Nicole Kramer Marc Buggeln (Sektionsleitung)

Die vertikale Spaltung. Staatliches Handeln und Klassendifferenzierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 

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Abstract

Mit der zunehmend in Medien und Politik diskutierten Auseinanderentwicklung von Einkommen in den OECD-Staaten ist die Skepsis gegenüber der häufig unterstellten Selbstverständlichkeit von sozialer Mobilität gewachsen. Das damit verbundene Interesse an Ursachen, Mechanismen und Folgen gesellschaftlicher Spaltung hat die an Strukturprinzipien interessierte historische Gesellschaftsanalyse wiederbelebt: Erneut stellt sich vor allem die Frage nach der Hartnäckigkeit von Klassendifferenzen. Die Sektion setzt hier an, wobei sich die Vorträge auf staatliches Handeln, konkret auf Steuer- und der Sozialpolitik konzentrieren. Sie loten das Potential des Klassenbegriffs für die Untersuchung der Gesellschaften Westeuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, wobei die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Italien, Belgien und die Niederlande als Fallbeispiele dienen. Steuer- und Sozialpolitik bieten sich besonders an, um die Konstruktion von gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen zu studieren. Schließlich ermöglichen die Steuereinnahmen es dem Staat erst, aktiv zu werden, und eine Hauptaufgabe der Politik ist es, die eingenommenen Mittel sinnvoll einzusetzen. Die Sozialpolitik ist dabei inzwischen zum größten Haushaltsposten geworden, mit dem in vielfältiger Weise auf gesellschaftliche Prozesse und Ordnungen eingewirkt wird. Kurzum: Steuern, Transfers, Sozialversicherungen und die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen stellen zentrale Instrumente staatlicher Umverteilungspolitik dar. Es geht im Panel darum, die durch staatliche Politik induzierten Prozesse der Klassenbildung zu untersuchen und gleichzeitig zu fragen, inwiefern Begriffe wie Klasse oder Schicht in den politischen Auseinandersetzungen eine Rolle spielten. Die Vortragenden beleuchten einerseits, wie sich Klasseninteressen auf die Formulierung steuer- und sozialpolitischer Reformen auswirkten. Andererseits wird beleuchtet, inwieweit politische Entscheidungen gesellschaftliche Konfliktlinien schufen oder aber Ungleichheitsstrukturen relativierten.

Ulrike Lindner (Köln)
Moderation 
Jenny Pleinen (Augsburg)
Rückzug des Staates? Fiskalsoziologische Überlegungen zur britischen Staatlichkeit seit den 1980er Jahren 
Der Beitrag behandelt die Veränderungen britischer Staatsinterventionen seit den 1980er-Jahren und die Auswirkungen von Steuern, Staatsausgaben und Regulierungen auf die Einkommens- und Besitzverhältnisse der sich selbst als Klassengesellschaft wahrnehmenden britischen Gesellschaft. Er hinterfragt das Narrativ eines britischen Exzeptionalismus zu dem insbesondere ein radikaler Rückzug des Staates aus allen Lebensbereichen gehört.
Marc Buggeln (Berlin)
Klassenkampf als Verteilungskampf in der Demokratie: Steuerpolitik und Interessenverbände in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989 
Die in Deutschland einflussreichsten Interessengruppen sind jene, deren Zusammensetzung durch eine gemeinsame ökonomische Lage gekennzeichnet ist. Diesen kommt in der Steuerpolitik hohe Bedeutung zu. Bis heute deuten Kritiker den Einfluss von Interessengruppen als große Gefahr für den Staat. Im Vortrag wird am Beispiel der Steuerpolitik geprüft, inwiefern Interessengruppen bestimmte Gesetzesvorhaben vorangetrieben haben. Genereller wird gefragt, inwieweit die an den ökonomischen Gruppenpositionen ausgerichteten Verbände dazu beitrugen, die jeweiligen Klassenpositionen sichtbar und gegebenenfalls darüber auch demokratisch verhandelbar zu machen.
Dennie Oude Nijhuis (Leiden)
Christian Democracy and the Political Foundations of Social Solidarity in Belgium and the Netherlands, 1944-1982 
The paper provides an alternative explanation for the importance of Christian democracy for the postwar expansion of the welfare state. It argues that strong electoral competition weakens the commitment of Christian democratic parties to introducing and upholding equitable and generous welfare programs. Based on an analysis of Belgium and the Netherlands, it argues that the absence of strong competition over middle class votes greatly facilitated the postwar expansion of the welfare state. The paper challenges approaches, which tend to view solidarity as an expression of common group interest and consequently explain successful welfare initiatives to these groups’ ability to mobilize or otherwise exert political influence.
Nicole Kramer (Frankfurt am Main)
Zum Verhältnis von Versorgungsklassen, Wohlfahrtsstaatsabbau und sozialer Exklusion, 1970-2000 
Sozialpolitik, so argumentierte M. Rainer Lepsius, schaffe „Versorgungsklassen“. Mit seiner These wohlfahrtsstaatlich vermittelter Differenzierung trug der Soziologe zu einer in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland und anderen Industrieländern virulenten Debatte über das Verhältnis von sozialer Sicherung und sozialer Ungleichheit bei. Der Vortrag diskutiert, wie sich Vorstellungen über die Umverteilungswirkung des Wohlfahrtsstaates änderten und politisch-administrativ umgesetzt wurden. Kritisch überprüft wird dabei die Deutung vom Übergang zum „aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ und die damit verbunden Forschungsperspektive, die sich auf Finanzierungsseite von Sozialpolitik konzentriert.
Lutz Raphael (Trier)
Kommentar