Torsten Hiltmann Mareike König (Sektionsleitung)

Digital Humanities in der Analyse gespaltener Gesellschaften – Beispiele aus der Praxis

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Abstract

Was können digitale Methoden zur Erforschung gespaltener Gesellschaften beitragen? Digital Humanities sind nach wie vor stark von der Bereitstellung digitalisierter Quellen und von den Fragestellungen der Computerlinguistik sowie der Informatik geprägt. Vielfach bleibt vage, was digitale Methoden konkret zur Beantwortung geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen beitragen können. Diese epochenübergreifende Sektion zielt genau auf diesen konkreten Nutzen der digitalen Methoden für die Geschichtswissenschaften, wobei mit das Motto des Münsteraner Historikertages “Gespaltenen Gesellschaften” im Zentrum der einzelnen Projekte steht.

In einem ersten Teil liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf den digitalen Möglichkeiten bei der Erforschung von Personen, ihren Netzwerken und ihren bisweilen gebrochenen Lebens- und Karrierewegen in sozial ungleichen Gesellschaften und im Rahmen auferzwungener Migrationsbewegungen. Methodisch kommen Semantic Web- und Linked Data-Technologien, automatisierte Verfahren wie OCR-Analysen, Record Linkage sowie Geographische Informationssysteme (GIS) zum Einsatz. Epistemologisch stellt sich die Frage, wie aus der Vielzahl von Einzeldaten historischer Kontext entsteht und welche Potentiale (halb)automatisierte Verfahren bei der Erforschung von Lebenswegen bieten.

Der zweite Teil widmet sich der digitalen Untersuchung von Diskursen aus und über Gesellschaften, die sich im Umbruch befinden. Methodisch kommen quantitative und qualitative Text Mining-Verfahren zum Einsatz. Die epistemologische Herausforderung besteht darin, frei von vorgefassten hermeneutischen Mustern Diskursfragmente in einer laborhaften Vorgehensweise nach und nach zu verfeinern. Visualisierungstools kommt bei der Präsentation der Ergebnisse eine zentrale Rolle zu. Das Programm wurde über einen Call for Papers ermittelt.

Katrin Moeller (Halle-Wittenberg)
Berufswechsel, Karriere, Minijob oder ständische Tradierung? Methodische Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Erwerbsbiografien im zeitlichen Längsschnitt
Erwerbsbiografien und Lebensverläufe sind ein wichtiges Forschungsfeld zur dynamischen Analyse von sozialer Ungleichheit. Allerdings erfassen solche Ansätze weitgehend Biografien der Industriegesellschaften, weil für die Vormoderne Quellen für eine breite Bevölkerung sowie methodische Ansätze fehlen. Woher nehmen wir also Quellen? Wie gehen wir mit den gebrochenen Informationen um? Hier können Crowd Sourcing, digitale Strategien der Personenidentifizierung und Berufsklassifikation ein Schritt sein, um neue Quellen im Rahmen von Digital Humanities zu erschließen und alte Fragen der Geschichtswissenschaft nach dem Verhältnis von sozialer Mobilität in der Ständegesellschaft zu beantworten.
Jennifer Blanke (Wolfenbüttel) Thomas Riechert (Leipzig)
Im Kern gespalten? Zur digitalen Erforschung von Gelehrtenkarrieren in der Frühen Neuzeit und deren gesellschaftliche Relevanz
Um Spaltungen und Fusionen innerhalb sowie zwischen den verschiedenen sozialen Feldern frühneuzeitlicher Gesellschaften sichtbar zu machen, widmet sich dieser Beitrag der gesellschaftlichen Relevanz von Berufungspraxis und professoralen Karrieremustern an vormodernen Universitäten im deutschsprachigen Raum. Die digitalen Professorenkataloge der Universitäten Helmstedt und Leipzig bilden dafür die zentrale Datenquelle. So werden Forschungsansätze aus den Geisteswissenschaften und der Informatik zusammengeführt, um basierend auf dem Heloise Common Research Modell (HCRM) eine Methode zu entwickeln, die für komplexe Forschungsfragen im Semantic Web anwendbar ist.
Karen Bruhn (Kiel)
Kieler Professoren online - zu universitären Karrieremustern in der NS- und Nachkriegszeit
Das, im Vortrag vorzustellende, Dissertationsvorhaben „Mustergültig? Kieler Hochschulkarieren in der NS-Zeit“ beleuchtet die Lebensläufe von insgesamt 244 Professoren. Das Kieler Gelehrtenverzeichnis, der auf der Technologie des Semantic Web basierende Online-Professorenkatalog der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, bietet die Möglichkeit, das komplexe Geflecht von Faktoren, die diese Hochschulkarrieren beeinflussten, differenziert zu analysieren. Im Vortrag soll verdeutlicht werden, dass ein besseres Verständnis der Wirkungsmechanismen des Wissenschaftsapparates während der NS-Zeit auch eine profundere Bewertung der Professoren in der gespaltenen Gesellschaft der jungen Bundesrepublik mit sich bringen kann.
Henning Borggräfe (Bad Arolsen) Christoph Rass (Osnabrück) Ismee Tames (Amsterdam)
People on the Move. Zeiträumliche Analysen von Flucht- und Gewaltmigration im 20. Jahrhundert mithilfe Geografischer Informationssysteme (GIS)
Der Vortrag diskutiert am Beispiel von Projekten der Arbeitsgruppe 'People on the Move', die aus Wissenschaftler/innen des International Tracing Service (Bad Arolsen), des Insitute for War, Holocaust and Genocide Studies (NIOD, Amsterdam) sowie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Universität Osnabrück) besteht, die Modellierung historischer Prozesse aus Lebenslaufdaten mithilfe Geografischer Informationssysteme. Thematisch befasst sich die vorgestellte Forschung mit gewaltinduzierter Mobilität und ihren Folgewanderungen im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Das methodische Spektrum reicht dabei von Einzelbiografien bis zur teilautomatisierten Massendatenanalyse, von der dynamischen Rekonstruktion von Migrations- und Mobilitätsmustern bis zum Versuch, so ermittelte Strukturen mit deren narrativen Repräsentationen zu verbinden.
Erik Koenen (Bremen)
Gespaltene Diskurse: Die Russische Revolution 1917 im internationalen Pressediskurs
Gegenstand des Vortrags ist die internationale Presseberichterstattung zum Russischen Revolutionsjahr 1917. Trotz des einschneidenden historischen Charakters, den schon die Zeitgenossen erkannten, ist in der historischen und pressehistorischen Forschung das Medienereignis Russische Revolution 1917 bislang kaum behandelt und untersucht worden. Von dieser Beobachtung ausgehend, werden für die Rekonstruktion der medienvermittelten öffentlichen Diskurse zur Russischen Revolution die digitalen Methodeninnovationen des Data-Mining und des Text-Mining genutzt und in einem experimentellen Workflow operationalisiert.
Kerstin Schwedes (Braunschweig)
Gespalten vereint: Erinnerungskulturen in Schulbüchern EU-Europas
Der Beitrag thematisiert das Potenzial der digitalen Forschungsinfrastrukturen EurViews/ WorldViews (2014/ 2018, Georg-Eckert-Instituts. Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung), die wissenschaftlich aufbereitete Schulbuchauszüge bereitstellen. Schulbuch und Erster Weltkrieg (2015) diente als quellenbasiertes Projekt mit abgrenzbarem Themenfeld zur konzeptuellen Entwicklung der FIS im Hinblick auf Form und Inhalt. Das Projekt zeigte, dass noch immer divergierende nationale Erinnerungen die Darstellungen des Ersten Weltkriegs in Schulbüchern Europas prägen. Im Beitrag werden die erhobenen Deutungsmuster mit weiteren Quellen aus der Edition WorldViews korreliert, um zu untersuchen, inwieweit sich von ihnen Indikatoren zur Verfasstheit EU-Europas ableiten lassen.
Torben Ibs (Leipzig)
Historische Diskursanalyse mit CAQDAS – ein Werkstattbericht
Computer-assisted qualitative data analysis software, kurz CAQDAS, nimmt auch in der historischen Forschung einen immer breiteren Raum ein. In seiner Dissertation „Umbrüche und Aufbrüche – Das Theater in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995“ hat Torben Ibs vor allem auf Basis einer CAQDAS-gestützten Diskursanlanlyse gearbeitet. In einer Verschränkung von Diskursanalyse nach Foucault und Grounded Theory von Glaser und Strauss ergibt sich eine Forschungsmethodik, die mit einem CAQDAS-Programm (im vorliegenden Falle Atlas.ti) hervorragend bearbeitet werden kann. In seinem Vortrag gibt Torben Ibs einen Einblick in seinen digitalen Werkzeugkasten, welcher der Dissertation zu Grunde liegt.