Cordula Nolte Gabriele Lingelbach (Sektionsleitung)

Dis/ability – Alltag – Geschlecht. Erkundungen im Feld der interdisziplinären Dis/ability History

Download iCal

Abstract

Seit der Jahrtausendwende kristallisiert sich Dis/ability History als eine internationale Forschungsrichtung heraus, die das Potential und den Anspruch hat, anhand der Analysekategorie dis/ability historische Kulturen und Gesellschaften grundlegend neu zu untersuchen. Dis/ability erweist sich zunehmend als ein Phänomen, anhand dessen Diskurse und Praktiken der Teilhabe, Inklusion und Exklusion, die Zuschreibung von Differenz und Ungleichwertigkeit und die Wirksamkeit von Normierungs- und Ordnungsprozessen im Hinblick darauf untersucht werden können, inwiefern Gesellschaften von integrativen und/oder spaltenden Tendenzen bestimmt werden. Im Rahmen der Sektion werfen vier kurze Vorträge mit Impulscharakter Schlaglichter auf mittelalterliche, frühneuzeitliche und moderne Verhaltensweisen im Kontext von dis/ability. Dabei stehen alltägliche Lebenszusammenhänge sowie die Verflechtungen von dis/ability und gender im Mittelpunkt entsprechend dem Befund, dass diese Komplexe sich über die Epochen hinweg als Forschungsschwerpunkte der Dis/ability History herauskristallisiert haben. Indem die Sektion auch Aspekte der Kunstgeschichte, der visuellen Repräsentationen und der materiellen Kultur umfasst, trägt sie der Erkenntnis Rechnung, dass insbesondere für die Vormoderne mit ihrer vielfach unvollständigen Überlieferung heterogener Materialien, nämlich schriftlicher, bildlicher und dinglicher Quellen, fächerübergreifende Herangehensweisen unabdingbar sind. Der Anspruch der Dis/ability History, mit ihren Forschungen in die Öffentlichkeit hineinzuwirken und aktuelle Debatten zur Realisierung eines von Teilhabe und Gleichberechtigung geprägten Gemeinwesens historisch zu unterfüttern und zu inspirieren, spiegelt sich unter anderem darin, dass einer der Beiträge am Beispiel einer Ausstellung Formen der Wissenschaftsvermittlung in Museen thematisiert.

Eva Cersovsky (Köln)
Blind Fraw – bresthaft Man. Überlegungen zu Beeinträchtigung, Versorgung und Geschlecht in Städten des 15. und 16. Jahrhunderts
Der Vortrag widmet sich der organisierten Selbsthilfe und institutionellen Sorge um beeinträchtigte Frauen und Männer in städtischen Lebenswelten des 15. und 16. Jahrhunderts. Mit besonderem Fokus auf die freie Reichsstadt Straßburg fragt er, inwieweit die Funktionen, der Zugang sowie die Inanspruchnahme dieser Versorgungsmöglichkeiten geschlechtsspezifische Muster aufwiesen. Dabei werden zum einen Normen und Praktiken der Organisation materieller wie medizinischer Hilfe, Unterbringung und Pflege anhand eines breiten Spektrums administrativer Schriftlichkeit beleuchtet. Zum anderen wird die Bedeutung von Diskursen um körperliche und geistig-seelische Verfasstheit oder Hilfs- und Schutzbedürftigkeit diskutiert.
Mareike Heide (Hamburg)
Shaping dis/ability? Prothesen und Behinderung in der Frühen Neuzeit
Bei der Untersuchung von dis/ability in vormodernen Gesellschaften verspricht die Realienkunde wichtige Erkenntnisse. Objekte, als von Menschen für Menschen geschaffene Dinge, stehen in Wechselbeziehung zum Menschen sowie zu zeitgenössischen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Mentalitäten. In diesem Paper wird am Beispiel frühneuzeitlicher Prothesen untersucht, inwieweit die Nutzung orthopädischer Hilfsmittel Einfluss auf die Wahrnehmung von dis/ability hatte. Die Analyse archäologischer Funde in Kombination mit schriftlichen Quellen verdeutlicht, auf welch unterschiedliche Weise Prothesen Fremd- und Selbstbild eines Menschen mit Behinderung beeinflussen konnten.
Emma Shepley (London)
Reframing dis/ability: exhibiting difference in the medical museum through portraiture
The Royal College of Physicians' Re-framing disability exhibition explored a group of rare 17th-19th century portraits depicting disabled men and women from all walks of life, many of whom earned a living exhibiting themselves in public. The prints formed the centre of an award-winning touring exhibition led by the responses of 27 contemporary disabled participants from across the UK who discussed the prints and their relevance to their own lives. The exhibition toured from 2011-15 and aimed to build on academic literature in addressing the lack of representation of disabled people in museums and encourage audiences to rethinking attitudes towards disability. This paper outlines the development and outcomes of the project as an example of best practice in using the social model of disability in museum displays and the work of the Royal College of Physicians museum as a partner in the University of Leicester’s Research Centre for Museums and Galleries’ acclaimed collaborative disability performance projects Cabinet of Curiosities: how disability was kept in a box (2013-14) and Exceptional and Extraordinary (2016).
Sebastian Schlund (Kiel)
Dis/ability und gender im westdeutschen Behindertensport. Eine intersektionale Analyse
Mein Beitrag befasst sich mit dem gleichzeitigen Zusammenwirken der Ungleichheitskategorien Disability und Gender im organisierten Behindertensport in der Bundesrepublik. Dabei wird zu erläutern sein, auf welche Weise das Geschlecht behinderter Personen über den Zugang zu Behindertensportvereinen entschied. Darüber hinaus ist zu eruieren, inwiefern sich Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit mit der Interpretation vermeintlich defizitärer Körper verbanden. Hierzu zählt auch die Analyse zeitgenössischer Wahrnehmungen von der Präsentation beeinträchtigter (männlicher und weiblicher) Körper beim Sport, mithin also eine Verknüpfung von Sport- und Körpergeschichte mit dem Ansatz der Disability History.