Dominik Geppert (Sektionsleitung)

Das große ‚Spaltungsprojekt‘? Volksbefragungen, Referenden und die gesellschaftliche Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses

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Abstract

Brexit, Le Pen oder Griechenland – das europäische Integrationsprojekt spaltet Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Trotz aller tagespolitischen Aktualität ist das Problem der öffentlichen Legitimation Europas jedoch kein neues Phänomen. Es lässt sich bereits seit den Ursprüngen der Europäischen Gemeinschaft wiederholt identifizieren – Norwegens Ablehnung des EG-Beitritts 1972, das erste britische Referendum zur EG-Mitgliedschaft 1975, oder die Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden in den frühen 2000er Jahren seien stellvertretend genannt. Die Sektion untersucht wechselnde öffentliche Wahrnehmungen und Legitimationen des Integrationsprozesses seit 1945 in vergleichender europäischer Perspektive. In vier Fallstudien – Großbritannien, Frankreich, Griechenland und Deutschland – sollen sowohl Parallelen als auch die teils drastischen Unterschiede in der öffentlichen Haltung zu Europa durch das Prisma von Volksbefragungen bzw. Referenden genauer betrachtet werden. Hierbei legt das Panel besonderes Augenmerk auf die Wechselwirkungen zwischen europäischer und nationaler Ebene. Es analysiert zudem den Einfluss innenpolitischer sowie übergeordneter transnationaler und globaler Prozesse: soziale und wirtschaftliche Unterschiede, die gefühlte Entfremdung trans- wie supranationaler Eliten, sowie Effekte der Globalisierung. Über all dem steht die zentrale Frage: Heilt oder vertieft der europäische Integrationsprozess die Spaltungen nationaler ebenso wie internationaler Gemeinschaften? Und (wie) lässt sich das europäische Integrationsprojekt von allgemeineren gesellschaftlichen und globalen Trends analytisch isolieren? Im Mittelpunkt des Interesses steht die Rolle von Volksbefragungen und Referenden, die in zunehmendem Maße die öffentliche Debatte über Europa beeinflussen. Zum einen fungieren Referenden häufig als Brennglas, durch das Diskussionen intensiviert und Argumente gebündelt werden; die politische Wahrnehmbarkeit europapolitischer Themen wird dadurch deutlich verstärkt. Zum anderen tragen Referenden häufig auch zu einer starken Polarisierung und Spaltung politischer Diskurse bei und können auf diese Weise ein Eigenleben entfalten, weit entfernt und mitunter fast losgelöst vom ursprünglichen Thema. Offen bleibt in vielen Fällen die juristische wie politische Legitimation solcher Referenden, die oft dazu benutzt werden, komplexe Sachverhalte und Schwierigkeiten auf einen vermeintlichen „Volkswillen“ abzuwälzen und auf diese Weise kontroverse innenpolitische Entscheidungen zu umgehen. Daraus leiten sich wichtige Fragen ab: (Wann) sind Referenden legitim? Wann sind sie nützlich, wann schädlich für die politische Selbstverständigung und strategische Positionierung eines Gemeinwesens? Ziel des Panels ist es, durch eine vergleichende europäische Analyse der Rolle von Volksbefragungen und Referenden zu einem genaueren und differenzierteren Bild öffentlicher Wahrnehmungen und Legitimationen des Integrationsprozesses seit 1945 zu gelangen. Mit diesem bewusst offenen Ansatz knüpft das Panel an neue historiographische Entwicklungen an, welche im Angesicht aktueller Krisen die immer noch verbreitete Lesart der europäischen Integrationsgeschichte als teleologischer Fortschritts- und Erfolgsgeschichte kritisch hinterfragen und durch dialektischere und kontingentere Narrative ersetzen. Durch die bewusst gewählte chronologische, geographische und disziplinäre Breite des Panels sollen eine immer noch stark westeuropäisch geprägte Lesart der europäischen Integration konsequent historisiert und geschichtswissenschaftliche Ansätze interdisziplinär erweitert werden.

Dominik Geppert (Bonn)
Einleitung und Kommentar
Michaela Wiegel (Paris)
Die französischen Volksabstimmungen zur Ratifizierung des Maastricht-Vertrages von 1992 und zur Europäischen Verfassung von 2005
Mathias Haeussler (Cambridge)
Der ewige Außenseiter? Die britischen EG/EU Referenden 1975 und 2016 im historischen Vergleich
Korinna Schönhärl (Duisburg/Essen)
Ja oder "Nein"? Das griechische Referendum von 2015 über die Konditionen der Geldgeber
Udo di Fabio (Bonn)
Die sperrige Volkssouveränität: Das Bundesverfassungsgericht und der Prozess der europäischen Einigung