Roland Wolf (Sektionsleitung)

„Bedrohte Ordnungen“ – eine Kooperation des Sonderforschungsbereiches 923 mit der Geschichtsdidaktik zur Verbindung von Fachwissenschaft und Unterricht

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Abstract

In der Sektion wird das Ziel verfolgt, Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“ exemplarisch zu präsentieren, ihr Potenzial für historisches Lernen zu analysieren und ihre Anwendung im Unterricht durch die Entwicklung von geschichtsdidaktischen Perspektiven und konkreten Unterrichtskonzepten aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Der SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ untersucht, ob und wie sich Ordnungen ändern, die soziale Gruppen oder ganze Gesellschaften strukturieren, sobald sie mit existenzgefährdenden Bedrohungen konfrontiert werden. In Situationen bedrohter Ordnung, wenn Handlungsoptionen unsicher werden, Verhaltenserwartungen und Routinen in Frage stehen und sie sich jetzt oder in naher Zukunft wahrscheinlich nicht mehr aufeinander verlassen können, sprechen Menschen über die ursächlichen Bedrohungen, aber auch über die betroffenen Ordnungen: Ordnungsvorstellungen werden explizit thematisiert und dadurch sicht- und besonders gut fassbar. Wenn Strukturen historischer Gesellschaften unter dem Druck der Bedrohung in Fluss geraten, formbar werden, treten ihre zentralen Facetten besonders deutlich hervor. Dadurch können vergangene gesellschaftliche Ordnungen und ihr Wandel in neuer Weise sichtbar gemacht werden. Extreme Situationen bedrohen das alltägliche Leben, sie machen uns bewusst, wie brüchig und voraussetzungsvoll unser Leben und Handeln ist. Diese Beeinträchtigung der Ordnung kann im Alltag ebenso wie in der internationalen Politik festzustellen sein. Die betroffenen Akteure kommunizieren in dieser Situation eine Bedrohung. Sie alarmieren ihren Mitmenschen. Darin schlägt sich häufig nicht die unmittelbare Situation, sondern ihre Wahrnehmung und Erfahrung nieder. Gleichzeitig fordern die Akteure Maßnahmen, die zur Abwendung und Bewältigung der Bedrohung führen sollen. Für historisches Lernen relevant werden diese Zusammenhänge in verschiedenen Hinsichten: z.B. durch die Anwendung des im SFB entwickelten Modells der Bedrohungskommunikation auf historische Situationen, ebenso können so begriffliches Lernen und die Analyse anhand von wissenschaftlichen Kategorien eingeübt werden. Schülerinnen und Schüler eignen sich durch die Orientierung an der Forschung wesentliche Kompetenzen des historischen Denkens und Arbeitens an, ihre Urteilsfähigkeit wird entwickelt und sie können im aktuellen Transfer gegenwärtige Bedrohungsdiskurse kritisch dekonstruieren. Dies ist als wesentlicher Beitrag zur historisch-politischen Bildung anzusehen. Aus der Zusammenarbeit von Geschichtsunterricht und Fachwissenschaft ergeben sich somit eine Fülle von Möglichkeiten. Der SFB hat für eingeführte Themen neue Perspektiven entwickelt (z.B. „Kalter Krieg“, „Investiturstreit)“, bietet neue, bisher noch wenig behandelte Themen an („Naturkatastrophen“, „Hungerkrisen“, „arme adlige Frauen“) und hat eine Fülle von interessanten Materialien und Fragestellungen erhoben, die durch die didaktische Analyse für LehrerInnen und SchülerInnen zugänglich gemacht werden. Im Rahmen der fachdidaktischen Reflexion der Forschungsansätze werden überkommene Vorstellungen und Zuschnitte neu diskutiert und zur Disposition gestellt. Die geplante Sektion auf dem Historikertag soll exemplarisch fachwissenschaftliche Vertiefungen vermitteln, verknüpft sind diese durch den Begriff der „Bedrohte(n) Ordnungen“, aufgezeigt an Beispielen aus der internationalen Politik, sozialer Probleme und innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die Forschungsergebnisse des SFB werden kombiniert mit der Reflexion der Kategorien des historischen Lernens, ein Ansatz der für alle Beteiligten eine Fülle neuer Aspekte verspricht.

Roland Wolf (Tübingen)
Begrüßung und Einführung in die Sektion
Dennis Schmidt (Tübingen)
Einführung in den SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“
Der Tübinger SFB „Bedrohte Ordnungen“ besteht seit dem Jahr 2011, aktuell befindet er sich in seiner zweiten Phase. In dem Einführungsvortrag wird ein knapper Überblick über das Forschungsdesign und die konzeptionellen Ansätze gegeben. In der Kooperation mit der Geschichtsdidaktik erwies sich das Konzept der Bedrohungskommunikation als besonders ertragreich, auf das deshalb ein besonderes Augenmerk gelegt wird.
Roland Wolf (Tübingen)
Wissenschaft und Unterricht - Analyse des geschichtsdidaktischen Potenzials des SFB
Die Kooperation von Fachdidaktik und Fachwissenschaft stellt beide Disziplinen vor besondere Herausforderungen. Historisches Lernen folgt eigenen Ansprüchen und Gesetzlichkeiten, ebenso die geschichtswissenschaftliche Forschung. Verbunden sind beide Bereiche durch das historische Denken, es liegt daher nahe, dieser disziplinären Matrix zu folgen. Damit ist der Weg frei, neue Wege zu erkunden, vertraute Themen zu erschließen, aber insbesondere auch unabhängig von den konventionellen Inhalten und Themen der Bildungspläne Neues zu entdecken. Die Zusammenarbeit mit Forschern eröffnet Möglichkeiten, neue, kompetent kommentierte Materialien zu erkunden und ebenfalls neue Fragestellungen in das historische Lernen einzubringen. Daraus werden mittel- und langfristig innovative Impulse für die Bereicherung des konkreten Unterrichtsgeschehens, aber auch für die Curriculumsentwicklung ausgehen.
Klaus Gestwa (Tübingen)
Bedrohung und Verheißung. Technik und Wissenschaft im Kalten Krieg
Während der Jahrzehnte des Kalten Krieges kam es zum Anbruch des Atom-, Computer- und kosmischen Zeitalters. Dieser enorm beschleunigte wissenschaftlich-technische Fortschritt trug einerseits maßgeblich zum Aufbau des militärischen Konfrontationspotentials und damit zur Spaltung der Welt in feindliche Blöcke bei. Andererseits weckten die technologischen Errungenschaften die Verheißung, Wohlstand und Frieden für die gesamte Menschheit sichern zu können. Darüber hinaus ergaben sich durch die neuen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik blockübergreifende Kommunikations- und Interaktionsformen. Diese trugen nicht nur dazu bei, das Bedrohungspotential des Kalten Kriegs einzuhegen, sondern stießen darüber hinaus wirkungsmächtige globale Prozesse an, die sich in der Ausbildung neuer Weltorganisationen und eines „planetarischen Bewusstseins“ niederschlugen.
Georg Schild (Tübingen)
Bedrohungswahrnehmungen im Kalten Krieg
„Bedrohung“ und „Bedrohungswahrnehmung“ sind zwei zentrale Begriffe für das Verständnis der Politik im Kalten Krieg. Der Vortrag fragt, in welchem Verhältnis die beiden Begriffe zueinanderstehen. Die These ist, dass Bedrohung und Bedrohungswahrnehmung voneinander getrennt betrachtet werden müssen. Der Vortrag untersucht anhand amerikanischer Dokumente aus den Jahren des Kalten Krieges, welche Faktoren die Wahrnehmung einer Bedrohung beeinflusst haben.
Andrea Kimmi (Tübingen)
Ein geschichtsdidaktisches Unterrichtskonzept zum Thema „Kalter Krieg“
Der Kalte Krieg findet als historische Epoche seinen Platz in den allermeisten Bildungsplänen – und dies häufig in beiden Sekundarstufen. Der durch die Ergebnisse des SFB in den Fokus gerückte Ansatz, die Rede vom Kalten Krieg selbst als Akt der Bedrohungskommunikation zu fassen, erscheint besonders geeignet, Strukturen, Entwicklungen und Wesenszüge des Kalten Krieges unter diesem Fokus mit Schülerinnen und Schüler zu reflektieren und zu beurteilen. Das didaktische Konzept stellt dabei Verfahren der Re- und Dekonstruktion sowie des Gegenwartsbezuges in den Mittelpunkt und zeigt, wie auch mit den in Schulbüchern eingeführten Materialien neue Wege beschritten werden können.
Johanna M. Singer (Tübingen)
„…gezwungen in einem Berufe mich auszubilden“ – Armutsbedingte Erwerbstätigkeit adliger Frauen im Deutschen Kaiserreich
Der Vortrag thematisiert den Zusammenhang von Armut und Erwerbstätigkeit im Hinblick auf adlige Frauen in Deutschland – insbesondere in Württemberg und Preußen – in der Zeit von etwa 1870 bis 1914. Dabei wird die These vertreten, dass wesentlich mehr, vor allem ledige, adlige Frauen als landläufig angenommen aus finanzieller Notwendigkeit gezwungen waren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zwar lässt sich dieser Sachverhalt auch schon im frühen 19. Jahrhundert beobachten, in der Zeit um 1900 aber wurde er im Zuge der öffentlich diskutierten ‚Frauenfrage‘ auch im Adel zum Thema. Die Gesuche adliger Bittstellerinnen an den jeweiligen Landesherrn um finanzielle Unterstützung, die zugehörige Behördenkorrespondenz sowie publizistische Artikel aus dem Deutschen Adelsblatt, die sich mit der Frauenerwerbsfrage beschäftigen, lassen Rückschlüsse auf die Frage der Ordnungsbedrohung durch Armut in Teilen des deutschen Adels in der Zeit des Kaiserreichs zu.
Roland Wolf (Tübingen)
Möglichkeiten des unterrichtspraktischen Zugangs zum Thema „Armer Adel“ und den Materialien
Die didaktische Analyse richtet sich darauf, das Potenzial der Materialien zu erkunden und anhand der fachspezifischen Verfahren, die besonders geeignet sind, fachwissenschaftliche und fachdidaktische Ansätze zu verbinden (z.B. Fallbeispiel, Längsschnitt, Historischer Vergleich, Ideologiekritisches Verfahren, Forschendes Lernen), Konzepte des historischen Lernens zu entwickeln. Interessante Bereicherungen ergeben sich durch die Einordnung in die Gesellschaft des Kaiserreichs um 1900 oder auch durch den Zusammenhang mit der Sozialen Frage. Anknüpfend daran können gegenwartsbezogene Diskussionen initiiert werden.
Birger Hass (Tübingen)
Bergarbeiterunruhen in der Weimarer Republik und in der BRD im Vergleich – Konzeptionelle geschichtsdidaktische Überlegungen
Das Konzept betont die internationale Verflechtung, in der die beiden Krisen standen. Als fachspezifische Ansätze kommen dabei besonders der historische Vergleich und die Multiperspektivität zum Tragen.