno-national model of incorporation with the treatment of other refugees.